Rezension zu Wo denken wir hin?
Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 16
Rezension von Heinrich Reiß
Wo denken wir hin?
In dem Sammelband »Verhängnisvolle Spaltungen« aus dem Jahre 2009
hatte Prof. Hans-Peter Waldhoff (Universitäten u.a. Hannover und
Zürich) zahlreiche seiner Aufsätze aus den Jahren ab 1983
überarbeitet vorgelegt. In ihrer Rezension des Buches schrieb
Angela More im »Jahrbuch für psychohistorische Forschung« (Band 13)
die folgenden bemerkenswerten Sätze, die auch für die hier
vorliegende Sammlung von Vorträgen WO DENKEN WIR HIN? (basierend
auf einer Tagung gleichen Titels in Hannover, zu Ehren seines 60.
Geburtstages und geliefert aus der Kollegen- und
Schüler/innen/schaft Ende des Jahres 2013) für seine dortigen
aktuellen Beiträge noch gültig sind:
»In seinem zugleich wissenssoziologisch, kulturgeschichtlich und
psychoanalytisch orientierten Ansatz bezieht sich Waldhoff unter
anderem auf die Erkenntnisse des Ethnopsychoanalytikers Georg
Devereux, der eindrücklich beschreibt, wie Forscher ihre Angst vor
dem zu Beforschenden abwehren und unbewusst machen, indem sie ein
methodisches und technisches Instrumentarium entwickeln, das sie
als Mittel der Distanzierung zwischen sich und den
Forschungsgegenstand bringen. Waldhoffs Interpretation der
Geschichte und der Folgen des westlichen Denkens und der
Wissens-erschließung orientiert sich im Wesentlichen an der Theorie
der Zivilisierung von Norbert Elias, dessen Werk er nicht nur
gründlich kennt, sondern von dem er selbst einige späte Texte
publiziert und dessen Theorie er über den deutschen Sprachraum
hinaus bekannt gemacht und weiterentwickelt hat. (...) Zu den
Hauptanliegen Waldhoffs gehört jedoch die Frage nach den
Möglichkeiten der ›Zivilisierung von Konflikten‹«(12)
Lassen Sie mich aus den zahlreichen bereichernden Anregungen dieses
Sammelbandes vorrangig diejenigen Zeilen herausgreifen, die
Waldhoff in zwei Beiträgen selbst verfasst hat – weil er, statt
viel vorhandenes Wissen und Wissenschaft abzuliefern oder zu
rekapitulieren, die drei Leitbegriffe »Lebensthemen,
Zivilisationsprozesse, demokratische Verantwortung« auch sehr
persönlich gefüllt und verknüpft hat – also seinen »überordnenden
Rahmen für die menschenwissenschaftliche Arbeit mit Lebensthemen«
beispielhaft setzt.(13)
Gefühlston des Denkens (14)
Wohl nicht von ungefähr bezieht sich Waldhoff mit diesem Begriff
auf Freuds Werk zu Träumen und zur Traumdeutung aus dem Jahr
190O.(15) Er bringt auch gleich ein persönliches Erlebnis: So habe
er – auf der Fahrt zu seinem Psychoanalytiker und in Eile – auf
einem LKW die Aufschrift KINDER-SPEDITION zu lesen vermeint, auf
dem zweiten Blick aber gelesen KLEIDER-SPEDITION (105). Beim
Nachdenken über die Gründe für dieses Verlesen stößt er bis zu der
»Außenalster-Szene« vor (als seine Mutter, hochschwanger im 9.
Monat, einen geplanten Suizid doch nicht verwirklichte), und zu der
Frage: »Was habe ich pränatal in meiner embryonalen Kammer erlebt?
Was beim ersten Anhören des Berichtes darüber? Warum beschäftigt
mich das Thema der geschützten Räume, vor allem der Denkräume und
des CONTAINING (Bion) so sehr? Auch das Thema des abtötenden
Denkens (Devereux) und der alternativen, lebensförderlichen Wege?
... Die Erfahrung der Bücherwelt als eines rettenden Raumes.«
(109)
In dieser Erfahrung der Bücherwelt zeigt sich auch das, was
Waldhoff die »salutogenetische Perspektive« (126) nennt (16) – mit
Blick auf das »komplexe Unterholz vorsprachlicher Triebe und
Fantasien« (Elias) (102), aber eben auch auf »das Unterholz meines
latenten Wissens«, das zur Folge haben kann, »Handlungsoptionen zu
ermöglichen« (126). Es gelte ja, den »Alp ganzer
Wissenschaftlergenerationen, der auf die eigene Brust drückt,
abzuschütteln« (33) und »die Freude am Denken eigener, sozial
verantwortlicher und gegenüber ihren Forschungs-objekten
beziehungsfähiger Gedanken wiederzuentdecken.« (33) Und weil er
viele Ähnlichgesinnte gefunden habe, konnte es auch das vorliegende
Buch geben, könne hoffentlich »in einer Art wissenschaftlichem
Großgruppenexperiment ein gemeinsamer Denk- und Erfahrungsraum
geschaffen werden. ... Ein solcher reflexiver Raum stellt zugleich
emotionale Verbindungen her.« (33) Introspektion in Verbindung mit
einem Denkkollektiv? »Weil wir im tiefsten Inneren der Individuen
weite Menschenlandschaften finden und in den weiten
Menschenlandschaften miteinander verbundene Individuen, ist,
tiefen- und sozialpsychologisch betrachtet, jede Psychoanalyse
zugleich eine Gruppenanalyse und jede Gruppenanalyse eine
Psychoanalyse« (121).
Informalisation and Evolution
Vier Phasen der Regulierung von Emotionen und Verhalten beschreibt
Cas Wouters in seinem Beitrag mit Bezug auf eigene Amsterdamer
Erfahrungen während der 1960er Jahre, als ihm wie Kollegen die
Frage auftauchte, »Has the civilisizing process changed
direction?«, auf die Norbert Elias »somewhat un-clear« geantwortet
habe. (266) Wouters identifiziert unter der Überschrift
»Informalisation and Evolution. From innate to collectively leamed
steering codes« mit den Stichworten »inherited steering codes
–formalisation – Variation and learning – infonnalisation/learned
social codes« innerhalb eines längeren Prozesses drei kurzzeitige
Phasen, »waves of informalisation« (267), die jeweils breitere
Schichten der Bevölkerung umgriffen hätten: Fin de siecle, roaring
twenties und die expressive Revolution der 1960er und 1970er Jahre:
»They also seemed to go hand in hand with rising levels of
knowledge and consciousness.« (267) Love and Leam processes (292f.)
und »widening circles of identification« sowie »a rise of the level
of equality and intimaey« hätten die Eltern-Kind-Beziehungen ebenso
verändert wie die Emanzipation der Frauen, die Haltung zu »Negern«
und eingeborenen Völkern, aber auch gegenüber Tieren.
Althergebrachte Werke (der Psychoanalyse): schon Freud schreibt
...
Michael Kopel bringt es in seinem Beitrag über die
»Beziehungsanbahnung zwischen Psychoanalyse und Soziologie in
Vergangenheit und Gegenwart« auf den Punkt, wenn er über »die
verquere Lage der heutigen psychoanalytisch orientierten
Sozialpsychologie« (154) schreibt, die sich an althergebrachten
Werken orientiere und mit einer »weitgehend
psychoanalysebereinigte(n) Universitätenlandschaft« (157)
zurechtkommen müsse. Aber auch er hat unter etwas blumigen
Begriffen Beispiele gefunden, »Lichtstrahlen am interdisziplinären
Horizont« (159), dass sich »ein ›totgesagter‹ Diskurs mit neu
ertönenden Herzschlägen« (142) rege, für den aber wieder eine
»ansatzweise gesellschaftszugewandte Psychoanalyse« (144) zu
wünschen sei. Damit sind die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts
gemeint, die kenntnisreich bis nach dem Zweiten Weltkrieg
zusammengefasst werden. Aber er wird auch konkreter mit der
Thematisierung von Bindungsproblemen, Scheidungsfamilien, oder mit
Lebenskonzepten in der aktuellen »flüchtigen Moderne« (161).
Controlled decontrolling of emotional control (118, 121 f.)
Mögliche Gegenübertragungsreaktionen als Forschungsinstrument
einzusetzen (121f.), eröffne, so Waldhoff, »die Chance einer
reflexiven Zivilisierung des jeweiligen Wissensstromes« durch eine
»kontrollierte Lockerung der Affektkontrollen im Forschungs- und
Erkenntnisprozess«. Das könne dadurch bewirkt werden, dass »die das
Forschen und Denken begleitenden Gefühle und Fantasien besser
wahrgenommen werden« und »möglicherweise aus dem Vor- und
Unbewussten auftauchende Bilder und Gedanken zur Kenntnis genommen
und auf eventuelle Zusammenhänge mit dem Forschungsthema«
analysiert würden.
Gruppenerfahrungen und gruppendynamische Entwicklungen sind auch in
der Psychohistorie und darüber hinaus oft thematisiert worden,
allerdings unter anderer Begrifflichkeit und mit anderen
Analysekriterien. In zwei Beiträgen wird einer der Gründungsväter
der Gruppenanalyse (133ff.) dargestellt und dabei von Angela More
genauer beschrieben (173ff.): Siegmund Heinrich Fuchs, geboren
1898, Mediziner und Psychoanalytiker, gestaltpsychologisch
beeinflusst, nach der Emigration nach England anglisiert in
Foulkes. Er »ging davon aus, dass Menschen sehr wesentlich von den
Beziehungserfahrungen in ihren Herkunftsgruppen geprägt sind.
Besonderheiten des Milieus, der Kultur oder Religion sowie durch
die Herkunftsfamilie vermittelte Formen des Umgangs miteinander
führen zu bewussten, aber vor allem auch unbewussten Vorstellungen
über das Selbst, über die anderen und über die Beziehungen zwischen
Menschen und deren Bedeutung für das Selbst.« (175f.)
Oskar Negt machte aus seinem prägnanten Vortrag »Europa als
Lernprojekt« in Hannover mit den beiden Lernprozessen nach dem
30-jährigen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg in der Fassung des
Buches einen »Gesellschaftsentwurf Europa – Plädoyer für ein
gerechtes Gemeinwesen« mit der Feststellung: »Die vorherrschenden
Europadiskurse unterschlagen ganze Wirklichkeiten. Mit Verblüffung
muss man heute feststellen, wie viel intellektuelle Energie auf
Europadiskurse gelenkt ist, die selbst in ihrer radikalsten
kritischen Position dem Bannkreis des Geldes und der politischen
Institutionen verhaftet bleiben.« (39)
Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg
Am Beispiel eines habsburgischen Militärhabitus im Ersten Weltkrieg
stellt Helmut Kuzmics (215ff.) Elias/' und Collins/' Erklärungen
von Gewalt und Gewaltbereitschaft im Krieg vor. Der von Karl Kraus
in seinem Werk »Die letzten Tage der Menschheit« so gegeißelte
österreichische Schmäh wurde bei Kuzmics als typischer
österreichischer Militärhabitus (232) historisch entwickelt und
benannt und in seinem Werk von 2013(17) ausführlich beschrieben.
»Man kann den Begriff des nationalen Habitus nach Elias so
verstehen, dass er Erleben, Empfinden und Körperausdruck als
Ergebnis spezifischer Prägeapparaturen der Affektmodellierung
betrachtet, insofern als er in zentralen Bestandteilen an die
›Überlebenseinheit‹ des (National-)Staates gebunden ist.«
(227f.)
Der Offiziershabitus mit seinem Krieger-Kodex habe zu einem
geradezu selbstmörderischen Elan der feudalen militärischen Eliten
geführt, zu einer »todesverliebten Haltung« (234); schon vier
Monate nach Kriegsanfang seien fast die Hälfte aller Soldaten und
Offiziere außer Gefecht gewesen. (235). »Die in einem tradierten
Habitus gefangenen Offiziere (...und die) anfänglich durchaus
motivierten Mannschaften« seien trotz großer Tapferkeit »an
Knappheit, schlechter Logistik und anderen situativen Faktoren ....
die sich zum Habitus gegensinnig verhielten« gescheitert. (235)
Und auf der Ebene der einfachen Soldaten »in einer auf Kaiser und
König, nicht die Nation, eingeschworenen Volksarmee« führte deren
Drill und mangelhafte Unterbringung »zu einer im europäischen
Vergleich enorm hohen Selbstmordrate und, als ultrastabiler Zug, zu
einer gewissen Unselbstständigkeit.« (233f.)
Der Ort des Nationalsozialismus in der Soziologie
Elke Endert stellt in ihrem Beitrag »Norbert Elias neu lesen:
Nationalsozialismus, Gewalt und Macht« (247ff.) sehr
aufschlussreich dar, warum der NS und der Holocaust lediglich ein
»Schattendasein« (Manuela Christ) in der Soziologie geführt hätten
– unter anderem deswegen, weil nach Meinung zahlreicher Soziologen
diese eine »vorwiegend gegenwartsorientierte Wissenschaft« (247)
sei. Erstaunt lese ich, dass Norbert Elias »als Beleg für das
Schweigen der Soziologie« angeführt wurde. Ihm werde hierbei
vorgeworfen, er habe »in Zeiten der größten Barbarei über
Zivilisationsprozesse und verfeinerte Sitten geschrieben ... und
dabei die Gewalttaten des NS-Regimes völlig ausgeblendet«, also
Gegenwartsverklärungen Vorschub geleistet (Reemtsma) (249).
Für Endert ging aber Norbert Elias mit seinem »polymorphen
Machtbegriff«, der »an Beziehungen orientiert« sei, (255) »entgegen
der heute dominierenden Täterforschung« von einer »ideologischen
Motivierung der Täter und Befehlshaber« aus. (251) Sie bezieht als
wesentliche Motive einen »Erlösungsantisemitismus«, wie ihn
Friedländer darstellte, ein, oder einen »eliminatorischen
Antisemitismus« Goldhagens. Die Täter waren damit »Teil einer
machtüberlegenen Gruppe, an deren Macht sie mit Stolz teilhatten.«
(255) Endert hofft resümierend: »Über die soziologische Zunft
hinaus besteht mit dieser Debatte die Chance, das Werk Norbert
Elias’ in seinem Gesamtzusammenhang neu zu bewerten.« (257)
Heinrich Reiß, Schwabach, im Oktober 2015
(12) Mord (2012). S. 331 und 334. Devereux ist im vorliegenden Band
ein viel zitierter Autor, z.B. S. 28,31, 101, 109.
(13) Vorwort der Herausgeber/innen, S. 10.
(14) S. 33f, 118. Seitenangaben ohne Autorennennung beziehen sich
immer auf den Sammelband.
(15) Freud. Studienausgabe. Band 2 (Fischer. Frankfurt am Main
1982), S. 447ff. und 522 berichtet von einem im Traum erscheinenden
»Frühstücks-Schiff« und dem Umschlag von Fröhlichkeit in Schrecken.
Affektanlass war eine schwarze Tasse auf dem Frühstücks-Tisch, die
auf einen Todesfall anspielte. – Ich erlaube mir zu sagen: In
solchem Umschlag von Fröhlichkeit in Schrecken finde ich eigene
Vergangenheit wieder. – Allerdings lese ich bei Freud an den
angegebenen Stellen die Formulierung »Gefühlston meines
Denkens«.
(16) vgl. a. Schüffel. W.: Gefühle in der Medizin verantworten. In:
Janus, L., et al. (Hg.): Verantwortung für unsere Gefühle. Die
emotionale Dimension der Aufklärung. Jahrbuch für psychohistorische
Forschung 16 (2015) (Mattes, Heidelberg 2015), S. 193-213 (in
diesem Band).
(17) Kuzmics, H. / Haring, S. (2013): Emotion. Habitus und Erster
Weltkrieg. Soziologische Studien zum militärischen Untergang der
Habsburger Monarchie (V & R, Göttingen).