Rezension zu Werke
www.socialnet.de
Rezension von Sebastian Engelmann
Siegfried Bernfeld: Sozialistische Pädagogik und Schulkritik
Thema
Im Rahmen der »Bibliothek der Psychoanalyse«, welche im
Psychosozial-Verlag erscheint, werden schon lange vergriffene
»Klassiker« ebendieser Denkrichtung verlegt. So erscheint es nicht
verwunderlich, dass auch der bekannte Psychoanalytiker; Soziologe
und nicht zuletzt Pädagoge Siegfried Bernfeld in diese Reihe
aufgenommen wurde. Seit dem Jahr 2010 wird die auf zwölf Bände
ausgelegte Werkausgabe von Bernfelds Schriften angestrebt und vom
Pädagogen und mittlerweile emeritierten Professor Ulrich Herrmann
herausgegeben. Hermann steuert zudem umfangreiche und der eigenen
Interpretation dienliche Erläuterungen im Nachwort bei.
Siegfried Bernfeld zählt zu den bedeutendsten und trotzdem nicht
extrem breit rezipierten psychoanalytisch inspirierten
Reformpädagogen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aktiv waren.
Zwar wird Bernfeld häufig als relevanter Referenzpunkt zum
Verhältnis von Gesellschaft und Erziehung angeführt: Seine Werke
sind trotzdem nicht unbedingt gut verfügbar. Natürlich,
Bibliotheken führen sowohl die Originale als auch Quellensammlungen
Eine handliche und zeitgemäß aufgearbeitete Version existierte aber
nach Meinung des Rezensenten bis heute noch nicht – dies ist, wie
auch der Pädagoge Michael Winkler immer wieder betont, eines der
großen Probleme pädagogischer »Klassiker«: Sie sind nicht
verfügbar.
Autor und Herausgeber
Der Autor der Schriften, die in diesem Band versammelt sind –
Siegfried Bernfeld – ist sicherlich vom Namen her bekannt. Geboren
in einem Ort Galizien und gestorben in San Francisco beeinflusste
Bernfeld in vielerlei Hinsicht den pädagogischen Diskurs des 20.
und auch des 21. Jahrhunderts. Sein Wirken auf die Pädagogik als
Disziplin ist nachhaltig – auch in aktuellen Textsammlungen wird er
immer wieder als relevanter Bezugspunkt aufgeführt (vgl. Winkler
2016). Besonders hervorzuheben ist hierbei sein wohl bekanntestes
Werk, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, welches einen
anspruchsvollen, aber auch ertragreichen Zugang zu Bernfelds Werk
darstellt.
Ebenfalls zu erwähnen ist der oben bereits genannte Herausgeber der
Werkausgabe, Ulrich Herrmann. Dieser ist nicht nur ausgewiesener
Kenner des Werks von Bernfeld, sondern auch der Herausgeber der
Schriften Diltheys und Flitners. Was deutlich wird: Hier war ein
Experte am Werk. Hierauf wird noch einzugehen sein.
Aufbau
Der Band ist in drei größere Abschnitte aufgeteilt. Ergänzt werden
die Texte Bernfelds, die in chronologischer Reihenfolge präsentiert
werden, um einen Anhang, auf den später gesondert eingegangen
werden wird. Gegliedert ist der Band über die thematischen
Überschriften
- Sozialistische Pädagogik,
- Sozialistische Schulkritik und
- Besprechungen.
Inklusive der Besprechung enthalten die mit thematischen
Überschriften versehenen Abschnitte 16 eigenständige Texte von
Bernfeld. Besonders hervorzuheben ist der Anhang. Dieser stellt auf
über 200 Seiten Material zur Verfügung, um die Texte Bernfelds
besser einordnen zu können. Der Band vereint
- unveröffentlichte Materialen zur
Wiener-Mittelschüler-Bewegung,
- Texte aus dieser Bewegung,
- Texte zum Schulkampf als Klassenkampf in Österreich,
- Texte zum Schulkampf in Deutschland und
- relevante Besprechungen zu Bernfelds Text »Die Schulgemeinde und
ihre Funktion im Klassenkampf«.
Auf diesen Teil des Anhangs folgen noch relevante Daten, viele
ergänzende Dokumente, der obligatorische Editionsbericht und ein
Nachwort vom Herausgeber.
Insgesamt beläuft sich der Umfang des Bandes auf 566 Seiten – alle
gefüllt mit relevanten und interessanten Beiträgen von und zu
Bernfeld und seinen Themen.
Inhalt
Eine Möglichkeit der Vorstellung des Inhalts für diese Rezension
wäre eine genaue Darstellung der einzelnen Texte. Hiervon wird
abgesehen. Für die thematischen Blöcke und den Anhang soll
stattdessen lediglich ein einführender Überblick gegeben werde. Der
Block mit Bernfelds Texten zu Sozialistischer Pädagogik leistet auf
unterschiedliche Arten zweifaches: Zum einen von Bernfeld wird ein
sich selbst als sozialistisch verstehender Zugriff auf Pädagogik
elaboriert, der sich zumeist über die Kritik an der bürgerlichen
Pädagogik konstituiert. Zum anderen wird in den Texten Bernfelds
ein systematisches Verständnis von Pädagogik an sich deutlich. Die
Texte enthalten also nicht nur deklaratives Wissen über den (noch
immer unbestimmten) Gegenstand der sozialistischen Pädagogik
sondern sind selbst Denkversuche diesen Containerbegriff mit Inhalt
zu füllen. Gerahmt durch die Überschrift der Abteilung könnte der
Versuch unternommen werden eine Form der sozialistischen Pädagogik
mit Bernfeld nachzuvollziehen.
Über die Texte zu Sozialistischer Erziehungskritik (1926), zur
Religiösen Erziehung (1927), Pädagogik und Psychologie in der
Fürsorge-Erziehung (1927), das Massenproblem in der sozialistischen
Pädagogik (1927) und den Text Psychische Fehlentwicklungen durch
Einflüsse des Milieus (1930) wird das umrissen, was bei Bernfeld
als genuin sozialistische Pädagogik gefasst werden kann. Alle diese
Texte von Bernfeld teilen einen systematischen Anspruch. Die
Gedankenführung ist – dem Status des Klassikers entsprechend –
logisch, konzise und trotzdem mit einiger Polemik versehen. Allein
schon die begriffliche Unterscheidung von Erziehung und Pädagogik
ist mehr als nützlich – und notwendig. Sätze wie die zur
»natürlichen Erziehung« der »Neger« verstören heutzutage (S. 11),
können aber in der Auseinandersetzung mit Bernfeld eingeholt
werden.
Bernfelds Texte zu Sozialistischer Schulkritik fokussieren
durchgehend das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum.
- Hat auch das arme Schulkind ein Recht auf schlechte Noten? (1926)
fokussiert die Ungerechtigkeit in der Schule – auf zwei Seiten
differenzierter als Teile der aktuellen Diskussion.
- Der Brief an einen Quartaner (1927) weist auf Probleme im
Verhältnis von SchülerInnen und LehrerInnen und Schule im
Allgemeinen hin. Der Brief ist sicherlich für viele eine vollkommen
andere Form, in der das pädagogische Denken zunächst gesucht werden
muss, um die kritischen Implikationen dann explizieren zu
können.
- Nur die Schüler können die Schule retten! (1927) appelliert an
die SchülerInnen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen: »Die
Schülerschaft muß lernen, sich der ihr zugedachten Erziehung zu
widersetzen.« (S. 61) Widerstand wird hier zur Praxis der
Selbstbildung. Es geht aber nicht um den Widerstand an sich,
sondern um die aktive Partizipation und die Konstruktion einer
anderen Schule.
- Schulkampf in Wien (1927) knüpft an die bereits vorher geäußerte
Schulkritik an und verweist pointiert auf die politischen
Funktionen von Schulen.
- Selbiges gilt für die Texte Überschätzung von Schule (1927) und
Proletariat und Schule (1928), der zweitgenannte Text verweist
dabei auch auf einen wichtigen Aspekt der Bildungskonzeption der
Arbeiterbewegung: Selbstbildungszirkel.
- Neben diesen durchweg kürzeren Texten ist auch der lange
vergriffene Text Die Schulgemeinde und ihre Funktion im
Klassenkampf (1928) wieder abgedruckt. In Auseinandersetzung mit
der »bürgerlichen Pädagogik« – einem bedeutungsgeladenen
Differenzbegriff – kommt Bernfeld nach ausführlicher
Auseinandersetzung mit den Inhalten, der Funktion und der
Umsetzbarkeit der Schulgemeinde zum Schluss, dass eben die
Schulgemeinde und die Mobilisierung der SchülerInnen eine
Möglichkeit sei, das Problem der Bildungsungleichheit zu
bearbeiten.
- Ergänzt wird dieser Text durch ein Resümee und Thesen (1928). In
diesem Resümee wird der Text zur Schulgemeinde in die Gesamtheit
der pädagogischen Diskussion um 1930 eingeordnet. Zahlreiche Bezüge
zu beispielsweise reformpädagogischen Ideen werden von Bernfeld
verdeutlicht. Aber auch die schon in früheren Texten erläuterte
Relevanz des Schulkampfes taucht wieder auf. Die abschließenden
Thesen – die auf die Schaffung einer Massenorganisation von
SchülerInnen hinauslaufen – runden die Diskussion von Die
Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf ab.
- Der Abschnitt zur Schulkritik wird ergänzt und abgeschlossen
durch einen Tagungsbericht des Pädagogischen Kongress der
Bildungsarbeiter Internationale (1928) und eine
Aufgabenformulierung für die Sozialistische Schülerschaft
(1929).
- Der Abschnitt Besprechungen beschränkt sich dann auf einen kurzen
Text zu Kautz´ Im Schatten der Schlote von 1927.
Und nun könnte der Band schließen und wäre bereits eine
Bereicherung für die historische Pädagogik und jegliche
disziplinäre Richtung, die einen Blick in maßgebliche Texte der
Vergangenheit werfen möchte – sei es nun um Theoriebildung zu
betreiben oder ideengeschichtliche Traditionslinien nachzuzeichnen.
Aber auf die Texte Bernfelds folgt ein umfangreicher Anhang.
Die Materialien zur Wiener Mittelschüler-Bewegung werden – wie auch
alle anderen Abteilungen des Anhangs – durch einen Text von Ulrich
Herrmann eingeleitet. Bei den Materialien handelt es hauptsächlich
um sehr unbekannte oder auch gar nicht veröffentlichte Materialien.
Die historisch interessierte Pädagogin horcht auf. Bernfeld taucht
in diesen Materialien selbst als Akteur auf; insgesamt bedarf die
Gesamtheit der Dokumente eine genauere Betrachtung die hier nicht
geleistet werden soll – auf den Inhalt sei überblicksartig
verwiesen. Quellen der Polizeidirektion, der Mittelschüler selbst,
zahlreiche Dokumente von Komitees der Phase, Erlasse und auch
Selbstzeugnisse werden in diesem Anhang aufgeführt und vorgestellt.
Hierbei werden sowohl amtliche Stellen als auch die jugendlichen
AkteurInnen per Dokument greifbar gemacht. Es entsteht so ein
facettenreicher Einblick in die Wiener Mittelschüler-Bewegung und
ihr Umfeld. Dieser Einblick macht deutlich, dass die Mobilisierung
wirksam geworden ist. Emanzipatorische Bemühungen können in den
Materialien ausgewiesen werden und bieten – wie auch die Texte
Bernfelds selbst – Anlass zur weiteren Auseinandersetzung.
Die Materialien werden dann wiederum ergänzt durch Texte aus der
Wiener Mittelschüler-Bewegung. Von der Zeitschriftengründung Der
Schulkampf wird ebenso berichtet wie von den Reaktionen auf das
Linzer Programm. Texte von Peter Munk, Marie Jahoda, Walter
Hitzinger und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Deutschösterreichs und zwei weitere Texte helfen, das Bild von der
Wiener Mittelschüler-Bewegung weiter zu schärfen und die
Verknüpfung von Pädagogik und Gesellschaft – sicherlich ganz im
Sinne Bernfelds – deutlich zu machen.
Die Texte zum Schulkampf in Deutschland stellen dann eine
konsequente Fortführung des Anhangs dar. Neben der in diesem Fall
besonders instruktiven Einführung von Hermann werden Texte aus den
Zeitschriften Der Neue Anfang, der Klassenkampf und Der Schulkampf
neben das bekannte Programm weltlicher Schulen und Berichte zu und
von sozialistischen Schülern gestellt. Diese Einblicke in die
Diskussion zu dieser Zeit sind extrem hilfreich das bis zu diesem
Punkt durch umfangreiche Quellenlektüre bereits angereicherte
Verständnis erneut verstehend zu bearbeiten, und die Schriften
Bernfelds noch besser in ihren Kontext einordnen zu können.
Deutlich wird so, dass der Schulkampf nicht nur ein lokales
Ereignis war, sondern auch breit rezipiert wurde. Pädagogisches
Handeln wird so als überlokal begriffen. Zugleich weisen die
miteinander verwobenen Quellen auf den intensiven Austausch
unterschiedlicher AkteurInnen hin, der zu dieser Zeit bestand. Die
abschließenden Besprechungen unterstützen diese Einordnung.
Das Nachwort von Ulrich Herrmann mit dem Titel »Siegfried Bernfeld
und der Kampf um die Schule in Österreich und Deutschland in der
Ersten Republik« schließt den Band – vor Sach- und Personenregister
platziert – inhaltlich ab. Es ist aber um einiges mehr als ein
Nachwort. Viel eher kann es als eigenständige wissenschaftliche
Auseinandersetzung und vielleicht sogar als Zusammenfassung dessen,
was im Band an Materialen bereitgestellt wird, verstanden werden.
Wie auch Bernfeld weist Herrmann auf die Kopplung von Politik und
Schule hin. Die Forderungen der ArbeiterInnenbewegung und der
Sozialdemokratie – Arbeitsschule, Trennung von Schule und Kirche,
etc. – werden erneut genau herausgearbeitet. Neben dieser Metaebene
setzt Herrmann sich aber auch genau mit dem historischen Kontext in
Österreich und in Deutschland auseinander um nachzuzeichnen, auf
welche Voraussetzungen die Forderungen nach einer anderen Art der
Schule trafen. Ausgangslage und Gang der Entwicklung werden
aufgezeigt – die Leserin kann so die Dokumente in ein logisches
Verhältnis setzten und erhält hier die nötigen
Kontextinformationen. Aber auch Bernfelds eigenes kulturelles und
intellektuelles Umfeld wird genauer analysiert. Herrmann macht
klar: Bernfeld ist genauso Geschöpf seiner Umwelt wie er es in
seiner eigenen Erziehungstheorie ebenfalls postuliert. Ob nun
Austromarxismus, Wiener Moderne oder Bernfelds GenossInnen im
Geiste: All diese Einflüsse werden von Herrmann erwähnt, vermittelt
und übersichtlich wiedergegeben. So werden auch die Texte Bernfelds
wieder ein wenig zugänglicher. Der abschließende Satz des Nachworts
hat dann auch Programm: »Bernfelds Texte in diesem Band sollen dazu
beitragen, dass der Schulkampf weiterlebt.« (S. 554)
Diskussion und Fazit
Die von Ulrich Herrmann zusammengestellten und bearbeiteten Texte
von Siegfried Bernfeld und die Materialien zum Wiener Schulkampf
und der diesen thematisierenden Diskussionen ist meiner Meinung
nach mehr als gelungen. Der illustrative Text von Herrmann selbst
rundet den achten Band der Werkausgabe der Schriften Siegfried
Bernfelds perfekt ab. Insgesamt ist es mehr als begrüßenswert, dass
die Texte Bernfelds nun endlich wieder einem breiteren Publikum zur
Verfügung stehen.
Die Ergänzung der klassischen Texte um Materialien zur vertieften
Auseinandersetzung ist ein großer Pluspunkt dieser Ausgabe. So
werden die Texte kontinuierlich kontextualisierbar und es ergibt
sich automatisch auch eine historisch interessierte Perspektive auf
das Gesamtwerk von Siegfried Bernfeld. Die Materialien sind sehr
gut angeordnet und optimal ausgewählt Nicht nur werden lange
vergriffene, kaum verfügbare oder unbekannte Texte verfügbar
gemacht, sondern auch noch funktional aufbereitet und präsentiert –
sie ermöglichen es hoffentlich, auch mit Studierenden dieses
spannende Thema anzugehen. Einzig und allein der hohe Preis und die
Verarbeitung stören mich. Leider ist nach eingehender Lektüre der
Buchrücken gebrochen, einige Seiten sind schon gerissen. Für eine
Ausgabe mit der wirklich gearbeitet werden soll, ist das gewählte
Format nur bedingt zu empfehlen.
Trotzdem: Der Band Sozialistische Pädagogik und Schulkritik ist
meiner Meinung nach aber trotzdem für jede Pädagogin die sich mit
dem bekannten Denker Siegfried Bernfeld auseinandersetzen möchte
ein Must-Have!
Rezensent
Sebastian Engelmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische
Pädagogik und Erziehungsforschung an der Universität Jena
Zitiervorschlag
Sebastian Engelmann. Rezension vom 14.02.2017 zu: Siegfried
Bernfeld: Sozialistische Pädagogik und Schulkritik.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2473-2. Werke,
Band 8. Ulrich Herrmann, Daniel Barth (Herausgeber). In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/20939.php, Datum des Zugriffs
16.02.2017.
www.socialnet.de