Rezension zu Klinisches Notizbuch (PDF-E-Book)

Gestalttherapie. Forum für Gestaltperspektiven, 30. Jg., Heft 2, 2016

Rezension von Frank-M. Staemmler

Tilmann Moser
Klinisches Notizbuch

Tilmann Mosers »Klinisches Notizbuch« – vom Autor in Anspielung auf und in Würdigung von Ferenczis (1988) »Klinischem Tagebuch« so betitelt – bietet eine Fülle von Anregungen für alle, die heute den »unmöglichen Beruf« (Freud 537/1975, 388) des Psychotherapeuten ausüben. In ca. 50 Kapiteln, von denen viele in den letzten Jahren schon als Artikel in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind und die z.T. nur wenige Seiten umfassen, setzt sich er Autor mit zahlreichen Fragen auseinander, vor die sich Psychotherapeutinnen heute gestellt sehen.

Dabei geht es nicht nur, wie der Untertitel(etwas einseitig) suggeriert, um »psychotherapeutische Fallgeschichten«, sondern auch um berufspolitische, praktisch-therapeutische und therapietheoretische Themen und um Vieles mehr. Die Vielseitigkeit der behandelten Themen, die Kürze der einzelnen Texte und – last but not least – Mosers ansprechender Schreibstil machen das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre, der es jedoch keineswegs an Tiefgang mangelt.

Für Gestalttherapeutinnen dürfte es besonders anregend sein zu sehen, wie ein Psychoanalytiker Aspekte der Beziehungsgestaltung sowie am Körper der Klienten orientierte Vorgehensweisen darstellt, die Kollegen der eigenen Schulen häufig in ihre Arbeit einbeziehen, allerdings auf teilweise sehr andere Weise als Moser. Die Reflexionen seiner Arbeit, die der Autor immer wieder in seine Fallgeschichten einbaut, lassen den konzeptionellen Hintergrund seiner Arbeitsweise und dessen psychoanalytische Prägung klar erkennbar werden.

So wird nachvollziehbar, warum selbst da, wo der Therapeut Moser Methoden aus anderen Schulen, z. B. der Gestalttherapie oder körperbezogenen Therapieformen aufgreift, sein Therapieverständnis psychoanalytisch bleibt. Formulierungen von der Art der folgenden finden sich an mehreren Stellen des Buches:

»Als klassisch ausgebildeter freudianischer Analytiker quälte ich mich und einige traumatisierte Patienten verwirrt und oft orientierungslos mit dem Versuch, die divergierenden, weit auseinander liegenden Konflikt- wie Defektebenen mit den rasch wechselnden Übertragungen und Gegenübertragungen zu ordnen und durchzuarbeiten. Es wurde viel verstanden, viel ausgehalten, aber vieles blieb im Dunklen, weil ständig (auch als Widerstand benutzt) unklar blieb, auf welcher Altersebene und in welchem jeweils wechselnden Elternfeld wir uns befanden. Außerdem wurde deutlich, dass einige negative Affekte gar nicht in ihrem archaischen Zustand übertragen werden durften aus Angst vor Objektverlust und zur eigenen Schonung und des Therapeuten.« (118f.)

Gestalttherapeutische Leserinnen, die das manchmal analytisch geprägte Vokabular nicht schreckt, können sich stimulieren lassen, ihnen bekannt erscheinende Vorgehensweisen aus Perspektiven, z. B. denen von Regression, Übertragung und Gegenübertragung, zu betrachten und zu bedenken, die in ihrem eigenen Denken nicht immer im Vordergrund stehen. Das ist nicht nur im Hinblick auf viele Einzelheiten des therapeutischen Alltags nützlich, weil es den Horizont erweitert, sondern ist sich auch als anschauliche Illustration dafür lesen, dass psychoanalytische Körperarbeit, wie sie Moser praktiziert, selbst bei Anwendung sehr ähnlich erscheinender Techniken etwas sehr Anderes ist als gestalttherapeutische Arbeit mit dem Körper: Der Kontext bestimmt die Bedeutung der Details. Dass Moser in einem anderen Diskurs steht als die Gestalttherapie, ist auch daran zu erkennen, dass in seinen Überlegungen bestimmte Bezüge zu Quellen völlig fehlen, die für Gestalttherapeuten selbstverständlich und wesentlich sind. So offen sich der Autor für praktische Interventionsmöglichkeiten aus anderen Therapieformen zeigt, so wenig nimmt er auf den für uns maßgebenden philosophischen Hintergrund, die klassische und die neue Phänomenologie oder den dialogischen Existenzialismus, Bezug. Wie auch bei seinen psychoanalytischen Mitstreitern, z. B. Heisterkamp (1993) oder Geißler (1998; 2009 – vgl. dazu auch Staemmler 2010), findet man keinerlei Hinweise auf Buber (1984), Marcel (1992), Merleau-Ponty (1966), Schmitz (1965; 2011) oder auch Petzold (1985) und Fuchs (2000). Das finde ich auch und gerade für Mosers eigenes, unterstützenswertes Anliegen bedauerlich, weil mit der vorhandene Reichtum eines an der Zwischenleiblichkeit des Menschen ausgerichteten Therapieverständnisses nur in Teilen zur Geltung kommt. In den Kaüiteln, die sich weniger mit konkreten therapeutischen Erfahrungen beschäftigen, sondern mit allgemeineren Themen, vertritt Moser auf sehr eloquente Weise Positionen, die vielen Gestalttherapeuten vermutlich einige Überlegung wert sind oder mit denen sie sich sogar identifizieren können. Ich möchte im Folgenden einige dafür beispielhafte Kapitel des Buchs herausgreifen.

Der Text mit dem Titel »Schreiben über Patienten – Romane als Krankengeschichten, Krankengeschichten als Romane« erinnert nicht nur wegen seines Untertitels an Ervin Polsters (1987) Buch »Jedes Menschen Leben ist einen Roman wert«. Moser geht allerdings auch auf Fragestellungen ein, die Polster nicht thematisiert, z. B. auf Probleme der Anonymisierung und darauf, was es für die therapeutische Beziehung bedeuten kann, wenn die Therapeutin eine andauernde Therapie nicht nur ausführlich dokumentiert, sondern auch eine Veröffentlichung im Sinn hat, insbesondere wenn er diese gemeinsam mit dem Klienten bearbeitet.

Darüber hinaus beklagt Moser mit Recht, wie selten Therapeutinnen die notwendige Zeit und Energie, aber auch den erforderlichen Mut aufbringen, den Verlauf von ganzen Therapien (und nicht nur von Vignetten) zu publizieren – umso mehr, wenn sie nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben. Ich weiß aus eigener Erfahrung als Autor, dass man nicht nur mit Besserwisserei, sondern bisweilen auch mit Sarkasmus und pseudodiagnostischen Pathologisierungen und anderen ad hominem-Angriffen rechnen muss, wenn man mit solch unvermeidlich sehr persönlichen Darstellungen an die kollegiale Öffentlichkeit tritt. Die Verbesserung der Diskussionskultur unter Therapeuten ist – über die einzelnen Schulrichtungen hinaus – wünschenswert und auch unter dem Aspekt einer echten, nicht nur formalistischen ›Qualitätssicherung‹ nötig.

Der Abschnitt »Psychoanalyse und Tod – Ein teilweise autobiografischer Essay« zeigt unter vielerlei Asnekten auf wie Tod und Sterben im Rahmen von Psychotherapien zum Thema werden können. Dabei geht es nicht darum, wie Patienten das Sterben und den Tod wichtiger Bezugspersonen verarbeiten, sondern u.a. auch darum, welche Konsequenzen der Suizid einer Klientin für den Therapeuten haben kann. Außerdem diskutiert Moser die schwierige Situation, die sich ergibt, wenn Therapeutinnen selbst schwer erkranken und ihre Therapien deswegen – auch für die Klienten unvorhersehbar – beenden müssen. Dieser offenbar von Irving Yaloms (2008) Buch »In die Sonne schauen« inspirierte Essay hat mich nicht nur wegen seiner Vielseitigkeit, die ich im Einzelnen aus Platzgründen nicht darstellen kann, besonders beeindruckt, sondern auch weil hier die Feinfühligkeit und Differenziertheit des Autors in hervorragender Weise zur Geltung kommt.

Andere ideenreiche Abschnitte behandeln z.B. die fruchtbare Wirkung, die es für Patientinnen haben kann, mit ihnen in der Therapiestunde Fotos aus ihrer Kindheit zu betrachten, oder die Implikationen von Hausbesuchen der Therapeutin. Experimente mit Blicken, »Verliebtheit in der Psychotherapie« oder »Therapeutische Verstrickungen« sowie mehrere Fallgeschichten von Männern möchte ich als reifere Beispiele für die Weite des von Moser behandelten Themenkreises erwähnen.

Und immer wieder kommt der Autor auf das zurück, was offenbar sein Herzensanliegen ist: Eine behutsame, aber entschiedene Einbeziehung der körperlichen Ebene in die therapeutische Arbeit. Dazu gehören für ihn nicht nur physische Ausdrucksübungen, Bewegungsexperimente und Inszenierungen, sondern vor Allem die vielfältigen Formen der Berührung zwischen Therapeutin und Klient, die ihre unmittelbar spürbare Bezogenheit auf situativ angemessene Weise erfahrbar machen und den Patientinnen den benötigten Halt und die ersehnte Zuwendung gewähren. Nachdrücklich wehrt er sich immer wieder gegen ein verkürzt verstandenes Abstinenzgebot, das zu einer Tabuisierung jeden Körperkontakts führt. Denn die fehlende Berührung kann für manche Klienten ebenso problematisch wirken wir ihre übergriffige Anwendung. Daher stellt Moser mit Bedauern fest:

»Für othodoxe Analytiker bedeutet ein Überlassen der Hand des Therapeuten schon Sexualisierung, Übergriff und Manipulation. Die Berührungsscheu hat merkwürdige Blüten getrieben, Freuds Angst vor den erotischen Eskapaden vieler seiner Schüler hat zu einem Regelwerk der Abstinenz geführt, dass spätere Generationen noch ausgeweitet haben. In den ethischen Richtlinien mancher therapeutischen Schulen ist Berührung als Hilfsinstrument der Behandlung untersagt.« (140)

In der Gestalttherapie haben wir glücklicherweise keine solche, auf einem Leib-Seele-Dualismus beruhende Abstinenz-»Ethik«; unsere eigene Schwäche liegt traditionell eher in der naiven Handhabung körperlichen Kontakts. Gerade deswegen kann die Beschäftigung mit Mosers Überlegungen auch für uns sehr nützlich sein, weil er die Chancen und Risiken von Berührungen im therapeutischen Kontext unter vielerlei Blickwinkeln sorgfältig erörtert und abwägt.

Ich kann dieses engagierte Werk eines Psychoanalytikers vorbehaltlos empfehlen, der nicht nur über seinen Tellerrand hinausblickt, sondern sich auch nicht scheut, mit seinen unorthodoxen Ansichten trotz erlebter Ausgrenzungen deutlich sichtbar zu werden.

Literatur
BUBER, M. (1984): Das dialogische Prinzip. Heidelberg (Lambert Schneider)
FERENCZI, S. (1988): Ohne Sympathie keine Heilung – Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M. (Fischer)
FREUD, S. (1937/1975): Die endliche und die unendliche Analyse. In: Schriften zur Behandlungstechnik – Studienausgabe Ergänzungsband. Frankfurt a.M. (Fischer), 357-392
FUCHS, T. (2000): Leib, Raum, Person - Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart (Klett-Cotta)
GEISSLER, P. (Hg.) (1998): Analytische Körperpsychotherapie in der Praxis. München (Pfeiffer) GEISSLER, P. (2009): Analytische Körperpsychotherapie – Eine Bestandsaufnahme. Gießen (Psychosozial)
HEISTERKAMP, G. (1993) Heilsame Berührungen – Praxis leibfundierter analischer Psychotherapie. München (Pfeiffer)

Frank-M. Staemmler
www.frank-staemmler.de

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