Rezension zu Verborgene Wunden
Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Ausgabe Nr. 38/2015
Rezension von Mandy Palme
Trobisch-Lütge,Stefan/Bomberg, Karl-Heinz (Hrsg.): Verborgene
Wunden
Stefan Trobisch-Lütge und Karl-Heinz Bomberg vereinen in ihrer
gemeinsamen Herausgeberschaft West- und Ostbiographien. Zudem
ergänzen sich ihre fachlichen Perspektiven aus den Bereichen der
Psychoanalyse, Psychotherapie und Traumatherapie. Mit seinen
Beiträgen aus eigener Hafterfahrung und dem Werkzeug eines
Facharztes eröffnet Karl-Heinz Bomberg einen besonderen, mithin
sehr authentischen Zugang zum Thema. Unter Berücksichtigung der
gegenwärtigen Traumadebatte umfaßt der Band sowohl eine aktuelle
Einschätzung und Einordnung der psychischen Folgen von
DDR-Unrechtserfahrungen als auch die Darstellung
transgenerationaler Aspekte. Die Weitergabe von politischen
Traumata wird bereits international diskutiert. Demgegenüber sind
einzelne Aspekte einer transgenerationalen Weitergabe traumatischer
Erfahrungen unter den spezifischen Verfolgungsbedingungen in der
DDR bislang noch kaum erforscht. Hierbei stellt sich zum einen die
Frage nach möglichen kumulativen Wirkungen aus der Aufeinanderfolge
von zwei Diktaturen und zum anderen nach Ähnlichkeiten zwischen
Kriegstraumatisierungen und DDR-Traumatisierungen. Ein Spezifikum
in diesem Untersuchungsfeld bildet die durch das MfS an der
Juristischen Hochschule in Potsdam in den 1960er Jahren als
Forschungs- und Lehrfach eingeführte »Operative Psychologie« und
deren generationsübergreifende Folgen.
Die Einrichtung der Beratungsstelle für politisch Traumatisierte
der DDR-Diktatur im Jahre 1998 geht auf die Initiative des
Dissidenten, Schriftstellers und Sozialpsychologen Jürgen Fuchs
zurück. Hier finden politisch Verfolgte der SED-Diktatur Beratung
und psychotherapeutische Angebote, die bei der Verarbeitung von
Verfolgung und Inhaftierung helfen sollen. Die Ausführungen zu
Behandlungsmöglichkeiten umfassen spezifische Ansätze und
Therapiemethoden, die gleichzeitig Einblicke in die praktische
Arbeit der Beratungsstelle Gegenwind verschaffen. Die angewandten
Therapie-formen sind sehr unterschiedlich, sie reichen von dem
stützenden Gespräch bis hin zur aufdeckenden analytischen
Psychotherapie.
Mit den Ausführungen auf Grundlage eigener Arbeitsschwerpunkte der
Autoren sowie Erfahrungen aus der Beratungsstelle Gegenwind in
Berlin gewinnt der Leser einen tiefen Einblick in die bis heute
anhaltenden Folgen politischer Verfolgung. Weitere Beiträge fassen
den Wissensstand der letzten 25 Jahre zusammen. Das Kapitel zu den
Behandlungsmethoden widmet sich dem Trauma und seinen verschiedenen
Ausprägungen. In seinen Ausführungen zur Psychoanalytischen
Traumatherapie verweist Karl-Heinz Bomberg auf den Zusammenhang
zwi-schen Psychotherapie und gesellschaftlicher Anerkennung und der
diesem inhärenten Bedeutung von individueller Auseinandersetzung
und gesellschaftlichem Diskurs. Als mögliche Behandlungsmethoden
stellen Erika Kunz die Inhärenz-Methode und Frank-Dietrich Müller
den Behandlungsansatz EMDR (Desensibilisierung und Verarbeitung
durch Augenbewegung) vor. Die hundgestützte Intervention in der
therapeutischen Beratungsarbeit beschreibt Bettina Kielhorn mit
Fallbeispielen aus der Beratungsstelle Gegenwind. Ein Novum in der
Literatur über die politische Traumatisierung in der DDR sind die
hier aufgeführten Patientengeschichten, die einzelne
Verfolgungsschicksale sowie typische Mechanismen veranschaulichen,
die Betroffene aufgrund von politischer Inhaftierung, Zersetzung,
Zwangsadoptionen oder Republikflucht entwickelten. Während der
psychotherapeutischen Arbeit mit politisch Verfolgten der
ehemaligen DDR seit nunmehr zwanzig Jahren trat zunehmend auch die
Verarbeitung in den Familien der Betroffenen in den Vordergrund.
Damit stellte sich die Frage nach der transgenerationalen
Weitergabe politischer Traumata, denen sich Stefan Trobisch-Lütge
in seinem Aufsatz Ȇberwachte Vergangenheit. Auswirkungen
politischer Verfolgung der SED-Diktatur auf die Zweite Generation«
widmet. Im Fokus seiner Untersuchungen stehen sowohl die
Identifizierungsprozesse der Nachkommen der Betroffenen als auch
ihre notwendige Auseinandersetzung mit Mißtrauensphänomenen. Auf
der Grundlage empirischer Untersuchungen wird der
transgenerationale Charakter der Überwachung der Vergangenheit
darin deutlich, daß die Nachkommen offenbar gezwungen sind, sich
mit dieser auseinanderzusetzen. In seinem Beitrag über »Psychische
Erkrankungen durch politische Verfolgung in der DDR« ordnet Carsten
Spitzer vor dem zeithistorischen Hintergrund die Haftbedingungen
sowie die juristischen Grundlagen der Rechtsprechung in der DDR
ein. Davon ausgehend erhält der Leser einen Überblick über
psychische Störungen, die sich einer politischen Inhaftierung
anschließen können. Der Autor kommt zu dem Schluß, daß die Kinder
politisch Verfolgter anfälliger für psychische Erkrankungen seien
als die Allgemeinbevölkerung. Die Anzahl von Betroffenen ist
insgesamt schwer einschätzbar. Psychische Folgen sind über Jahre
und Jahrzehnte nachweisbar und können die psychische Gesundheit
erheblich beeinträchtigen. Demnach sind die Verbesserung der
gesamtgesellschaftlichen Würdigung und die Anerkennung der
Betroffenen sowie ihres Leides nötig und wichtig.
Die wissenschaftliche Arbeit zur transgenerationalen Weitergabe von
Traumata bestätigt die Annahme, daß die Aufarbeitung der
DDR-Geschichte nicht abgeschlossen ist. Vielmehr veranschaulicht
dieses Thema, wie umfassend und tiefgreifend auch die Verarbeitung
von und die Beschäftigung mit psychischen (Spät-)Folgen politisch
Verfolgter der SED-Diktatur auf die Aufarbeitungsprozesse
einwirken. Hierzu zählt grundlegend die Bereitschaft, für die
individuelle Auseinandersetzung mit den eigenen psychologischen
Problemfeldern, die sich oftmals auf eine gesamte Biographie und
auch die Familienmitglieder auswirken können. Die an verschiedenen
Stellen des Bandes eingebrachte Kritik gilt den fehlenden
Anlaufstellen für Betroffene mit psychischen Folgeschäden aus
politischer Verfolgung in der DDR. Die Beratungsstelle Gegenwind in
Berlin ist bundesweit die einzige Anlaufstelle für die in den
letzten Jahren zunehmenden Anfragen von Betroffenen. Eine
entsprechende Betreuung, die sowohl mögliche therapeutische
Konzepte als auch rechtliche Fragen, wie die Antragstellung auf
Entschädigung umfaßt, kann demnach für eine Vielzahl von
Interessierten nicht adäquat umgesetzt werden. Neben der
gesellschaftlichen Anerkennung ist für Betroffene von Repression
und Verfolgung auch die Bereitstellung einer adäquaten fachlichen
Betreuungsstruktur, die sowohl fachliches Wissen aus dem
medizinischen und psychologischen Gebiet als auch Kenntnisse über
spezifische Verfolgungsmethoden und deren Wirkungen verbindet,
essentiell.
Mandy Palme