Rezension zu Der Ursprung des Schöpferischen bei Paul Klee

psychosozial 39. Jg. (2016) Heft II (Nr. 144)

Rezension von Matthias Oppermann

Anita Eckstaedt (2015). Der Ursprung des Schöpferischen bei Paul Klee

Die Autorin entwickelt in dem Buch eine Spurensuche nach dem Ursprung Paul Klees künstlerischen Schaffens. Im Mai 1979 begegnete sie in der Ausstellung »Paul Klee – ein Kind träumt« dem Bild Mimi überreicht Madame Grenouillet einen Blumenstrauß, das der Künstler im Alter von vier Jahren gezeichnet hatte. Diese Zeichnung ist Ausgangspunkt einer Reise zu Bildern Paul Klees, die sie mit Blick auf ihre Fragestellung betrachtet. Hierbei schöpft sie ihre Gedanken aus dem Bildmaterial, wie es Reimut Reiche in seiner strukturbetonten Bildanalyse wiederholt vorgeführt hat. So sollen die Bilder nicht an eine psychoanalytische Psychogenetik herangetragen werden und sie bestätigen, sondern das genaue Betrachten des Bildmaterials von der Oberfläche aus soll weiterführende Bedeutungen erst erschließen: »[...] Anwendung der Psychoanalyse auf ein Kunstwerk: Vorrang der Oberflächen-Rekonstruktion vor irgendeiner aus unserem psychoanalytischen Wissen, gespeisten tiefen Deutung, und sei es um den Preis der Nicht- Deutung des Werks« (Reiche, 2011, S. 315). Folgerichtig finden sich hier biografische Angaben auch erst am Ende des Buches.

Leitfigur, nicht nur im Untertitel Mimi – eine »unendliche Analyse«, ist Sigmund Freud, den sie in einem der ersten Kapitel aus Der Moses des Michelangelo (1914) zitiert. Hier konstatiert Freud, dass der Künstler im Betrachter die »Affektlage und psychische Konstellation« (S. 22) hervorrufen möchte, aus der sich die Triebkraft zur Schöpfung speise. Das wäre dann die Voraussetzung dafür, dass wir als Betrachter in einzelnen Werken einer Künstlerin oder eines Künstlers den Ursprung der gestaltbildenden Triebkraft erkennen könnten. Die Autorin schreibt: »Mein Interesse richtet sich auf die Beziehung des Künstlers zu seiner Arbeit, in welcher ihre Veranlassung mitenthalten ist« (S. 24). Anders ausgedrückt: Warum malt und zeichnet Klee und wo kann man dies in seinen Bildern erkennen? Hier kommt sie dann aber wieder in die Nähe herkömmlicher psychohistorischer Betrachtungsweisen, die die Autorin eigentlich nicht möchte und im letzten Kapitel betont: »Um möglicherweise ein besseres Verständnis meiner Interpretationen zu vermitteln, will ich einige Konstellationen besonderer Art aus dem Leben Paul Klees hervorheben. Von solchen ist in meinen Interpretationen nichts unmittelbar hergeleitet« (S. 131). Dies beschreibt eine methodische Spannung des Buches, und es ist am Leser, zu beurteilen, ob es ihr gelungen ist, einen Blick unvoreingenommen von den biografischen Begebenheiten auf das Material zu richten oder ob sie mit einer anders arrangierten Schreibart, die alte Psychohistorie dennoch wieder aufleben lässt.

Die Auswahl der besprochenen Bilder ist eine sehr persönliche der Autorin, die schon lange der oben beschriebenen Spurensuche nachgeht. Ihre erste Veröffentlichung über besagte Kinderzeichnung datiert auf 1980 in der Zeitschrift Psyche. Diese persönliche Herangehensweise ist für uns Psychoanalytiker täglich Brot, da wir davon ausgehen, dass das, was sich in einem Prozess herauskristallisiert, eine für den untersuchten Gegenstand tragende Bedeutung hat.

Für eine wissenschaftliche kunsthistorische Arbeit wäre es meines Erachtens aber notwendig, die Bildauswahl zumindest zu thematisieren, ob und wieweit sie einer kunsthistorischen und andernorts formulierten Notwendigkeit folgt – oder eben gerade nicht. Einen nichtpsychoanalytischen Leser könnte das irritieren, vor allem wenn die Autorin an vielen Stellen den eigenen Erkenntnisprozess und ihr Ringen darum sehr betont, und der Eindruck entstehen könnte, dass dadurch eine Art Wahrheitskriterium suggeriert werden soll.

Die Autorin beschreibt, wie das Kind Paul Klee im Unterschied zu einem Bilderbogen aus Épinal, in dem die Geschichte von Mimi und Madame Grenouillet erzählt wird und der für den kleinen Klee vermutlich als Vorlage gedient haben könnte, eine Version zeichnet, in der der Konflikt mit der emotionalen Unerreichbarkeit der Mutter und dem daraus resultierenden Hass eine symbolische Form findet. Klee entäußere »den tiefen Konflikt zwischen Mutter und Kind und macht ihn sichtbar« (S. 40). Hier bleibt die Autorin aber nicht stehen, sondern betont, wie durch die Darstellung in der Zeichnung es dem Kind gelingt, sich auch von dem Mutterkonflikt zu lösen: »Das junge Kind löst den in der Objektbeziehung liegenden Konflikt durch ein frühes Loslassen und den Wechsel auf die Ebene kreativen Tuns« (S. 14). Dies ist ein zentraler Gedanke, der sich durch das Buch wie ein roter Faden zieht. Damit bleibt ihre Interpretation nicht bei dem Abwehraspekt einer solchen Zeichnung stehen, sondern formuliert die eigentliche Triebkraft schöpferischen Handelns. Es geht nicht primär um den Konflikt, sondern um die Lösung davon. Dies sind Gedanken, die auch Erik Porath in einem Artikel »Psychoanalyse und Verweigerung« im Kunstforum jüngst formulierte. Das Fehlende oder das, was das Begehren enttäuscht, stößt etwas (hier die Zeichnung) an, das wiederum eine Art von Ersatz verspricht, aber durch Ornamentierung (Kunstmachen) dazu verhilft, sich vom Konflikt zu lösen oder sich davon abzulenken. Porath schreibt: »Es ist also nicht einfach das, was dargestellt wird, entscheidend, sondern dass es überhaupt zum Gegenstand einer Darstellung wird« (Porath, 2015, S. 50). Wichtig wird dann beim Künstler nicht mehr der Konflikt, sondern »die Darstellung(sweise) wird selbst interessant« (ebd.). Die Autorin drückt es so aus:

»Sowohl im Akt des Zeichnens wie in der fertig gestellten Zeichnung – das Zeichnen wie die Zeichnung werden libidinös besetzt – liegt für das Kind die Lösung des Dramas, ein Prozess der Transformierung mit einem völlig neuen Resultat auf einer Ebene jenseits der Objektbeziehung im Objekt des Kunstwerks« (S. 49).

Diese Lösung des Dramas mittels Kunst führt zu einer »Distanzierung und Lockerung der Bindung« (S. 53), wie es »Freud ausdrücklich als typisch für das Wesen eines Künstlers beschrieben« (ebd.) hat.

Die Kunst hat, wie die Autorin beschreibt, Klee sehr »früh eine eigene Welt eröffnet, in der er in seiner Autonomie leben konnte« (S. 65). Diesen Weg in die Autonomie findet die Autorin auch in dem zweiten Bildbeispiel: Blume mit vier Blättern von 1889. Klee hat dieses Aquarell mit zehn Jahren gemalt. Die Autorin sieht in der dargestellten Blume, die aus dem Blatt herauszuschweben scheint, ein Symbol seiner selbst »als geheime Selbstrepräsentanz« (S. 76) und nennt sie »Klee-Rose«. An verschiedenen Beispielen zeigt die Autorin, dass dieses »Symbol« in vielen seiner späteren Werke wiederauftaucht. Es wirkt so, als ob Klee mit diesem Symbol einen Kompromiss gefunden hat. Auf der einen Seite erringt Klee mit seiner Kunst Autonomie und Unabhängigkeit von der Mutter, andererseits kann er mit diesem Symbol als Selbstrepräsentanz, das er in seinen Bildern in Landschaften und Gärten versetzt, seine Sehnsucht nach Geborgenheit zum Aus- druck bringen.

Das Aquarell »Der Zeichner am Fenster« von 1909, Klee ist inzwischen zwanzig Jahre alt, sieht die Autorin als »Spiegelbild des inneren Kampfes als Maler« (S. 89), in dem Klee um seine Identität in dem neuen Beruf ringt. In einer ausführlichen Bildbeschreibung verortet sie jedoch psychische Bedeutung in dem Bild, der ich als Leser nicht unmittelbar folgen konnte. So sieht sie die Hand des Zeichners als verkrüppelt dargestellt und bringt dies in Verbindung mit der Deformierung von Madame Grenouillets Hand in der Zeichnung des Vierjährigen als Ausdruck von Aggression. Nun zeigt aber die Hand des Zeichners meines Erachtens nur die typische Handhaltung beim Schraffieren. Auch über die Beschreibung der Situation vor dem Fenster kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Schreibt die Autorin: »das eigentliche Fenster ist blind« (S. 93), so ist doch auch ein Blick hinaus auf einen von der Sonne beschienenen Hof dargestellt. Nicht nachvollziehbar ist auch der Konflikt, den die Autorin annimmt: »Bin ich Zeichner oder Maler?« (S. 97), wo Klee sein Leben lang sowohl Maler als auch Zeichner war und beides gelehrt hat. Hier entsteht der Eindruck, dass in die Bilder etwas hineingelesen wird und damit eine Hypothese unterstützt werden soll, was das untersuchte Material aber nicht wirklich hergibt.

Die Autorin stellt wiederholt fest, dass »nur auf der Basis der Erfahrung mit einem ›guten Objekt‹ [...] eine derartige Entwicklung möglich« (S. 90) ist. Ein solches Objekt war seine Großmutter. Sie lehrte ihn früh, mit farbigen Stiften zu zeichnen. Als er fünf Jahre alt war, verstarb sie. Diese Großmutter verbrachte viel Zeit in ihrem Garten und beim Sticken. In mehreren sehr ornamentalen Landschaftsaquarellen findet die Autorin bildhafte Erinnerungen an das gute Objekt: »Erinnerungen an rhythmisiert bepflanzte Gärten, möglicherweise den heimatlichen Gemüsegarten« (S. 120). Sie sieht darin »verinnerlichte Verbindungen zu seinem einst guten Objekt, der geliebten und für ihn zu früh gestorbenen Großmutter« (S. 124). Dies ist nachvollziehbar und plausibel mit interessanten Bildbeispielen dargestellt, aber es fehlt an dieser Stelle die Einbettung in die kunsthistorische Tradition, die in dieser Zeit auch die von Klee gewählte Form der Abstraktion beeinflusst haben könnte. Am Ende des Buches findet die Autorin in der Zeichnung »Der Fels der Engel« (1939) Mimi aus der Kinderzeichnung wieder, was nicht wirklich nachvollziehbar gemacht werden kann. Die Autorin schränkt ein: »Diese Sicht hat sich aus meinem psychoanalytischen Verständnis entwickelt, sie muss nicht die einzig mögliche sein« (S. 125).

Beim Lesen des Buches entstand immer mehr der Eindruck, dass sich die Autorin vor den Gegenstand drängt, und dies kann den Raum für eigenes Denken einengen. So eingängig und überzeugend die Bildanalyse nach Reiche mit der Forderung, von der Oberfläche auszugehen, ist, so deutlich werden in dem Buch auch die Gefahren. Einmal können lange Bildbeschreibungen vis-à-vis einer Abbildung den Raum für das eigene Denken und Sehen des Lesers einengen, zum anderen besteht die Gefahr, den Leser zu verlieren, wenn Interpretationen des im Bild Dargestellten nicht nachvollziehbar sind. Dies ist für mich ein wesentlicher Kritikpunkt an dem Buch. Darüber hinaus ist es aber im Kern ein wichtiger Baustein psychoanalytischer Kunstbetrachtung, indem es die kreatürliche Lösung vom (und nicht des) zugrunde liegenden, vielleicht letztendlich auch nicht lösbaren Konfliktes im Sinne einer Bewältigung beschreibt. Das Buch macht auch Lust, sich mit Klees Werken intensiver zu beschäftigen.

Matthias Oppermann

Literatur
Eckstaedt, A. (1980). Mimi überreicht Madame Grenouillet einen Blumenstrauß. Eine psychoanalytische Studie über den Weg der Phantasie des vierjährigen Paul Klee anhand einer Kinderzeichnung. Psyche, 34(12), 1123–1144.
Porath, E. (2015). Psychoanalyse und Verweigerung – Marina Abramovićs Performance der Reduktion. Kunstforum International, Bd. 232, 46–53.
Reiche, R. (2011). Das Tabu der Schönheit und der Vorrang des Objekts in der Analyse von Kunstwerken. Psyche, 65(4), 289–319.

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