Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe
Newsletter des TLP (Tiroler Landesverband für Psychotherapie)
Rezension von Joachim Nagele
Womit zu lesen beginnen in diesem umfangreichen Werk über Raoul
Schindler und seinen Texten? Fangen wir doch mit dem dritten Teil
des Buches an: Ein Glossar zur Theorie der Rangdynamik – eine sehr
gute Möglichkeit, sich mit den wichtigsten, von Raoul Schindler
verwendeten Begriffen vertraut zu machen. Oder mit seinem
Lebenslauf? Dieser gibt uns die Möglichkeit, sich tabellarisch dem
Leben Raoul Schindlers anzunähern. Den Herausgeber_innen wäre es
wohl recht von vorne zu beginnen. Schließlich laden sie uns im
ersten Teil des Buches ein, uns zu orientieren – zur Person Raoul
Schindlers und ihrem Wirken im historischen Kontext. Der zweite und
natürlich ausführlichste Teil enthält Originaltexte von und drei
Gespräche mit Raoul Schindler, der immer am lebendigen ,
dynamischen Gefüge der Gruppe interessiert war. Und schließlich,
der oben erwähnte dritte Teil: Glossar, Lebenslauf und ebenso
wichtig: ein Werkverzeichnis.
Doch jetzt der Reihe nach:
Raoul Schindlers ›Rangdynamik‹ , die ›rangdynamische Grundformel‹
ist vielen ein Begriff, ebenso wie ›Alpha und Omega‹. Aber im Laufe
der Jahre passiert es, dass sich diese Begriffe und der Inhalt
dahinter verselbständigen, aus dem Kontext gerissen ›Verkürzungen‹
vorgenommen werden. Und genau darum sind die Texte in diesem
vorliegenden Buch so wichtig, oder wie Christina Spaller bei der
Buchpräsentation im November in Wien meint: »Um in Originaltexten
nachzulesen und die Komplexität des Modells entgegen einer
vereinfachten Leseweise zu ermöglichen.« Die Herausgeber_innen
veröffentlichen erstmalig eine Auswahl dieser Originaltexte
Schindlers, die sie um eine Darstellung seiner Person und seines
Wirkens, sowie um eine Einbettung in den historischen Kontext der
Gruppendynamik in Österreich ergänzen.
Teil eins:
Zur Person und ihrem Wirken im historischen Kontext:
Als interessierte Lesende lassen wir uns entführen in das Leben und
Wirken von Raoul Schindler. Wir erfahren wichtige Stationen in
seinem Leben, die mit dem zweiten Teil, den Texten, die ebenso fast
durchwegs historisch geordnet sind, im Konnex stehen. Dazu
informativ und anschaulich ein Kapitel über die Entwicklung der
Gruppendynamik in Österreich: Schindler im Feld. Und von Konrad
Wirnschimmel und Christina Spaller kurz und prägnant deutlich
gemacht im dritten Kapitel des ersten Teils: Im Zentrum die Gruppe
: Schindler hat einen großen Teil seines Lebens der Erforschung der
Gruppe gewidmet: »Dabei reicht sein Interesse von der
Gruppenwirkung auf das Individuum bis hin zu gesellschaftlichen
Gruppenprozessen.« (S49)
Teil zwei:
Originaltexte:
Diese Texte sind, wie schon erwähnt, entlang einer Zeitleiste im
Sinn historischer Lebensabschnitte angeordnet und erfreulicherweise
mit Einführungen versehen. Im ersten Kapitel »Auftrag und
Orientierung – Bifokale Familientherapie (1952-1956)« lesen wir in
Texten aus den Anfangsjahren des Schaffens von Raoul Schindler,
erfahren mehr über seine Forschungsarbeit und seine Erkenntnisse
zur Entwicklung der Bifokalen Familientherapie. Hier möchte ich
exemplarisch den Text: ›Die Psychohygienische Aufgabe im
Heimkehrerproblem‹ erwähnen, der uns einen spannenden Einblick in
diese , inzwischen oft vergessene, aber dennoch aktuelle
Problematik der Kriegsheimkehrer gewährt.
Im zweiten Kapitel »Vernetzung und Experiment – Rangdynamik
(1957-1963)« ist gleich zu Beginn der Artikel ›Grundprinzipien der
Psychodynamik in der Gruppe‹ aufgelistet. Jetzt sind wir angelangt
bei den ›berühmten‹ Positionen innerhalb einer Gruppe, die auch
grafisch dargestellt werden. (Diese Grafik befindet sich, nebenbei
erwähnt , auch auf dem Deckblatt des Buches). Auch die weiteren
Artikel aus dieser Schaffensperiode verdienen es, erwähnt zu
werden, aber ich möchte hier den Text (eigentlich ein Vortrag
anlässlich der 10. Lindauer Psychotherapie-Woche 1960) hervorheben:
›Der Gruppentherapeut und seine Position in der Gruppe‹. Ein Muss
für jede Person, die mit Gruppen arbeitet?
Im dritten Kapitel »Reform und Gesellschaft: Omega (1966-1978)«
wird die Weiterentwicklung der Theorie der Rangdynamik sichtbar.
Die Lesenden mögen sich selber ein Bild von dieser spannenden Zeit,
in der Raoul Schindler verstärkt in seiner Privatordination
arbeitet und Vorstand der siebten Abteilung des Psychiatrischen
Krankenhauses der Stadt Wien ist, machen. »Im abschließenden
Artikel verankert Schindler seinen gruppenorientierten Ansatz mit
psychiatrischen Patient_innen im Kontext internationaler Ansätze
zur Öffnung geschlossener Anstalten« (S. 184).
Kapitel vier: »Soziale Vision und Institutionalisierung: Macht
(1986-1993)«
In diesen Jahren wendet sich Schindler gesellschaftlichen und
berufspolitischen Fragestellungen zu. Aber auch hier begegnen wir
wieder dem Modell der Rangdynamik, das Schindler in seinem Text
›Interventionen in kritischen Situationen‹ besonders praxisnah
erläutert.
Und mit Kapitel fünf »Lehren und Weitergeben: Vermächtnis
(2002-2008)« schließt sich der Kreis. Die drei Interviews sind
spannend, aufschlussreich und teilweise auch witzig zu lesen. Hier
wird die Person Raoul Schindler noch einmal auf ganz eigene Weise
spürbar/lesbar.
Teil drei, Anhang, habe ich bereits oben mehrfach erwähnt. Er ist
ein wichtiger Teil in diesem Buch, dessen Entstehung sich über drei
Jahre erstreckte. Drei Jahre, in denen wertvolle Sammelarbeit,
Sichtung und Auswahl geleistet wurde von den Herausgeber_innen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal Christina Spaller zitieren, die
bei der Buchpräsentation auf die Frage, warum es diese Texte
braucht, antwortet: »Um die Ansätze in ihrer Entwicklung
nachvollziehbar zu machen, sie ins Gespräch zu bringen und
weiterzuentwickeln. Um Mut zu machen, sich dem Lebendigen in
Gruppen anzunähern und in Auseinandersetzung zu gehen. Dazu möchten
wir mit diesem Buch einladen: zum Gespräch, zum Weiterdenken und
zum Experiment«.
Dem habe ich als Rezensent nichts hinzuzufügen.
Joachim Nagele