Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität
querelles-net. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung, Jg. 18, Nr. 1 (2017)
Rezension von Lisa Krall
Warum Identitätskategorien nicht unschuldig sind und Anerkennung
nicht allen nützt
Rezension von Lisa Krall
Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß:
Schwule Sichtbarkeit − schwule Identität.
Kritische Perspektiven.
Abstract: Die beiden Autor_innen Zülfükar Çetin und Heinz-Jürgen
Voß sehen es als notwendig und dringlich an, zu diskutieren,
inwiefern ›der Homosexuelle‹ vermehrt als Diskursfigur für
westliche Hegemonie fungiert, und dies nicht nur aufgrund von
Instrumentalisierungen, sondern auch aus der eigenen Beteiligung an
herrschenden Diskursen. Befragt wird hier eine auf den ersten Blick
nicht als privilegiert geltende Gruppe nach ihrer Einbettung in
Herrschaftsverhältnisse. Dabei werden die beiden titelgebenden
Schlagworte Sichtbarkeit und Identität immer wieder aufgegriffen
und in unterschiedlichen Kontexten betrachtet. Wer vom Umfang des
Buches auf eine knappe Abhandlung mit Einführungscharakter
schließt, liegt falsch und wird vielmehr mit einer komplexen
Analyse und dichten Argumentation konfrontiert.
Im ersten, gemeinsam verfassten Teil des hier besprochenen Buches
geht es den beiden Autor_innen darum, mit Hilfe historischer
Betrachtungen die Eingebundenheit »des Homosexuellen« – im Band
durchgängig in Anführungsstrichen, um auf die Konstruiertheit des
Begriffs hinzuweisen – und die mit ihm verbundene
Emanzipationsbewegung als Teil westlicher Hegemonie begreifbar zu
machen. Vor allem anhand der Arbeiten von Karl Heinrich Ulrichs
(Jurist, 1825–1895) und Magnus Hirschfeld (Mediziner, 1868–1935),
die sie als zentral für die Herausbildung jener Identitätskategorie
und die damaligen emanzipatorischen Bewegungen sehen, wird deren
Suche nach der ›wahren Homosexualität‹ (vgl. S. 11) rekonstruiert,
die mit rassistischen Abgrenzungen gegenüber z.T. kolonialisierten
›Anderen‹ stattfand: »Sie [›die Homosexuellen‹] haben ihre klare
kategoriale Fassung ganz zentral betrieben, gerade um an den
Privilegien weißer bürgerlicher Männer Anteil haben zu können; sie
haben ihre Konstruierung als (weiße) Gruppe so in direkter
Abgrenzung gegen die geschlechtlichen und sexuellen Handlungen ›der
Anderen‹ vorangetrieben und zentral an den kolonialen und
rassistischen Argumentationsweisen und Politiken mitgewirkt.« (S.
23)
Dass »die Homosexuellenbewegung« folglich nicht bloß aus einer
Gruppe Verfolgter besteht, die für ihre Rechte eintreten, sondern
dass ihre Akteure selbst Teil von Herrschaftsverhältnissen waren
und sind, verdeutlichen Çetin und Voß also bereits zu Beginn und
zeigen nun anhand historischer und aktueller Beispiele aus
Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft die Verschränkungen der
Identitätskategorie »Homosexualität« mit Kolonialismus und
Rassismus auf. Mit Betrachtung dieser ambivalenten Position »der
Homosexuellen« als Verfolgte und Streitende und zugleich als
Privilegierte und an Herrschaft Partizipierende hinterfragen sie in
diesem Band die Relevanz von Identitätskategorien und betrachten
ihre Folgen kritisch. Auch regen sie eine Auseinandersetzung mit
Sichtbarkeit und Anerkennung an, die oftmals positiv als
Instrumente von Emanzipationsbewegungen diskutiert werden.
Bezugnehmend auf die soziologischen Arbeiten von Andrea Mubi
Brighenti plädieren Çetin und Voß jedoch dafür, beide
Begrifflichkeiten in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen und zu
reflektieren, wem sie nützen können und für wen sie aufgrund zu
enger Identitätskategorien nicht hilfreich sind.
Klassifizierung und Naturalisierung von »Homosexualität« sind nicht
unschuldig
Beginnend mit einigen wissenschaftstheoretischen Einordnungen
bettet Voß im zweiten Teil die Erfindung »der Homosexualität«
zunächst in einen naturwissenschaftlichen Kontext und ins 19.
Jahrhundert ein und veranschaulicht die Klassifizierungsarbeit von
Hirschfeld, aber auch anderen Wissenschaftlern. Neben der damaligen
Verfolgung und dem Versuch der ›Behandlung‹ homosexueller Männer –
und nur um diese geht es im ganzen Band – werden Hirschfelds
Bemühungen aufgezeigt, gegen den § 175 StGB zu argumentieren, indem
er »Homosexualität« als natürliche Gegebenheit nachweist. Während
also Wissenschaftler wie Hirschfeld für mehr Rechte kämpften,
entwarfen sie ein spezifisches Bild, eine eindeutige
Identitätskategorie »der Homosexuellen« und grenzten sich dabei
stark ab von nach ihrer Meinung ›abweichendem Verhalten anderer‹
(vgl. S. 47). So wurde »›Homosexualität‹ im Kontext der schwulen
Identitätsbildung naturalisiert« (S. 67). Die historische Analyse
wird ergänzt um aktuelle Beispiele naturwissenschaftlicher
Erforschungen »der Homosexualität«; als konstant wird die statische
und enge Sichtweise auf diese herausgearbeitet, die sich durch die
Geschichte zieht und dabei viele Handlungen und Personen außen vor
ließ und lässt. So wird deutlich, dass Klassifizierungen und
Kategorisierungen, die der Sichtbarmachung und Anerkennung dienen,
nicht unschuldig, sondern Teil von Herrschaftsverhältnissen sind,
da sie nur bestimmte Personen einschließen, wodurch all jene
herausfallen, die nicht weiß, europäisch, bürgerlich oder männlich
sind.
Diese Perspektiven überträgt Voß am Ende des Kapitels auf aktuelle
pädagogische Diskurse um Coming Out und Selbstbenennung, die
zumeist als emanzipatorisch bewertet werden. Die nun aber deutlich
werdende Parallele liegt darin, dass auch hier nur anerkannt wird,
wer eindeutig in das Bild »des Homosexuellen« passt und sich in die
bürgerliche Ordnung einfügen kann: »Nur dann, wenn man sich in die
bürgerliche Ordnung integriert und wenn man überhaupt als
integrierbar in diese gilt, ergeben sich aktuell mehr Möglichkeiten
für lesbische und schwule Paare. Wer hingegen das
Integrationsangebot nicht annimmt und von bürgerlichen Normen,
›stetig‹ und in Paarbeziehung zu leben, abweicht, lebt in der
Gesellschaft sogar in zunehmendem Maße gefährdet. Das kann etwa der
Fall sein, wenn ein Mann gern promisk mit Männern Sex in Parks
haben möchte […], und es ist der Fall, wenn er arm oder wenn er
Schwarz ist.« (S. 78) So plädiert Voß dafür, Identitätskonzepte
aufzugeben, damit Räume zu eröffnen und sich nicht länger an der
Reproduktion hierarchischer Verhältnisse zu beteiligen.
Was »Homosexualität« auch heute noch mit Rassismus zu tun hat
Dies leitet über zum diskursanalytisch vorgehenden dritten Teil, in
dem Çetin zunächst mit Bezug auf Arbeiten von Birgit Rommelspacher
Perspektiven auf mehrdimensionale Dominanzgeflechte eröffnet (vgl.
S. 83). Anhand von weißen feministischen Emanzipationsdiskursen und
von Debatten über muslimische Schwule wird der Universalismus des
westlichen Gleichheitsanspruchs beleuchtet, den Çetin
beispielsweise in der deutschen Antidiskriminierungspolitik der
2000er Jahre verortet. Gemeint sind solche Stimmen, die westliche
Konzepte von Frauenrechten und Gleichberechtigung von Schwulen und
Lesben als Norm setzen, den globalen Norden als Vorreiter dieser
Werte sehen und als bedroht vor allem durch nicht-christliche
Okkupierungen. In diesem Zusammenhang wird Jasbir Puars Konzept des
Homonationalismus eingeführt, welches »die Erfindung einer
›schwulenfeindlichen‹ Nation« (S. 105) beschreibt; hierfür werden
mit aktuellen Geschehnissen, medialer Berichterstattung sowie
wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zahlreiche Beispiele
geliefert. Çetin nimmt dabei vor allem die seit 9/11 zunehmenden
rassifizierten Zuschreibungen von »Muslim_innen« in den Blick und
zeigt, wie auch hier ein feindliches Bild von ›wir vs. die Anderen‹
hergestellt wird und dabei koloniale Geschichte und postkolonialer
Rassismus ausgeblendet werden (vgl. S. 99). Stattdessen bilde sich
ein zunehmend rechtspopulistischer Diskurs heraus, der auch durch
wissenschaftliche Beschäftigungen und methodisch mangelhafte
Studien – leider bleibt die Kritik ohne konkrete Beispiele –
befeuert werde. Alarmierend sei, wie die Annahme Verbreitung finde,
dass »Menschen, die einen ›Migrationshintergrund‹ haben, jung und
möglicherweise muslimisch sind sowie aus ›bildungsfernen‹,
wirtschaftlich benachteiligten Familien stammen, […] mehr homophobe
Tendenzen und Praktiken aufweisen als die anderen« (S. 106).
Anhand dreier Berliner Stadtteile kommt nun auch Çetin auf
Sichtbarkeit zu sprechen und beschreibt hier die zunehmende
Sichtbarkeit der Schwulen im Kontext von Gentrifizierung, die aber
auf Kosten von (Arbeits-)Migrant_innen gehe. Statt das
Zusammenleben Unterschiedlicher im Stadtteil zu fördern, seien
beispielsweise auf Stadtteilfesten zunehmend rassistische sowie
polarisierte Feindbilder vorzufinden. Dies alles zu
veranschaulichen und die mehrschichtigen Hierarchisierungen wie
Diskriminierungen zu thematisieren, kann als Anliegen des Buches
formuliert werden. So schließen die beiden Autor_innen im
gemeinsamen Abschluss mit dem Appell, sich des eigenen
Eingebundenseins in Herrschaftsverhältnisse bewusst zu werden,
adressieren dabei aber vor allem eine Personengruppe: »Weiße
Schwule sind diskriminiert aufgrund der sexuellen Orientierung,
gleichzeitig stehen sie in Bezug auf das Geschlechterverhältnis und
Rassismus auf der Täterseite.« (S. 132) Ihre Analyse soll
theoretische Erkenntnisse ergänzen sowie damit auch zukünftiges
emanzipatorisches Streiten inspirieren. Wert legen sie dabei
darauf, intersektionale Perspektiven einzunehmen und das Ziel der
Überwindung starrer Identitäten weiterhin zu verfolgen.
Ein Fazit
Çetin und Voß führen im hier besprochenen Band Gegenwart und
Vergangenheit zusammen sowie ebenso das, was häufig in Theorie und
Praxis unterteilt wird. Damit und anhand unterschiedlicher
Beispiele liefern sie eine umfassende Analyse und zeigen die
Verschränkungen auf, die schwuler Sichtbarkeit und schwulen
Identitäten zugrunde liegen. Geht es sonst oftmals darum, zu
beschreiben, wie »Homosexualität« als ›das Andere‹ gegenüber
Heterosexualität konzipiert wird, findet hier eine
Perspektivverschiebung statt, und es wird ein Blick darauf
gerichtet, in Abgrenzung welcher ›Anderer‹ sich »der Homosexuelle«
konstituiert (hat). Damit schließt das Buch sowohl an
gesellschaftliche Phänomene und aktuelle politische
Herausforderungen an als auch an theoretische Verhandlungen in
feministischen Theorien und der Geschlechterforschung, in
postkolonialen Studien oder Intersektionalitätsanalysen. Ob es
tatsächlich damit funktioniert, Theorie wie auch Praxis zu
erreichen, muss sich zeigen bei dieser durchaus dichten Analyse und
den komplexen Zusammenhängen, die hergestellt werden. Dass
Auseinandersetzungen angeregt werden, wie es formuliertes Ziel des
Buches ist, gelingt aber mit Sicherheit, und zwar nicht nur
aufgrund der eng geführten, aber sehr fundierten theoretischen
Analysen, sondern auch dadurch, dass es die Lesenden aus ihrer
Komfortzone holt, wovon nicht alle begeistert sein werden. Die
durch zahlreiche Beispiele untermauerten Argumentationen erweisen
sich als zwingend, und es lohnt sich, ihnen zu folgen. So wie es
nach wie vor mehr privilegienreflektierender Geschlechterforschung
und feministischer Bewegungen bedarf, ist es notwendig, die eigene
Beteiligung an Herrschaft zu thematisieren, wie Çetin und Voß am
Beispiel der Schwulen aufzeigen. Der Forderung der Autor_innen,
Identitäten zu verlernen (vgl. S. 17), könnte in diesem Sinne wohl
auch Gayatri Chakravorty Spivaks (1996) Vorschlag hinzugefügt
werden, Privilegien als einen Verlust zu verstehen.
Literatur
Landry, Donna/MacLean, Gerald (Eds.) (1996): The Spivak Reader:
Selected Works of Gayati Chakravorty Spivak. London u. a.:
Routledge.
Lisa Krall
Universität zu Köln
M.A. Gender Studies
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DOI: https://doi.org/10.14766/1213
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