Rezension zu Grenzgängerinnen (PDF-E-Book)
Sozialmagazin April 2003, 28.Jg. Heft 4
Rezension von Rose-Marie Huber-Koller
Frauen auf der Flucht
Die einleitende Geschichte – eine afrikanische Frau ist so schnell
gegangen, dass sie nun unter einem Baum sitzend auf ihre nicht
hinterher gekommene Seele warten muss – veranschaulicht die
Intention der Herausgeberinnen auf sensible Weise. Die
Exilantinnen, Flüchtlinge oder Migrantinnen, mit denen wir es in
wissenschaftlicher, pädagogischer, psychologischer, medizinischer,
entwicklungspolitischer Praxis, in Beratung und Therapie zu tun
haben, müssen gesellschaftlich verursachte Widersprüche und
Verletzungen individuell auf Basis ihrer bisherigen Erfahrungen und
in ihren jeweiligen Lebenswelten verarbeiten. Deshalb analysieren
die zehn Autorinnen aus unterschiedlichen theoretischen
Perspektiven neben Zahlen und Fakten, äußeren sozialen und
politischen Bedingungen und Zwängen der Wanderschaft die damit
verknüpften inneren psychischen Erschütterungen.
Das, was hier gerade Flüchtlinge zu bewältigen haben, bedarf
sorgsamer Entschlüsselung. Weibliches Geschlecht ist unter
patriarchalischen Herrschaftsverhältnissen eine zentrale
Determinante politischer Verfolgung, sexuelle Gewalt eine gezielte
politische Strategie. Fluchtwege sind gefährlicher, weil Frauen
auch dort derartigen Übergriffen und Erpressungen ausgeliefert
bleiben. Selbst am vermeintlich schützenden Zufluchtsort entwickeln
sich neue Angstgefühle. Schließlich berücksichtigen trotz
Verbesserungen in jüngster Zeit (Asyl-)Gesetzgebung, Anhörungen und
Verfahren geschlechtstypische Nöte und Verfolgungsgründe noch immer
nicht systematisch. Hinzu kommt die als bedrohlich empfundene
Situation in den Gemeinschaftsunterkünften mit Männern (Lipka). Auf
die politischen und sozialen Bedingungen der Retraumatisierung
Überlebender in der Phase nach dem auslösenden Gewalterlebnis
weisen Vucelic und Hauser am bosnischen Beispiel hin. Auf Basis der
Erfahrungen mit dem Therapiezentrum Medica Zenica und anderer
Projekte von Medica mondiale begründet Hauser die Notwendigkeit
eines umfassenden multidisziplinären frauenspezifischen
Traumakonzepts.
Doch trotz Verletzungen, trotz so oft enttäuschter Hoffnungen von
Migrantinnen auf eine behutsame Aufnahme, auf Geborgenheit und ein
besseres Leben in Würde, Sicherheit und Freiheit, entstehen aus
Trennung, Verlust und Schmerz nicht nur Beschädigungen und
Zerrissenheit. Vielmehr können Betroffene häufig auf
frauenspezifische psycho-soziale Ressourcen zurückgreifen. Aus der
Fähigkeit, zu ertragen und flexibler mit Leid umzugehen, lassen
sich Potenziale für die diffizile Lebensgestaltung entwickeln.
Anders als etwa der Sechste Familienbericht sieht Rohr in ihrem
einleitenden Beitrag über »Frauen auf der Flucht, im Exil und in
der Migration« im kreativen Herausbilden transkultureller
polyvalenter Identitäten nicht zuletzt auch bei der folgenden
Generation – im Grenzgängertum zwischen Gestern und Morgen, Hier
und Dort, Bekanntem und Unbekanntem, zwischen den Welten –
angesichts von Globalisierung und Europäisierung ein Modell und
Projekt der Zukunft. Dies ist in Anbetracht des traditionell
verzerrten Konstrukts der fremden, wandernden Frau besonders
bedeutsam. Denn Huth-Hildebrand verdeutlicht den Wechsel zwischen
Ignoranz, Stereotypenbildung und politischer Funktionalisierung der
Geschlechterbeziehungen, um Migrationsdebatten zu ethnisieren und
zu steuern.
Auf Grundlage ihrer therapeutischen Erfahrungen mit depressiv,
psychosomatisch oder »abweichend« reagierenden jugendlichen
Migrantinnen beschreibt Ben Kalifa-Schor deren innere
Befindlichkeit als »inneres Niemandsland«, als Pendeln zwischen
kulturellen Orientierungen im Entwicklungsstadium der Adoleszenz.
Diese wird in Anlehnung an Freud triebtheoretisch als schwebendes
Dasein zwischen Kind- und Erwachsensein verstanden, als Phase, in
der sich den jungen Menschen nach Erikson zugleich das Bilden einer
Ich-Identität als Kernaufgabe stellt. Dabei sind spezifische
soziale Bedingungen der realen Migrationssituation zu verarbeiten.
Die Trennung von Vertrautem, das Gefühl des Unwillkommen- und
Ausgeschlossenseins, die gesellschaftliche Entwertung der Eltern
wie die eigene Perentifizierung werden mit Hilfe Erdheimscher
Überlegungen auf ihre mögliche psychoanalytische Bedeutung
befragt.
Am Beispiel der Einwanderinnen in Spanien erörtert Radl Philipp,
wie die Migrationssituation von Frauen vor dem Hintergrund
weltkapitalistischer Entwicklungen im Vergleich zu der der Männer
eine Doppeldiskriminierung mit sich bringt. Zugleich eröffnen sich
dabei jedoch – wenn auch oft mit einem hohen persönlichen Preis
verbunden – Potenziale der Veränderung der Geschlechtsidentität,
die als bewusstseinsfördernde Prozesse wirksam werden können.
In zwei Fallanalysen aus ihrer psychoanalytischen Praxis zeigt
Hettlage-Varjas in Auseinandersetzung mit kultur- und
identitätstheoretischen Fragestellungen, wie der Verlust von Heimat
und Identität zu einem krisenreichen Prozess neuer
Identitätsfindung führen kann, die keine Rückkehr zum Ursprung
erlaubt. Verschränken sich doch in innerer und äußerer Welt Heim-
und Fremdwelt, findet sich Eigenes im Fremden und Fremdes im
Eigenen. Eine bikulturelle Identität gibt es demnach nicht, nur die
jeweils einzigartig gestaltete individuelle Multikulturalität, eine
Art »Übergangsraum« (Winnicott), der neue Möglichkeiten, neue
kulturelle Erfahrungen eröffnet. Allerdings wird dies exemplarisch
an der Geschichte einer Klientin aus dem »Bildungsbürgertum«
entfaltet.
Zeul entwickelt auf Basis ihrer psychoanalytischen Arbeit mit
spanischen Arbeitsrückwanderinnen Ansätze zu einer Theorie
spezifisch weiblicher Migrationsverarbeitung. Sie zieht dabei aber
eine skeptischere Bilanz. Danach sind weibliche Fähigkeiten, die
Stärke und Flexibilität des weiblichen Über-Ichs von den sozialen
Verhältnissen abhängig und stellen sich unter den repressiven
Bedingungen der Migration durchaus in den Dienst von Unterdrückung
und Entmündigung.
Bei der Analyse eines Gesprächskreises ehemaliger deutscher
Widerstandskämpferinnen über den ausgebliebenen Widerstand gegen
Verfolgung und Ermordung der Juden kommt Keval freilich zu dem
Schluss, dass für die Frage einer möglichen geschlechtsspezifischen
Verarbeitung von Erfahrungen, wie sie etwa der Nationalsozialismus
mit sich brachte, noch weitere Theorieansätze in die Diskussion
einbezogen werden müssen.
Akashe-Böhme wählt die biografische Methode und macht deutlich,
dass für die Erfahrung des Exils, der Wurzeln zerstörenden
erzwungenen Migration ohne Rückkehroption, auch bei einer Politik,
die darauf zielt, Fremde fremd zu halten, letztlich doch ein
subjektiver Faktor entscheidend bleibt, nämlich das
Selbstverständnis in der jeweiligen Situation. Das aber dürfte wohl
nicht zuletzt von den bereits erworbenen sozialen und kulturellen
Ressourcen abhängen.
Zu vorsichtigen Hoffnungen veranlasst schließlich die Analyse der
Geschlechterbeziehungen im guatemaltekischen Friedensprozess.
Frauenorganisationen sind zu wichtigen Akteurinnen der
Zivilgesellschaft geworden. Um sich als Gegenkultur gegen die
überkommenen Machtstrukturen etablieren zu können, brauchen sie
jedoch eine Stärkung durch internationale Zusammenarbeit. Wieder
zeigt sich die Kraft der harten sozialen Realitäten.
Mit den »Grenzgängerinnen« haben sich die Autorinnen auf eine
spannende Suche begeben. Den Leserinnen sind damit Wege für eigene
reflektierte Erfahrungen gebahnt.