Rezension zu Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern bei NS-Prozessen (1964-1985)
neue politische literatur 3/2016
Rezension von Felicitas Söhner
Bundesweite Erinnerungskultur
Funkenberg, Merle: Zeugenbetreuung von Holocaust-Überlebenden und
Widerstands kämpfern bei NS-Prozessen (1964–1985)
»Die Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr
fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus« schrieb
Hannah Arendt an Karl Jaspers im Zusammenhang mit dem
Auschwitzprozess (vgl. S. 102). Als sich seinerzeit
Widerstandskämpfer und Holocaust-Überlebenden als Zeugen in die
BRD begaben, stand die Psychotraumatologie noch in ihren Anfängen.
Bevor diese Problematik von professioneller Seite aufgegriffen
wurde, begannen ehrenamtliche Helfer sich in der Zeugenbetreuung zu
engagieren. Im vorliegenden Buch untersucht Merle Funkenberg die
Betreuung von Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern, die
als Zeugen in NS-Prozessen vernommen wurden. Neben dem
zeitgeschichtlichen Hintergrund beleuchtet sie insbesondere die
Motivation der Helfenden, das emotionale Erleben der
Betreuungsarbeit und die psychische Verfassung der Zeugen in einem
von einer von Mitläuferpsychologie und Schlussstrichmentalität
geprägten Nachkriegsgesellschaft (S. 22). Damit richtet die
Autorin ihren Blick auf ein »bisher von der Forschung völlig
unbeachtete Feld« (S. 38).
Nach einem grundlegenden Teil zu Fragestellung, Forschungsstand,
Quellenlage und Methoden des qualitativen Forschungsprojekts
nähert sich die Verfasserin in einem Kapitel der Zeugenbetreuung
in ihrer Zeit, der »als Reflexionsrahmen für die darauffolgenden
Auswertungen des Archivmaterials und der narrativen Interviews
dienen soll« (S. 38). Dazu fokussiert sie auf den historischen
Kontext sowie die seinerzeit vorherrschende Lehrmeinung zu
Spätfolgen von Konzentrationslagerhaft, den Opferschutz und die
juristischen Grundprinzipien der Verfahren wegen
nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. In viergliedrigem
Vorgehen stellt sie die Betreuung der Zeugen in den größeren
Kontext der »Vergangenheitsbewältigung« und präsentiert damit
für die vorliegende Studie einen Referenzrahmen (S. 42). Die
kursorische Darstellung des Forschungsgegenstands orientiert sich
nach drei Aspekten: Der Gruppe der NS- Verfolgten, den Konjunkturen
der Prozesse gegen nationalsozialistische Verbrechen sowie das
Engagement von Initiativen und Einzelpersonen im
Erinnerungsprozess. Dabei richtet die Verfasserin ihr Interesse
darauf, inwiefern das politische und gesamtgesellschaftliche Klima
der 1950er bis frühen 1980er Jahre die juristische Aufarbeitung
beeinflusste und umgekehrt (S. 49).
Funkenberg schließt, dass in den Jahren der NS-Prozesse nicht nur
die »gesamtgesellschaftliche Verfasstheit eine andere als heute«
war, sondern auch »die Wahrnehmung der ehemals Verfolgten seitens
der Vertreter der klassischen Psychiatrie [...] sich stark von
aktuellen Einschätzungen« unterschied (S. 56). Beispielhaft führt
sie hier die Feststellung des österreichstämmigen Emigranten und
Psychoanalytiker Kurt Eissler einer »Einfühlungsverweigerung«
vieler Psychiater in die Leiden der Überlebenden der
Konzentrationslagerhaft an (S. 63). Vor diesem Hintergrund
betrachtet die Verfasserin den Opferschutz und die Spezifik der
NS-Verfahren (S. 74).
Im Kapitel zum institutionellen Rahmen der Betreuung wird zunächst
die Gründung der ersten Helferkreise in Frankfurt, dann die
Entstehung eines bundesdeutschen Netzwerks beleuchtet. Darüber
hinaus untersucht Funkenberg exemplarisch weitere Helferkreise,
insbesondere in Darmstadt, Bremen, Hamburg und Hagen. Dazu wertete
die Autorin Quellenmaterial zur formalen Organisation und zum
formalen Ablauf der Zeugenbetreuung aus. Das Ziel lag darin,
typische Abläufe, organisatorische Probleme sowie Lösungen, die
sich im Spannungsfeld der extremen psychischen und physischen
Belastungen, die sich aus dem juristischen Vorgehen im Rahmen der
Einhaltung einer korrekten Einhaltung der Strafprozessordnung
ergaben, darzustellen (S. 105). Wegen des eher informellen
Charakters der Helferkreise vermutet die Autorin, dass die
Betreuungsarbeit bundesweit weitaus in mehr Städten stattfand als
in den in den Quellen gezählten 22 Städten (S. 161).
Im Abschnitt zu emotionalen Aspekten von Zeugenschaft und Betreuung
stehen die geführten Zeitzeugengespräche im Mittelpunkt. Nach
einer kritischen Reflexion der Spezifik der Methode »Oral History«
geht die Autorin auf das konkrete Erhebungs- und
Auswertungsverfahren im Rahmen der vorliegenden Studie ein.
Anschließend folgen die Kurzbiografien der Interviewpartner.
Die eigentliche Interviewauswertung folgt nach inhaltlichen
Kategorien mit dem Ziel, einen Überblick zu vergleichbaren sowie
divergierenden Erfahrungen von Betreuern und Zeugen zu schaffen.
Die detailreiche Gesprächsanalyse zeichnet ein Bild einer äußerst
intensiven und nachhaltigen Initiative: »Was als ›Lotsenfunktion‹
in der fremden Großstadt begann, wurde vielfach zu einem äußerst
facettenreichen wie nachhaltigen Kontakt« (S. 302). Dieser habe
neben der praktischen auch auf persönlicher Ebene bestanden.
Als Teil der sich entwickelnden bundesdeutschen Erinnerungskultur
analysiert Funkenberg die Frage der öffentlichen Wahrnehmung der
Zeugenbetreuung insbesondere in den Massenmedien Presse, Rundfunk,
Fernsehen sowie öffentliche Auftritte von Opferzeugen im Rahmen
von »Zeitzeugenveranstaltungen«. Auch der Frage der Rezeption der
NS-Prozesse in den bundesdeutschen Medien geht die Autorin nach.
Abschließend betrachtet die Verfasserin die Weiterentwicklung und
Professionalisierung sowie die aktuelle Situation der
Opferzeugenbetreuung in der Bundesrepublik und im internationalen
Rahmen.
Der Autorin gelingt es anhand von Interviews, Briefen und Berichten
die Einzigartigkeit der Begegnungen von Zeugenbetreuern mit
Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpfern nachzuzeichnen und
einzuordnen. Sie zeigt auf, dass das Engagement der Betreuer sowohl
quantitativ als auch qualitativ in weitaus größerem Umfang
stattfand, als im Vorfeld angenommen (S. 337). Insbesondere die
Gespräche macht sie als zentralen Bestandteil der Betreuungsarbeit
jenseits der Prozesse aus: »Sie bildeten die Basis für die
erfolgreiche Umsetzung [...] [einer] Leitidee Zeugenbetreuung,
welche neben der Begleitung zum Gericht und dem Beistand bei
formalen Fragen primär auf die persönliche Begegnung abhob«
(ebd.). Funkenberg zeigt auf, dass die Betreuer Ängste, Probleme
und Hoffnungen der Überlebenden direkt erlebten und oft die
Funktion des ersten und wichtigsten Gesprächspartners einnahmen
(ebd.).
Zwar kann die vorliegende Untersuchung keinen Anspruch auf
Repräsentativität erheben, da es sich um eine qualitative
Erhebung handelt, doch traf die Autorin die Wahl ihrer historischen
und empirischen Quellen im Sinne einer theoretischen Sättigung.
Mit möglichen Schwachstellen aufgrund des Materials oder der
Methoden setzt sich die Verfasserin kritisch auseinander. Vielmehr
beweisen die äußerst dünne Quellenlage sowie ungünstige
Ausgangslage in der Recherche, dass Merle Funkenberg in diesem
Projekt wertvolle Pionierarbeit in Sachen Vergangenheitsbearbeitung
geleistet hat.
Mit ihrem interdisziplinären Ansatz bietet die vorliegende Arbeit
wertvolle Ansätze, Hintergründe und Informationen für eine
breite Leserschaft – nicht nur aus dem Bereich der
Rechtswissenschaft, Politologie, Geschichte oder Soziologie. Damit
schließt dieser Band eine Forschungslücke im Zusammenhang mit den
Prozessen gegen nationalsozialistische Gewaltverbrechen und leistet
einen wertvollen Beitrag sowohl zu einer bundesweiten
Erinnerungskultur als auch zum transnationalen Dialog mit den
Opfern.