Rezension zu Kritik der Neuropsychologie (PDF-E-Book)
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Rezension von Sven Lind
Hans Werbik, Gerhard Benetka: Kritik der Neuropsychologie
Thema
Die Psychologie als eine Wissenschaftsdisziplin hat es gegenwärtig
wahrlich nicht leicht sich als eigenständiges Fach zu behaupten.
Doch diese Existenzsorgen bestanden schon von Anfang an, ist doch
die Psychologie bedingt durch ihren Gegenstandsbereich genuin ein
Zwitterwesen ohne fest abgrenzbare Konturen, halb
Geisteswissenschaft halb Naturwissenschaft. Gefangen zwischen
Subjektivität (u. a. Introspektion) und Objektivität (Beobachtung,
Messung u. a.) vermag sie sich schwerlich der Dominanz von Medizin
und Biologie mit den damit verbundenen Vereinnahmungstendenzen zu
entziehen. In der vorliegenden Streitschrift setzen sich zwei
Psychologen mit diesen Umwälzungen äußerst kritisch
auseinander.
Autoren
Hans Werbik (Prof. Dr. phil.) ist emeritierter Professor für
Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg und Universitätslektor an der Sigmund-Freud
Privatuniversität in Wien. Gerhard Benetka (Prof. Dr. phil.)
arbeitet als Professor für Psychologie an der Sigmund-Freud
Privatuniversität in Wien.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zehn Kapitel aufgeteilt.
In Kapitel 1 (Zum Erkenntnisinteresse der Neurowissenschaften:
Seite 13-15) spannen die Autoren ein äußerst merkwürdiges und schon
polemisches Argumentationsgefüge mit den Polen Naturwissenschaften
als vorrangiges Herrschafts- und Profitorientierungswissen auf der
einen Seite und einer »Psychologie auf Basis einer Kultur des
mitmenschlichen Umgangs« (Seite 14) auf der anderen Seite.
Kapitel 2 (Der Traum vom objektiven Blick ins Erleben: Seite 17-20)
thematisiert das Problem der Objektivierung seelischer Prozesse u.
a. anhand der Kontroversen aus der Geschichte der Psychologie
vorwiegend des 19. Jahrhunderts.
In Kapitel 3 (Leib-Seele-Problem: Seite 21-29) beschäftigen sich
die Autoren schwerpunktmäßig mit philosophischen und
erkenntnistheoretischen Fragen der so genannten
Geist-Körper-Dualität mittels übersichtsartiger Beschreibung
verschiedener Sichtweisen und Schulen (u. a. dualistischer
Parallelismus, Epiphänomenalismus und Materialismus).
Kapitel 4 (Reduktionismus: Seite 31-42) befasst sich mit
verschiedenen Formen des genuin naturwissenschaftlichen
Erkenntnismodells des Reduktionismus, der letztlich als Ideal die
Entwicklung einer »Weltformel« oder einer »Theorie von Allem«
besitzt. Ein Anspruch, an dem u. a. schon Einstein und Heisenberg
mit ihren Bemühungen der Vereinigung der vier Kernkräfte des
physischen Seins gescheitert sind.
In Kapitel 5 (Zur Kritik der Forschungsmethoden in den
Neurowissenschaften: Seite 43-58) zeigen die Autoren recht konkret
auf, was von den neurowissenschaftlichen Erfassungsinstrumenten
EEG, funktionale Magnetresonanztomographie (MRT) und der
Läsionsforschung bezüglich der Ermittlung neuen Wissens gehalten
werden kann. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit eklatant
auseinander, wenn zum Beispiel bunte Bilder (MRT) keine
Erkenntnisse über die innere Logik des Gehirns generieren.
Kapitel 6 (Willensfreiheit: Seite 59-80) befasst sich mit der
Kontroverse über die so genannte Willensfreiheit, die vor über zehn
Jahren in Deutschland gleich einem Grabenkrieg zwischen Geistes-
und Naturwissenschaftlern sehr publikumswirksam in fast allen
Medien einschließlich der Feuilletons der Tageszeitungen geführt
wurde. Die Autoren schlagen in diesem geistigen Ringen um
Erkenntnis als »konsensfähige Position« vor, Willensfreiheit als
ein »soziales Konstrukt« aufzufassen.
Kapitel 7 (Psychologische Relevanz? Das Beispiel der Psychoanalyse:
Seite 81-87) beinhaltet die Darstellung der recht wenigen geistigen
Versuche, die Psychoanalyse mit den Neurowissenschaften in einem
theoretischen Gefüge kompatibel vereinigen zu wollen.
In Kapitel 8 (Zur gesellschaftlichen Funktion der
Neurowissenschaften: Seite 89-98) wird auf die Dominanz der
Neurowissenschaften in der Gesellschaft im Sinne einer
Leitwissenschaft hingewiesen. Zugleich wird von den Autoren
moniert, dass trotz hochtechnologischer Apparaturen mit
computergestützter Hard- und Software die Resultate, meist
Kernspinbilder, doch recht mager sind.
In Kapitel 9 (Ausblick: Seite 99-112) zeigen die Autoren ihre
Perspektive und zugleich Alternative zu den neurowissenschaftlichen
Vorgehensweisen auf: die Kulturpsychologie. Dieser Forschungszweig
besitzt eine andere Vorstellung von Empirie. Nicht das Abstrakte im
lebensfremden Laborkontext erfasste Wissen steht im Mittelpunkt,
sondern das »Vorfindliche« im alltäglichen Leben bildet den
Ausgangspunkt des Forschens.
Kapitel 10 (Ziele unserer Streitschrift: Seite 113-115) fasst die
wesentlichen Argumente und Beweggründe der Autoren nochmals
zusammen. Es wird befürchtet, dass die Psychologie als
Wissenschaftsdisziplin ihre Eigenständigkeit verliert. Sie wird
nach Einschätzung der Autoren zunehmend ein Teil biologischer
Forschungsrichtungen mit der Folge, vorrangig den
»Herrschaftsinteressen« dienen zu müssen und dadurch zugleich ihre
»emanzipatorischen Interessen« zu verlieren. Des Weiteren wird
unterstellt, dass die Neuropsychologie und verwandte
Forschungsrichtungen letztlich völlig ungeeignet seien,
»lebenspraktisch relevante Probleme« angemessen erforschen zu
können.
Diskussion
Der Untergang der Psychologie als eigenständiger Wissenszweig wird
konstatiert. Der Trend geht in Richtung objektiver
naturwissenschaftlicher Forschung unter zunehmenden Verzicht
geisteswissenschaftlicher Vorgehensweisen, die stärker subjektive
Erfassungsmodalitäten favorisieren.
Dass die naturwissenschaftliche Durchdringung psychischer und
seelischer Prozesse noch am Anfang steht und vielleicht auch nie
gelingen wird, weisen die Autoren anhand des berühmten »Manifestes«
der führenden Neurowissenschaftler aus dem Jahr 2004 und der mehr
als ernüchternden Bilanz zehn Jahre später nach. Die tiefe Kluft
zwischen neuronalen physischen Prozessen und der Sphäre des
Subjektiven, des Fühlens und Empfindens ist immer noch unverrückbar
trotz Hochtechnologie vorhanden.
Doch zugleich überschreiten die Autoren an mehreren Stellen die
Grenzen einer Streitschrift und gelangen in das Revier der Polemik
und der Schmähschrift, wenn sie zum Beispiel die
Neurowissenschaften als bloße Kontroll- und Herrschaftsinstrumente
diskreditieren. Und wenn dann auch noch das »Emanzipative« der
geisteswissenschaftlichen Wissensaneignung (»Kulturpsychologie« u.
a.) als alleiniger Zugang zum Seelischen propagiert wird, dann
gelangen die Autoren auf die Ebene simpler Schwarzweißmalerei mit
einem diesbezüglich unpassenden normativen Beigeschmack.
Fazit
Die vorliegende Streitschrift kann als Ausdruck des Ringens
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu Beginn des 21.
Jahrhunderts verstanden werden. Obwohl die Autoren aus der Sicht
des Rezensenten keine schlüssigen Argumente gegen eine
Inkorporation der Psychologie in die Biologie vorbringen können,
kann diese Arbeit Lesern mit den Interessenschwerpunkten
Wissenschaftsgeschichte und Neurowissenschaften zur Lektüre
empfohlen werden.
Rezensent
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
Homepage www.gerontologische-beratung-haan.de
Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 10.02.2017 zu: Hans Werbik, Gerhard
Benetka: Kritik der Neuropsychologie. Eine Streitschrift.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2563-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21542.php, Datum des Zugriffs
15.02.2017.
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