Rezension zu Emotionelle Erste Hilfe
www.socialnet.de
Rezension von Peter Bünder
Thomas Harms: Emotionelle Erste Hilfe
Thema
Das Buch beschreibt sehr detailliert, wie Eltern in schwierigen
Zeiten nach der Geburt, wenn ein liebevolles Miteinander sehr
erschwert ist, die emotionale Verbindung zu ihrem Kind
(wieder-)finden und erfolgreich stärken können.
Autor
Thomas Harms ist Diplom-Psychologe und leitet seit 1997 das Zentrum
für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie in Bremen.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Version aus dem Jahr
2008, in dem Thomas Harms erstmalig seine Arbeit im Feld der
Krisenintervention und bindungsbasierten Körperpsychotherapie mit
Säuglingen, Kindern und Erwachsenen vorstellte. Dabei richtet sich
das Werk nicht nur an Fachkräfte, sondern – mit Ausnahme von Teil
IV – gleichermaßen auch an betroffene Eltern.
Aufbau
Nach einem Vorwort zur Neuauflage, einem Geleitwort von Prof.
Annelie Keil und einem Vorwort gliedert sich das Buch in vier
inhaltliche Teile, bevor es mit Fazit, Dank, Anmerkungen und einem
Literaturverzeichnis abschließt:
1. Prolog: Anfänge, wissenschaftliche Einflüsse und
Phänomenologie
2. Grundlagen: Körper, Energie, Resonanz, Trauma und Bindung
3. Methoden der EEH: Atmung, Wahrnehmung, Berührung und Bindung,
Kraft innerer Bilder
4. Praxis der EEH: Drei Säulen, Rebonding, Trauma-Lösung,
Gespenster im Kinderzimmer, Arbeit mit dem Baby, Rolle des Helfers,
Einsatzbereiche
Den größten Raum nehmen die Teile III (Methoden) und IV (Praxis)
ein.
Inhalt
In Teil I des Werkes, dem Prolog, beschreibt der Autor in kurzer
Form die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Emotionellen
Ersten Hilfe (nachfolgend: EEH). Beginnend mit einer
»Schreiambulanz für Eltern« im Jahr 1993 in Berlin setzte er ab
1997 diese Arbeit in dem von ihm gegründeten Zentrum für Primäre
Prävention und Körperpsychotherapie in Bremen fort. Es folgen
Ausführungen zur zentralen Ausrichtung der Methode, die darin
besteht, Eltern zu unterstützen, die Nähe und Verbundenheit mit
ihrem Baby zu fördern, wiederfinden oder bewahren zu können. Die
Aussage, dass Bindung einen Körper, präzise ausgedrückt das
subjektive Erleben eines Körpers benötigt, fokussiert auf eine
besondere Art der Beratung von Eltern, die darin besteht. Im
Kontakt mit dem Baby mehr auf das eigene innere Erleben zu achten,
um die Bindungskräfte zu stärken. Es wird betont, dass die EEH
einen alternativen Umgang mit dem Schreien der Säuglinge
praktiziert. Es geht hier nicht vordringlich darum, das Schreien
des Babys abzustellen. Vielmehr steht im Zentrum der Arbeit, die
verlorene Sicherheit zurück zu gewinnen und über den eigenen
Stressabbau ein »sicherer Hafen« für ihr Kind zu werden. Es folgt
ein kurzer Rekurs zur Bedeutung der wissenschaftlichen Leistung von
Wilhelm Reich und seiner Tochter Eva Reich für die EEH (S. 30 ff.).
Neben dieser Körperpsychotherapie ist die Bindungstheorie nach
Bowlby und Ainsworth eine weitere Säule der Methode, gefolgt von
Forschungen zur pränatalen Psychologie (Chamberlain, Emerson u.a.)
sowie der modernen Gehirnforschung, speziell Hüther, Bauer und
Porges. Eine Phänomenologie der Schreibaby-Krisen und die
korrespondierende Krisensymptomatik der Eltern (S. 35 ff.)
schließen diesen Teil ab.
In Teil II, den Grundlagen, wird ausführlich die Bedeutung einer
sicheren Bindung für das Baby herausgearbeitet. Sehr detailliert
wird vorgestellt, welche Bedeutung das autonome oder vegetative
Nervensystem bei Säugling und Eltern hat. Ist die eigene
Regulationsmöglichkeit eingeschränkt oder gar blockiert bzw. die
Abstimmung zwischen Säugling und Eltern gestört, kommt es zu den
bekannten Belastungssymptomen. Im Zentrum stehen dann auf beiden
Seiten Stress, der – wird nicht erfolgreich dagegen gearbeitet –
eine deutliche Bindungsschwäche zur Folge haben kann. Die einzige
dem Baby zugängliche eigene »Stresslösung«, das exzessive Schreien,
vergrößert aber leider nur das Problem massiv, wenn keine
Entlastung realisiert werden kann. Anhand von Fallbeispielen (S.
87, 118, 123, 129, 131, 138, 151, 162) werden exemplarisch konkrete
Belastungssituationen dargestellt.
Teil III fokussiert ab S. 96 auf das praktische Tun im Rahmen der
EEH. Bezugnehmend auf den Ergebnissen der Bindungsforschung wird
vorgestellt, welche Bedeutung der Atmung zukommt, wie die
Körperwahrnehmung verbessert und durch Körperberührung die
Bindungskräfte gestärkt werden. Speziell die Kraft von inneren
Bildern, d.h. eine unterstützende innere Visualisierung, kann die
unsicheren Eltern unterstützen, um den täglichen Stress zu
minimieren.
Teil IV schließlich – der sich besonders an Fachkräfte wendet –
erläutert ausführlich die drei Säulen der EEH, nämlich die
Bindungsförderung, die Krisenintervention und (sofern erforderlich)
die Eltern-Baby-Therapie. Das konkrete praktische Vorgehen wird
anhand eines Sieben-Schritte-Modell vorgestellt (S. 177 ff.).
Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem kurzen Überblick über die
im Laufe der Zeit entwickelten anderen Einsatzgebiete wie während
der Schwangerschaft, bei Stillförderung oder bei Kleinkindern.
Diskussion
Das vorliegende Buch kann als ein wertvoller Beitrag zur
Unterstützung von stress- und kummerbeladenen Eltern von Säuglingen
bzw. als Handreichung für erfahrene Fachkräfte in entsprechenden
Unterstützungseinrichtungen gesehen werden. Über die Lektüre erhält
man einen umfangreichen Einblick in die physiologischen
Voraussetzungen von Bindung, deren Belastung oder gar Verlust sowie
seinem Ausdruck durch Weinen/Schreien beim Baby und den dazu
gehörenden Emotionen wie Verzweiflung, Wut und Ohnmacht. Es gelingt
Harms sehr gut, seine zentrale Idee der EEH, die Unterstützung und
Bewahrung der emotionalen Bindung zwischen Eltern und Säugling von
Beginn an, theoretisch und praktisch darzustellen.
Die Kernthese, dass ein feinfühliger und liebevoller Dialog der
Erwachsenen mit ihrem Baby nur auf der Basis eines entspannten
Körpers gelingen kann, wird an vielen Praxisbeispielen eindrücklich
vorgestellt. Es wird im Verlauf der Lektüre deutlich, dass EEH
nicht als nur eine technisch anwendbare und übertragbare Methode
entwickelt wurde. Vielmehr gilt wohl, sie als eine Wegweisung zu
den Grundlagen einer gelungenen zwischenmenschlichen Kommunikation
zu sehen. Durch die konkrete Unterstützung der EEH können belastete
Eltern lernen, die Signale ihres eigenen Körpers zu nutzen, um
problematische Kreisläufe aus Angsterleben, Stress und Verlust der
Nähe zum Kind frühzeitig zu unterbrechen. Das (erlernte) Spüren
einer Enge in der Brust wird beispielsweise für eine Mutter mit dem
exzessiven Schreibaby zum körperlichen Frühwarnsignal, welches sie
frühzeitig darauf hinweist, dass der Stress übermäßig zunimmt und
sie ihren emotionalen Draht zum Kind zu verlieren droht.
Fazit
Dieses Buch kann metaphorisch durchaus als eine Art Schatzkiste für
Fachkräfte aus den Bereichen der Emotionellen Ersten Hilfen
bezeichnet werden. Sie finden hier eine gelungene Verbindung von
theoretischer Begründung und darauf aufbauend konkreter Umsetzung
in die Praxis. Speziell belastete Eltern mit einem anstrengenden
Säugling könnten sehr davon profitieren, wenn ihnen dieses Buch zur
Unterstützung in einer schwierigen Zeit anempfohlen würde. Alle
anderen interessierten Menschen finden hier eine lesenswerte und
vor allem verständliche Darstellung über die Grundlagen von Bindung
und die Einbeziehung des Körpers als Voraussetzung für eine
gelungene Beziehung zwischen Eltern und ihrem Baby. Es ist zu
wünschen, dass alle öffentlichen Bibliotheken, speziell
Fachhochschul- und Universitätsbibliotheken, dieses Buch anbieten
können.
Summary
This book can be metaphorically described as a kind of treasure
chest for specialists from the fields of the “emotional first aid“.
Here you will find a successful combination of theoretical
justification and a concrete implementation into practice.
Specially burdened parents with an exhausting infant could benefit
greatly if this book were recommended to them in support of a
difficult time. All other interested people find here a readable
and, above all, comprehensible account of the fundamentals of
attachment and the inclusion of the body as a prerequisite for a
successful relationship between parents and their baby. It is to be
hoped that all public libraries, especially universities of applied
sciences and universities, will be able to offer this book.
Rezensent
Prof. i.R. Dr. Peter Bünder
Vormals Hochschule - University of Applied Sciences - Düsseldorf,
Lehrgebiet Erziehungswissenschaft am Fachbereich Sozial- und
Kulturwissenschaften
Zitiervorschlag
Peter Bünder. Rezension vom 24.02.2017 zu: Thomas Harms:
Emotionelle Erste Hilfe. Bindungsförderung – Krisenintervention –
Eltern-Baby-Therapie. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN
978-3-8379-2615-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21189.php, Datum des Zugriffs
24.02.2017.
www.socialnet.de