Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
fachbuchjournal 1/2017
Rezension von Dieter Schmidmaier
Edith Jacobson (1897–1978) entstammt einer jüdischen Ärztefamilie,
studiert Medizin, legt in München 1922 das Staatsexamen ab, wird
ein Jahr später in Heidelberg promoviert. Fortan beschäftigt sie
sich mit Psychoanalyse u.a. im Berliner Psychoanalytischen Institut
bei Otto Fenichel. 1930 wird sie Mitglied der Deutschen
Psychoanalytischen Gesellschaft. 1933 entscheidet sie sich gegen
eine Emigration und wird Mitglied der marxistischen
Widerstandsorganisation »Neu Beginnen«. 1935 wird sie verhaftet und
nach elf Monaten Untersuchungshaft zu über zwei Jahren Gefängnis
verurteilt. Dort verfasst sie Aufzeichnungen über ihre
Lebenssituation, Gedichte und eine psychoanalytische Studie, die
später auch veröffentlicht wird. Sie erkrankt in der Haft, von
einem Krankenhaus gelingt ihr die Flucht über die Tschechoslowakei
in die USA, wo sie bis zu ihrem Tode bleibt und eine der
renommierten Psychoanalytikerinnen wird. 1941 wird sie Mitglied der
New York Psychoanalytical Society and Institute und von 1954 bis
1956 deren Präsidentin. Sie gilt heute als führende Theoretikerin
und Klinikerin der nachfreudianischen US-amerikanischen
Psychoanalyse, mehrere ihrer Bücher zählen heute zu den Klassikern
der Psychoanalyse. In Deutschland gerät sie in Vergessenheit, erst
nach 1970 erscheinen ihre Werke auch in deutscher Sprache. 2005
wird eine Gedenktafel an ihrem Wohnhaus in der Emser Straße in
Berlin angebracht.
Die o.g. Aufzeichnungen entdeckt Judith Kessler im Nachlass ihrer
Mutter und gibt sie 80 Jahre nach Niederschrift komplett als
Abschrift und Faksimile unter dem Titel »Gefängnisaufzeichnungen«
heraus. Sie werden von den Herausgebern eingeleitet durch Essays
zur Geschichte der Gefängnisnotizen und zu Leben und Werk von Edith
Jacobson.
Da finden sich sehr schöne Gedichte, d.s. verschiedene
Erinnerungen, Naturbeobachtungen und Metaphern, zwischen diesen in
der Heftmitte vier Seiten Selbstbeschreibungen »Einige
Betrachtungen über physische und psychische Hafteinwirkung« mit dem
Fazit: »Depersonalitätserscheinungen: Unwirklichkeitsgefühle;
unmöglich, daß man das hier ist, traumartiges Empfinden!« (S. 110),
abschließend eine Arbeitsskizze »Zur Technik der Analyse
Paranoider«.
Eine interessante Ergänzung zur Geschichte der Psychoanalyse und
des Widerstandskampfes gegen den Nationalsozialismus.