Rezension zu Innere und äußere Grenzen (PDF-E-Book)
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Rezension von Hermann Staats
Bernd Ahrbeck, Günther Bittner u.a. (Hrsg.): Innere und äußere
Grenzen
Thema
Auseinandersetzungen an und mit Grenzen spielen in der
pädagogischen Arbeit eine wichtige Rolle. Rufe nach Grenzen sind
Titel von Büchern geworden und Überschriften von
Handlungsempfehlungen – nicht nur in der Pädagogik, auch in Politik
und Gesellschaft. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden
Bandes befassen sich mit dem spannungsreichen Wechselverhältnis von
Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen. Sie schreiben aus
theoretischer Perspektive und aus eigenen Erfahrungen zur
Begründung und Behandlung von Grenzen. Beispiele gelingenden
Arbeitens an inneren und äußeren Grenzsetzungen werden vorgestellt.
Dabei berühren die Autorinnen und Autoren alltägliche
sozialpädagogische Herausforderungen ebenso wie spezifische
Erfahrungen mit Grenzen, z. B. bei der Arbeit mit Migrantinnen und
Migranten, mit traumatisierten und gewalttätigen Kindern und mit
freiheitsentziehenden Settings.
Autorinnen und Autoren
Die Herausgeber aus der Redaktion des »Jahrbuchs« haben für das
Schwerpunktthema dieses Buches mit Günther Bittner, Annelinde
Eggert-Schmid Noerr, Manfred Gerspach, Evelyn Heinemann, Sabrina
Hoops, Peter Kastner, Heinz Krebs, Peter Möhring, Hanna Permien,
Mathias Schwabe und Brigitte Vogl eine Mischung von theoretisch
versierten und ausgewiesenen und von praktisch tätigen Autorinnen
und Autoren gewonnen – weiteres dazu unter Inhalt.
Aufbau
Einem einführenden Beitrag und einem Nachruf auf Heinz Krebs,
Mitglied der Redaktion und langjähriger zweiter Vorsitzender des
Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik und
einem Editorial folgen neun einzelne Beiträge zum Schwerpunktthema,
die teils dialogisch aufeinander bezogen sind. Ein freier Beitrag,
vier Rezensionen, abstracts und Angaben zu den Autorinnen und
Autoren schließen den Band.
Ausgewählte Inhalte
Diese Rezension konzentriert sich auf das Schwerpunktthema der
»Inneren und äußeren Grenzen«, das etwa 2/3 des Bandes umfasst.
Ein einführendes Editorial der Jahrbuchsredaktion benennt die im
Buch verfolgten Fragestellungen. Die Herausgeber beschreiben, dass
es selbstverständlich sei, »in der Erziehung bestimmte Grenzen zu
setzen und einzufordern« und benennen als »ebenso
selbstverständlich…, dass sie (diese Grenzen, H. S.) im Alltag
unterlaufen, verletzt und missachtet werden. Ihre Überschreitung
kann einerseits befreiend und entwicklungsfördernd sein,
andererseits aber auch mit fatalen Folgen einhergehen. Um den
anhaltenden Kampf gegen sinnvoll gegebene äußere Grenzen zu
verhindern, müssen Kinder und Jugendliche psychische Strukturen als
verlässliche innere Grenzen entwickeln« (S.9). Der Fokus des Buches
liegt so auf dem Umgehen mit Grenzen in der pädagogischen Praxis.
Das Editorial weckt auch Neugier auf die folgenden Praxisbeispiele
– wie und wo an verschiedenen Orten interessant gearbeitet
wird.
Dem Nachruf auf Heinz Krebs (von Annelinde Eggert-Schmid Noerr)
folgen die neun Arbeiten zum Themenschwerpunkt.
Günther Bittner beginnt mit einem Aufsatz zu einer Pressemeldung
über eine missglückte »Erziehungsmaßnahme«: »Drama um ein Kaugummi.
Über äußere, verinnerlichte und wirklich innere Grenzen«. Bittners
Sympathie mit dem Überschreiten von Grenzen – und mit den Kindern
und Jugendlichen, die das tun – ist deutlich. Er generalisiert in
einem persönlich gehaltenen Fazit (S. 31): »Die Rede von Grenzen
scheint mir eine ins Räumlich-Territoriale hinein verfremdete
Verbotsmoral zu implizieren…Eine solche Moral sollte durch
Ungehorsam gegen ihre Ge- und Verbote permanent auf den Prüfstand
gestellt werden.«
Mathias Schwabe antwortet Bittner, entwickelt aus dem Kommentar
aber einen ganz anderen Gedankengang: »Auf dem ›Bösen‹ kann man
nicht lange genug ›herumkauen‹! Gedanken zum Text von Günther
Bittner«. Schwabe vermittelt mit einer Art allparteilichem
Wohlwollen, wie an Grenzen Macht und Ohnmacht, aber auch
Verständigung und das Erleben interpersoneller Wirksamkeit deutlich
werden. Er geht dabei auch auf die häufig zu beobachtenden
Identifizierungsprozesse »mit und gegen Regeln und Regelbrecher«
ein. In einer neuen Interpretation der von Bittner beschriebenen
Pressemeldung gelingt es ihm, die verschiedenen handlungsleitenden
Konflikte zu benennen und aushaltbar zu machen: »Es geht nicht um
ein ›Entweder-Oder‹ sondern um ein ›Sowohl-als-Auch‹« (S. 44), zu
dem notwendigerweise die Auseinandersetzung mit dem eigenen »Bösen«
gehöre. Schwabe zitiert Otto Rank »je mehr ein Therapeut oder
Lehrer er selbst ist, d.h. seine eigenen Begrenzungen akzeptiert
hat und in ihnen bleibt, desto effektiver wird er seinen Klienten
oder Schüler befähigen, die Begrenzungen in sich zu akzeptieren,
statt sie zu projizieren und außerhalb seiner zu bekämpfen«. Hier
werden implizit Grenzen auch als Begegnungsorte beschreiben.
Michael Winkler plädiert unter dem Titel »Verhärtete Subjektivität.
Über die Grenzen pädagogisch gemeinter Grenzsetzung« aus einer
weiteren, dritten Perspektive. Er bezieht gesellschaftliche
Entwicklungen ein und beschreibt als deren Folge eine
»eigentümliche Tendenz zur Virtualität« von Geschehnissen (S. 62).
Rezepte gegen diese seltsame Irrealität der Wirklichkeit gäbe es
nicht. »Sich an Grenzen zu stoßen, bringt einem nichts bei« (S.
68), auch die Wirksamkeit persönlicher Beziehungen sei fraglich. Es
bliebe, sich als Pädagoge auf Unerwartetes und Unsicheres offen
einzulassen: »Die menschliche Wahrheit muss erspürt werden« (S.
71).
Peter Möhring fasst unter dem Titel »Sozialisation und Gewalt. Von
der Übertretung zum Verbrechen« entwicklungspsychologische
Überlegungen zur Entstehung von Gewalt zusammen und leitet dann an
Fallbeispielen allgemeine Aussagen zum Umgehen mit Grenzen ab. Er
macht deutlich, wie Grenzen Raum schaffen für »übergeordnete
Kategorien wie Verantwortlichkeit, Gegenseitigkeit, Abwägung von
Rechten und Ansprüchen anderer gegen die eigenen« (S. 80).
Psychisches und Soziales »greifen ineinander«.
Annelinde Eggert-Schmid Noerr und Heinz Krebs führen Überlegungen
von Möhring und Schwabe Sterns Konzept des »Begegnungsmoments«
verbinden. Unter dem Titel »Psychoanalytische Pädagogik – Handwerk
oder Kunst? Praxisbezogene Überlegungen am Beispiel des Umgangs mit
Dissozialität« beschreiben sie Psychoanalytische Pädagogik als ein
»Kunsthandwerk« (S. 103). Es sind die jetzt folgenden Kapitel, die
diesen Anspruch in verschiedenen Praxisfeldern deutlich zeigen.
Evelyn Heinemann beschreibt »Psychoanalytische Aspekte der Gewalt
bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund« anhand ihrer Arbeit im
Gefängnis: »Die Grenzziehung durch die JVA bietet eine wichtige
Voraussetzung für Prozesse der Mentalisierung.« (S. 108).
Sabrina Hoops und Hanna Permien beschreiben ihre Arbeit mit
»Freiheitsentziehende(n) Maßnahmen in der Jugendhilfe. Hilfe für
Jugendliche in Grenzsituationen?«. Auch hier bewerten Jugendliche
die harten Grenzsetzungen des Settings überwiegend (85%) als
positiv.
Brigitte Vogl stellt ihre ebenfalls in einem Setting mit
Freiheitsentzug stattfindende Arbeit in einer
»Intensivtherapeutische(n) Gruppe für Mädchen mit einer
Traumafolgestörung« vor und bindet dabei traumatherapeutische und
neurobiologische Konzepte ein.
Peter Kastner beschließt das Schwerpunktthema mit Überlegungen zum
Thema »Grenzfälle – einige grundlegende Anmerkungen zur Erziehung«.
Fragen zur Gleichheit, zur Globalisierung und Digitalisierung sowie
zum »unbewussten Bewusstsein« werden unter dem Gesichtspunkt der
Gruppenbildung und ihrer Gefahren für die Stabilität ordnender
Strukturen beschrieben. Kastner beschreibt Gefahren von
Gruppenbildungen und Gruppenprozessen – besonders in digitalen
Medien – und betont die Notwendigkeit, das »fremde Andere in uns
selbst« anzuerkennen. Unter Bezug auf Freud formuliert er als
Erziehungsmaxime: »Wo Es wirkt, kann Ich sein« (S. 160).
Ein nicht mehr zum Schwerpunkthema gehörender Beitrag von Manfred
Gerspach »Aloys Leber als akademischer Lehrer und Neubegründer der
Psychoanalytischen Pädagogik – zu Leben und Werk« und vier
ausführliche Rezensionen folgen.
Diskussion
Die ersten Beiträge des Bandes behandeln innere und äußere Grenzen
kontrovers und aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie spannen das
Thema breit auf. Es finden sich vielfältige und interessante
historische Bezüge, etwa zur Pädagogik von Makarenko, Lewin oder
Bettelheim. Gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Einflüsse auf
die Bildung seelischer Strukturen werden thematisiert, auf aktuelle
politische Diskussionen um Grenzen wird aber nicht eingegangen.
Wenig vertreten sind auch die beim Umgehen mit Grenzen
naheliegenden Bereiche der Exklusion des Fremden, der Exklusion von
Gewalt oder die Konzeptualisierung von Grenzen als
Begegnungsmöglichkeiten. Entwicklungspsychologische Konzepte werden
an einigen Stellen aufgegriffen. Sie könnten beim Thema der
psychischen Strukturbildung stärker vertreten sein – z. B. mit der
entwicklungsfördernden Bedeutung von Grenzsetzungen in Beziehungen
(etwa im Sinne interpersoneller Begegnungen, dem Erleben des
»Anderen« oder der eigenen Wirksamkeit und Unwirksamkeit als
strukturbildende Erfahrungen). Der Beitrag von Matthias Schwabe
macht hier eine Ausnahme und lässt die konkrete Art der
Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit Grenzsetzungen erkennbar
werden.
Die Praxis des Arbeitens mit sehr deutlichen Grenzsetzungen wird in
den auf die ersten Kapitel folgenden Beiträgen oft anders als in
den theoretischen Beiträgen gesehen. Dies ist ein interessanter
Befund. Eindrucksvoll beschreiben die Autorinnen und Autoren dieser
Beiträge eine hilfreiche Rolle von Grenzen in der konkreten Arbeit
mit Jugendlichen, die Grenzen nicht einhalten können oder Grenzen
verletzen.
Fazit
Leserinnen und Leser erhalten mit diesem Band vielfältige Einblicke
in die sozialpädagogische Arbeit mit inneren und äußeren Grenzen.
Die ersten, auch theoretisch anspruchsvollen Beiträge beziehen
gesellschaftliche Entwicklungen, konkrete Anwendungen in der Praxis
und persönliche Reflexionen der Autorinnen und Autoren ein.
Unterschiedliche Haltungen zu »Grenzsetzungen« und die mit ihnen
verbundenen Denkweisen werden so deutlich erkennbar. Diese Beiträge
enthalten auch historisch informative Aspekte. Sie sind mit ihren
kontroversen Positionen teilweise anschaulich aufeinander bezogen.
Es folgen Kapitel, die pädagogisches Arbeiten in Settings mit
freiheitsentziehenden Maßnahmen beschreiben. Hier wird
Strukturbildung an Beispielen aus der Arbeit mit grenzverletzenden
Jugendlichen eindrucksvoll dargestellt.
Vergleichsweise wenig thematisiert wird in dem Buch die Bedeutung
von Grenzen in interpersonellen Beziehungen. Aus
entwicklungspsychologischer Sicht entsteht hier, am differenzierten
Erleben der eigenen Wirksamkeit in interpersonellen Beziehungen,
psychische Struktur. Diese in Therapien konkret erfahrbare
Beziehungsperspektive tritt gegenüber allgemeineren Aspekten
pädagogischen Handelns in vielen Beiträgen zurück. An der
Psychoanalyse interessierte Pädagogen und an der Pädagogik
interessierte Psychoanalytiker werden Aspekte finden, die sie auf
ihr eigenes Arbeiten übertragen können. Interessierte mit noch
wenig praktischem Erfahrungswissen können mit Gewinn die auch
persönlich gehaltenen Positionen der unterschiedlichen Autorinnen
und Autoren und ihre Begründungen nachvollziehen.
Rezensent
Prof. Dr. Hermann Staats
FH Potsdam, Sigmund-Freud Professur für psychoanalytisch
orientierte Entwicklungspsychologie
Zitiervorschlag
Hermann Staats. Rezension vom 20.01.2017 zu: Bernd Ahrbeck, Günther
Bittner, Margret Dörr, Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Rolf Göppel
(Hrsg.): Innere und äußere Grenzen. Psychische Strukturbildung als
pädagogische Aufgabe. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 24.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2576-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21540.php, Datum des Zugriffs
30.01.2017.
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