Rezension zu Heinrich Schütz (PDF-E-Book)

Musik und Kirche November/Dezember 2006

Rezension von Wolf Kalipp

Gar nicht so eisgrau, der Sagittarius

Transpersonale Kräfte fließen dem schöpferischen Menschen aus dem Raum jenseits seines Bewusstseins zu. Das wussten schon Komponisten wie Johannes Brahms, der von einer »allmächtigen, alles durchdringenden Kraft« sprach, das akzentuierten Musikwissenschaftler wie Joachim Blume, der Heinrich Schütz 1974 als »Sendboten aus einer anderen Welt« bezeichnete.

Um diese tiefenpsychologische Dimension aus naturwissenschaftlicher wie aus musikästhetischer Sicht deutlicher in den Griff zu bekommen, erstellt der als Diplompsychologe und Privatdozent in Münster und Kassel tätige Verfasser zunächst eine umfangreiche epochale Aufschlüsselung des Phänomens Schütz unter der Überschrift »Die unbewusste Sinnebene in der Musik der Renaissance und des Barock«. Oberhoff leitet seine Erkenntnisse nicht nur aus wissenschaftlicher Schreibtischanalyse, sondern auch aus eigener langjähriger Praxis als Kammerchorleiter ab. Er geht vom Leitgedanken aus, dass wir das Unbewusste in der Musik nur erschließen können, wenn wir eine Analyse subjektiven Empfindens vornehmen, das sich an verschiedenen Parametern orientiert. Selbstverständlich orientiert er sich an den großen Tiefenpsychologen des 20. Jahrhunderts, Freud Lind Jung. So zieht der Autor uns beispielsweise hinein in die »Rekonstruktion des mütterlichen Klangsprechens im Madrigal« und erschließt die dem Affektgebaren eigentümlichen Charakteristika von Renaissance und Frühbarock aus den Verdrängungssymptomen nicht zugelassener Kindlichkeit, so an den Italienischen Madrigalen, dem Opus 1 von Schütz schon gleich erkennbar. Verdrängte Libido als nicht zugelassene, ausgelebte Liebe zur Mutter wird hier in einen größeren Zusammenhang des, wie der Autor weiß, »verschmelzenden mütterlichen Klangsprechen[sJ zum affektiven Ausdruck des individuellen Selbst« gebracht. Probleme des sich im »Überselbst« darstellenden ausgeweiteten Raumempfindens am Beispiel von Doppelchörigkeit und Dialogprinzip als Zeitcharakteristika führen dann in einen Entwicklungszusammenhang zunächst mit dem idealisierten Vaterbild bei Schütz, das den Weg für den Komponisten zur vollen Individuation seiner Persönlichkeit bahnt, und im weiteren in einer dem Sagittarius zugeschriebenen »erotischen Beziehung zum himmlischen Vater«.

Das alles wird an verschiedenen Werkkomplexen in Text- und Notenanalyse festgemacht und lebendig diskutiert. Neugierig werden Liebhaber von Musik des 17. Jahrhundert auch Oberhoffs Hypothesen zur Homoerotik in Schütz Musik machen. Zeittypisches Kunstideal in toto und erotisch-libidinöse Sinneswelt sui generis des gar nicht so eisgrauen Vaters der deutschen Musik durchdringen sich in freizügiger, wiewohl immer beherrschter Weise und lassen Schütz als voll entwickelten Menschen der Neuzeit (und nicht nur als Verkünder einer protestantisch-abgeklärten Mäßigungshaltung) erahnen.

Eine empfehlenswerte Lektüre zum Nachdenken über neue Ansätze von klassischer Kunst- und Kulturbetrachtung und zum »Enttarnen« eines evangelischen Säulenheiligen, dessen Leben und Werk dadurch an biographisch-zwischenmenschlichen Werten gewinnen.

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