Rezension zu Sucht
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Rezension von Hans Durrer
Mittwoch, 25. Januar 2017
Sucht und psychoanalytische Therapie
Nichts, was nicht zur Sucht werden könnte, lautet die heutzutage
gängige Auffassung. Der Autor, Therapeut und Analytiker Roland
Voigtel sieht das dezidiert anders. »Entgegen diesem ›weiten‹
Suchtbegriff muss festgehalten werden, dass Sucht eine spezifische
Krankheit mit angebbaren Ursachen ist und nicht einfach jeder
befallen werden kann.«
Dass nicht jeder süchtig werden kann, das sehe ich auch so. Was
jedoch die angebbaren Ursachen angeht, da bin ich mehr als
skeptisch. Bislang, so jedenfalls mein Wissensstand, war man bei
der Frage, warum etwa jemand zum Trinker wird, auf Mutmaßungen und
Interpretationen angewiesen.
Roland Voigtel versteht die Sucht als Abwehrsystem. Sie sei
grundsätzlich »eine konstitutive Funktion der gesunden, arbeitenden
Psyche und nichts ›Krankes‹, sodass es durchaus angemessen wäre,
von einer ›Schutz‹ oder psychischen ›Immunfunktion‹ zu sprechen«,
wie er in seinem Buch Sucht schreibt.
In einem der Beispiele, die er anführt, schildert er den Fall einer
jungen Frau mit Borderline Persönlichkeitsstörung, bei der er
aufzeigt, dass »die Sucht als Abwehr ebenso der Stabilisierung
dient wie das Abwehren per Agieren, per gewaltsamer Übertragung
(›projektive Identifizierung‹) und per Selbstverletzung.« Mit
anderen Worten: Alkohol und Drogen können helfen eine
Initialverstimmung (im Falle von Borderline: Panikgefühle, Wut- und
Hassanfälle etc. in den Griff zu kriegen) zu verdrängen, zu
neutralisieren, zu stabilisieren.
Ich teile diese Einschätzung, obwohl sie fast wie ein Plädoyer für
den Suchtmittelgebrauch klingt. Die Sucht als gleichsam heilende
Kraft? Sicher, konstruktive Süchte, die gibt es: es sind die, die
einen nicht nur am Leben halten, sondern ihm darüber hinaus Sinn
und Zweck geben können.
Roland Voigtels »Sucht« ist ein ziemlich akademisches Buch in dem
Sinne, dass ganz viele Unterscheidungen vorgenommen werden, um
Begriffe gerungen wird und viele Kollegen zu Wort kommen.
Andererseits ist es auch ein erfrischend persönliches Buch, denn
der Autor referiert zahlreiche Beispiele aus seiner Praxis und
bringt dabei auch seine eigene Rolle mit ein. So schildert er etwa
freimütig, dass einer seiner Patienten zweimal alkoholisiert zur
Sitzung kam. Ich wunderte mich, dass er die Sitzung nicht sofort
abgebrochen hat, zumal er doch an anderer Stelle selber schreibt:
»Daher ist meine Bedingung, wenn ich mich auf einen Patienten
einlassen soll, dass er nüchtern zu den Sitzungen erscheint.«
Die süchtige Persönlichkeit werde von der Notwendigkeit getrieben,
»ihren psychischen Selbst-Kern abwehrend zu stabilisieren«,
behauptet Voigtel. Schon möglich und durchaus plausibel, nur: Wo
ist die Evidenz für solch einen psychischen Selbst-Kern?
Auch unter Psychoanalytikern herrscht keine Einigkeit darüber, was
genau unter Sucht zu verstehen ist. So unterscheidet etwa
Wolf-Detlef Rost die Sucht vom Suchtsymptom. »Er trennt also das
Suchtsymptom von der eigentlichen Sucht, die angeblich auch ohne
Symptom existieren kann und dann eine eher unspezifische
Persönlichkeitsstörung ist«, kommentiert Voigtel, der dagegen hält,
dass aus der klinischen Erfahrung Fälle bekannt sind, »in denen die
Suchtproblematik die ganze Persönlichkeit beherrscht.« Nun ja, wer
nicht auf Entweder/Oder-Kategorien fixiert ist, wird wohl beide
Ausprägungen unter Sucht subsumieren.
Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die süchtige Abwehr (wie
andere Abwehren auch, zum Beispiel soziale Rückzüge oder
aggressives Einwirken auf Objekte), an der Heranbildung einer
psychischen Struktur mitgewirkt hat und »nicht grundsätzlich
geändert werden kann, ohne die Identität des Menschen zu
zerstören.«
»Daher geht es bei der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen
Therapie der Sucht, sei es als Symptom oder als umfassende
strukturelle Störung, ›lediglich‹ darum, dem Süchtigen dabei zu
helfen, seine psychische Struktur zu verstehen (was nicht leicht
ist), zu akzeptieren und so mit ihr umzugehen, dass er ein
erträgliches und subjektiv sinnvolles Leben ohne Selbsthass und
Selbstzerstörung mit ihr führen kann.«
Den Nachweis, dass Sucht eine spezifische Krankheit mit angebbaren
Ursachen ist, erbringt Roland Voigtel meines Erachtens nicht.
Stattdessen stellt er Mutmaßungen an innerhalb des
psychoanalytischen Glaubens- und Denksystems, durchaus kritisch und
auch selbstkritisch. Und da er differenziert, interessant und
anregend mutmaßt, habe ich Sucht mit Gewinn gelesen.
Hans Durrer
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