Rezension zu Der Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790-1866)
www.socialnet.de
Rezension von Sebastian Engelmann
Thema
Adolph Diesterweg gehört zu den oft aufgerufenen Persönlichkeiten
der Geschichte der Pädagogik. Neben Friedrich Wilhelm Dörpfeld wird
er von Tenorth zu den sog. »Schulmännern« gezählt, Praktikern, die
sich im langen 19. Jahrhundert mit Pädagogik, Staatlichkeit und
Religion auseinandergesetzt haben und die Diskussion maßgeblich
mitbestimmten.
Um Diesterweg ist es nie still geworden, allerdings – wie von
Herausgeber Horst F. Rupp in seinem Vorwort skizziert – ist die
Auseinandersetzung weiterhin fruchtbar. Das Buch von Lotte Köhler
unternimmt nun den Versuch, eine biografische Skizze mit bis
hierhin noch nicht erbrachten psychoanalytischen Akzentsetzungen
anzufertigen. Eine Analyse der Biografie steht also im Mittelpunkt
des Werkes. »Ganz nebenbei« wird aber auch ein Abriss der
Lebensgeschichte Diesterwegs geleistet.
Autorin und Entstehungshintergrund
Dr. med. Lotte Köhler ist Psychoanalytikerin im Ruhestand und eine
Verwandte von Diesterweg. Sie wird als die Ur-Urenkelin Diesterwegs
vorgestellt. Der Klappentext bezeichnet sie als eine der frühen
Vertreterinnen der Selbstpsychologie des aus Österreich stammenden
und in den USA forschenden Heinz Kohut und zudem als bekannt für
ihre Arbeiten zur Bindungstheorie, welche auch heute aufgrund ihrer
Zugänglichkeit enorme Resonanz erfährt. Die nunmehr 90-jährige Dr.
Lotte Köhler schildert in ihrem Vorwort, dass dieser Text ohne die
Unterstützung von Horst F. Rupp wohl nicht publiziert worden wäre;
ohne diesen wäre der psychoanalytische Beitrag zur
Diesterwegforschung wohl nicht möglich gewesen.
Aufbau
Dem Vorwort des Herausgebers und der Autorin folgen die
Vorüberlegungen.
Im Anschluss daran wird der Lebenslauf Adolph Diesterwegs
bearbeitet. Die Binnengliederung hierbei lässt ersichtlich werden,
dass Familie, Jugend und Elternhaus thematisiert werden, gefolgt
von ersten Überlegungen zur Psychodynamik, Ausführungen zu
Studienzeit und Berufseinstieg, um dann drei Hypothesen zur
Selbstrettung Diesterwegs aufzustellen und die Jahre 1818 bis 1847
aufzuarbeiten und den Haupttext dann mit einem Blick auf die
letzten Lebensjahren enden zu lassen.
Der Text schließt mit der Betrachtung der Epikrise – Was wurde aus
Diesterwegs Nachkommen? Insgesamt umfasst der Text 140 Seiten und
wird um einen kleinen Literaturapparat ergänzt.
Inhalt
Das Vorwort des Herausgebers liefert eine sinnvolle und informative
Einordnung in den Forschungsstand. Dies ist nicht verwunderlich,
ist Rupp doch einer der führenden Diesterweg Experten – wenn nicht
sogar der Kenner der Materie. Das Vorwort der Autorin gibt einen
Eindruck in den Arbeitsprozess.
Die Vorüberlegungen geben bereits einen Überblick über die
Stoßrichtung. Neben der Darstellung des pädagogischen Credos von
Diesterweg und einer kurzen Analyse der historischen Umstände wird
die psychoanalytische Fragestellung formuliert. Die Frage ist, wie
Diesterweg trotz seiner »Vorgeschichte« (S. 20) zu demjenigen
werden konnte, der er geworden ist. Köhler greift hierfür
methodisch auf die große Zahl an Selbstzeugnissen zurück – was sie
auch methodisch klarmacht.
Der Abschnitt zu Familie, Jugend und Elternhaus thematisiert
eingehend den Tod der Mutter, aber auch die Dynamik, mit der
Diesterweg nach Köhler versucht, die Mutter zu ersetzen. Schulzeit
und Freizeit werden genauso in den Kontext der Psychodynamik
eingeordnet wie die Familiengeschichte und neuralgische Ereignisse
in der Biografie. Köhler spricht hier von Diesterwegs empathischer
Mutter – dies wird für mich aus den zitierten Stellen nicht
ersichtlich. Nichtsdestotrotz passt dieses Element zu ihrer
Interpretation. Köhler begreift Diesterweg als messianistische und
charismatische Persönlichkeit – diese Persönlichkeitsmerkmale
hätten sein späteres Leben maßgeblich geprägt.
Das Kapitel zu Studienzeit und Berufseinstieg folgt der gleichen
Struktur. Die Informationen zum Leben Diesterwegs werden immer
wieder mit den Deutungen von Köhler verwoben. Darstellung und
Analyse greifen hier stetig ineinander, psychoanalytischer und
pädagogischer Fokus wechseln sich ab, bis das Kapitel mit den
Hypothesen zur Selbstrettung schließt. Köhler bietet hier drei
verschiedene Deutungsmuster an, mit denen das weitere Leben
Diesterwegs gedeutet werden kann. Die Bestätigung der Potenz, die
nationale Begeisterung nach der Völkerschlacht als kollektives
Gefühl oder die Möglichkeit den Ödipuskomplex auszuagieren, werden
als Deutungen angeboten, die dann im Einzelnen noch genauer
ausgeführt werden. Hypothese I und Hypothese III scheinen der
Autorin selbst einleuchtender zu sein als Hypothese II.
Die Jahre 1818 bis 1847 werden von Köhler ebenfalls ausführlich
behandelt. In diese Zeit fällt auch Diesterwegs Anstellung in
Moers, die meines Erachtens eine relativ zentrale Stellung in der
Biografie einnahm. Auch für die Geschichte der Pädagogik war die
Zeit in Moers sicherlich prägend, wurde in diesem intellektuellen
Netzwerk doch einiges gedacht und entwickelt – auch bei Ziller und
Dörpfeld – was heute noch immer anschlussfähig ist. Diese Zeit
behandelt Köhler nur sehr kurz – sie erwähnt allerdings eine
zentrale Schrift Diesterwegs zur Lage der Arbeiterinnen und Kinder
in Fabriken in denen Diesterwegs gesellschaftskritisches und
durchweg politisches Denken ersichtlich werden.
Die letzten Lebensjahre nach der endgültigen Pensionierung
thematisieren besonders Diesterwegs Tätigkeit als Politiker. Auch
der Tod seiner Frau und der eigene, sehr kurz darauffolgende Tod
werden von Köhler aufgearbeitet. Das letzte Kapitel wird
folgerichtig in die Biografie eingeordnet. Es ergibt sich vor der
Epikrise ein runder Abschluss für das Leben Diesterwegs. Die
Erzählung, die von Lotte Köhler konstruiert wird, erscheint bis zu
diesem Punkt mehr als stimmig.
Die Ausführungen zur Epikrise lassen sich nur bedingt an die
Biografie anschließen. Hier geht es um die Auswirkungen von
Diesterwegs Leben auf seine Nachkommen. Köhler arbeitet heraus,
dass viele Nachkommen Diesterwegs Krankheiten ausbildeten und
gerade die weiblichen Nachkommen sich mit Pädagogen verbanden. Die
männlichen Nachkommen hingegen strebten nicht den Beruf des
Pädagogen an. Ob dies tatsächlich Deutungen zulässt und wie diese
begründet werden könnten, wird nicht deutlich gemacht.
Diskussion und Fazit
Der hier vorliegende Beitrag zur Diesterweg-Forschung ist definitiv
lesenswert und liefert einige spannende Erkenntnisse. Akzeptiert
man die psychoanalytische Perspektive, dann wird ein neuer Blick
auf das Werk Diesterwegs möglich. Die Ausführungen von Lotte Köhler
schaffen es so, zugleich alte Perspektiven zusammenzuführen, als
auch diese zu erweitern. Teilweise hätte ich mir jedoch einige
Erklärungen und eine genauere Explikation der Methode gewünscht –
wäre dies gegeben, würde es noch leichter fallen, dem Gang des
Textes zu folgen.
Rezensent
Sebastian Engelmann
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische
Pädagogik und Erziehungsforschung an der Universität Jena
Zitiervorschlag
Sebastian Engelmann. Rezension vom 08.02.2017 zu: Lotte Köhler: Der
Reformpädagoge Adolph Diesterweg (1790–1866). Psychoanalytische
Betrachtungen zu seiner Biografie. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2016. ISBN 978-3-8379-2582-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/21190.php, Datum des
Zugriffs 13.02.2017.
www.socialnet.de