Rezension zu Unterwegs in der Fremde
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Rezension von Marga Günther
Das Fremde als Gegenstand der Psychoanalyse
Fremdheit aus psychoanalytischem Verständnis umfasst allgemein das
Irritierende und Unverstandene, das sowohl neugierig machen und
anziehen kann zugleich aber auch mit Angst und Abwehr verbunden
ist. Entwicklung auf individueller wie auch gesellschaftlicher
Ebene besteht grundlegend in der Konfrontation mit dem Neuen, das
als zunächst Fremdes die gewohnten Lebensmuster verunsichert und
erst durch Auseinandersetzung in einer modifizierten Form von
Individuen oder Gesellschaften integriert werden kann.
Der umfangreiche Sammelband von Hediaty Utari-Witt und Ilany Kogan
unternimmt laut Untertitel »Psychoanalytische Erkundungen zur
Migration« und fragt wie das Fremde mittels Migration die
individuelle Entwicklung irritieren, blockieren und beeinträchtigen
kann. Er befasst sich mit Migration als komplexer äußerer und
innerer Prozess und zeigt auf, vor welche intrapsychischen
Herausforderungen Individuen sich im Zuge des
Transformationsprozesses gestellt sehen. Zugleich werden
theoretische Positionen bezüglich der Frage diskutiert, wie die
durch Migration als individueller Veränderungsprozess angestoßene
Entwicklung gedacht und verstanden werden kann und wie diese
theoretischen Positionen in den therapeutischen Prozess
hineinwirken. Schließlich befassen sich einige der Beiträge mit der
Frage, inwieweit die Auseinandersetzung mit dem Fremden auch die
Weiterentwicklung der psychoanalytischen Behandlungstechnik
erforderlich macht.
Herausgeberinnen und Entstehungshintergrund
Hediaty Utari-Witt ist Psychoanalytikerin, arbeitet als Dozentin,
Lehranalytikerin, Supervisorin und hat eine eigene Praxis in
München. Sie stammt aus Indonesien und hat langjährige Erfahrung
mit der Analyse von Migrant_innen aus verschiedenen Ländern.
Ilany Kogan ist Lehranalytikerin und Supervisorin der israelischen
Psychoanalytischen Gesellschaft und ist neben Deutschland auch in
Istanbul und Bukarest tätig.
Der Sammelband ist das Ergebnis einer langjährigen Zusammenarbeit
in mehreren Arbeitsgruppen zu den Themen »Migration« und »Trauma«.
Gegenstand der Diskussionen waren sowohl theoretische Konzepte als
auch klinische Fälle. Anliegen des Bandes ist »eine genaue
Beschreibung dynamischer Psychotherapien von Einwanderern der
ersten und zweiten Generation mit ihren wiederkehrenden Themen und
Konflikten zu liefern« (Kogan, S. 26).
Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren des Bandes sind:
Gabriele Ast (Psychoanalytikerin und Allgemeinärztin in
München),
Dr. Christiane Bakhit (niedergelassene Psychoanalytikerin und
Gruppenanalytikerin in München),
Dr. Peter Bründl (niedergelassener Psychoanalytiker und
Kinderanalytiker in München),
Jana Burgerová (Psychologin und Psychoanalytikerin in München),
Marco Conci (niedergelassener Psychotherapeut und Psychoanalytiker
in München),
Bettina Hahm (niedergelassene Psychoanalytikerin in München),
Sebastian Kudritzki (niedergelassener analytischer Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeut und Gruppenanalytiker in München),
Brigit Mau-Endres (Trainerin für Interkulturelle
Kommunikation),
Viktoria Schmid-Arnold (niedergelassene Fachärztin für
Psychosomatische Medizin, Psychoanalytikerin),
Aydan Özdaglar (niedergelassene Psychiaterin, Psychotherapeutin und
Psychoanalytikerin in Freiburg).
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Der Herausgeberband gliedert sich in sechs thematisch
unterschiedliche Teile, die die einzelnen Beiträge themenorientiert
zusammenfassen. Gerahmt werden die Kapitel von einem Vorwort von
Marco Conci, das gleichzeitig in die einzelnen Artikel einführt,
und einem Nachwort von Peter Bründl, das u.a. die besonderen
therapeutischen Fähigkeiten der Autor_innen aufgrund eigener
Migrationserfahrungen hervorhebt. Die Kapitel sind folgendermaßen
überschrieben:
1. »Flucht« in eine fremde Welt
2. Psychotherapie mit Flüchtlingen
3. Säugling-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie mit Migranteneltern
4. Auswirkungen der Migration auf die
Persönlichkeitsentwicklung
5. Migration und Sprache – Konflikte auf der Sprachbühne
6. Außen- und Innenwelten
Alle Beiträge der Kapitel eins bis fünf haben Fallvorstellungen zum
Gegenstand, an denen jeweils spezifische Aspekte der
Migrationsbewältigung aufgezeigt und der Verlauf des
psychoanalytischen Prozesses dargelegt wird.
Im ersten Kapitel werden grundlegende theoretische Perspektiven,
die den Sammelband mehr oder weniger durchziehen, vorgestellt.
Unter Bezugnahme auf Salman Akhtar stellt Marco Conci voran, dass
sich die Analysen von Migrant_innen von denjenigen ohne
Migrationserfahrungen unterscheiden würden, da hier eine besondere
entwicklungsbezogene Haltung wichtig sei, um eine durch erlebte
Traumata vorhandene Entwicklungshemmung aufzulösen. Im von Conci
vorgestellten Fall wird ein Wendepunkt in der Analyse mit einer
traumatisierten Patientin erreicht, nachdem »die Bearbeitung einer
Reihe von Enactments« (S. 41) möglich wurde, durch die Conci den
inneren Konflikt seiner Patientin erst verstand und es ihm
ermöglichte die bis dahin zähe Analyse in eine lebendigere zu
führen, durch die das Trauma aufgelöst werden konnte. Die
Bearbeitung von Enactments, also der Prozess, »in dem die
Subjektivität des Analytikers in Spiel kommt, ist umstritten« (S.
53). Die Autor_innen des Sammelbandes sehen jedoch in der
expliziten Berücksichtigung ihrer Enactments eine besondere Chance
für die Psychoanalytische Bearbeitung der migrationsbedingten
Entwicklungshemmungen bzw. Traumata ihrer Patient_innen.
Hediaty Utari-Witt macht an einer Fallstudie deutlich, wie komplex
die kulturellen und biografischen Erfahrungen miteinander
verwickelt sein können, so dass die Zusammenhänge der
zugrundeliegenden Konflikte häufig erst durch Nachvollzug der
verschlungenen Verbindungen aufgelöst werden können. Die
Migrationserfahrungen der Analytikerin erlaubte es im vorliegenden
Fall den abgewehrten Schmerz des »Heimatverlustes« der Patientin
als solchen zu erkennen, anzuerkennen und in der Analyse
durchzuarbeiten (S. 84).
Aydan Özdaglar befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Ankommen in
einer zunächst fremden Welt im Fall einer bewusst geplanten und
hoch motivierten Migration aus der Türkei nach Deutschland. Das
Fallbeispiel macht deutlich, dass die Schwierigkeiten, sich an die
aktuelle äußere Realität anpassen zu können, nicht nur in den
konkreten Lebensumständen begründet liegen, sondern auch aus den
weiter zurückliegenden biografischen Konstellationen resultieren
kann, deren Zusammenhänge erst nach Betrachtung der
Familiengeschichte verstanden werden kann.
Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Bezüge aus dem ersten
Kapitel aufgegriffen und hinsichtlich der Behandlung von
Flüchtlingen nutzbar gemacht. Die Besonderheit der Migrationsgruppe
der Flüchtlinge hat auch in der psychoanalytischen Behandlung
Berücksichtigung zu finden. Die Fluchtumstände und -ursachen sowie
die Besonderheit der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus und die
Schwierigkeit der Bearbeitung von Traumata unter diesen Umständen
werden von Ilany Kogan, Sebastian Kudritzki und Christiane Bakhit
am Beispiel erwachsener und minderjähriger Flüchtlinge vorgestellt
und diskutiert.
Das dritte Kapitel nimmt das Eltern-Werden während des
Migrationsprozesses in den Blick und befasst sich mit der Frage, in
welcher Weise die Erfahrungen von Verlust, Trauer und Sehnsucht an
die Kinder, die im Ankunftsland aufwachsen, weitergegeben werden
und von ihnen bearbeitet werden.
Hediaty Utari-Witt und Viktoria Schmid-Arnold zeigen in ihren
Fallbeschreibungen eindrücklich auf, wie wichtig ein Durcharbeiten
der elterlichen Erfahrungen und Erlebnisse ist, um den eigenen
Kindern eine unbefangene Entwicklung zu ermöglichen. Dabei wird das
Eltern-Werden als eigener zu bewältigender Prozess verstanden, der
im Kontext der migrationsbedingten Erfahrungen eine besondere
Dynamik erhält.
Die Auswirkungen der Migration auf die Persönlichkeitsentwicklung
behandelt das vierte Kapitel.
In Viktoria Schmid-Arnolds Beitrag geht es darum, wie frühe
Trennungserfahrungen durch eine migrationsbedingte Trennung wieder
aufleben und nur durch therapeutische Bearbeitung erkannt und
überwunden werden kann.
Gabriele Ast und Bettina Hahm stellen die generationale Weitergabe
von Konflikten in den Mittelpunkt ihrer Beiträge und zeichnen den
langwierigen und schwierigen Behandlungsverlauf nach.
Das fünfte Kapitel stellt die Bedeutung der Sprache im
Migrationsprozess in den Mittelpunkt.
Jana Burgerová berichtet in zwei Beiträgen anhand der Beziehung
zwischen Tschechischen und Deutschland, welche Auswirkungen es
haben kann, eine Sprache nicht sprechen zu dürfen und damit auch
der Ausdrucksfähigkeit von Emotionen beraubt zu werden.
Hediaty Utari-Witt widmet sich in ihrem Beitrag den Widerständen,
die neue Sprache des Ankunftslandes zu erlernen. Bei Konflikten
dieser Art stellt sie die Frage der Übersetzung als eine zentrale
vor. Denn an Worte geknüpft sind ebenso Affekte, Repräsentanz,
Symbolisierung sowie Sprach- und Denksysteme, die im
therapeutischen Prozess eine wichtige Rolle zum gegenseitigen
Verständnis spielen.
Im sechsten Kapitel wird die Verbindung zwischen Außen- und
Innenwelten noch einmal dezidiert in den Blick genommen und
reflektiert.
Jana Burgerová zeigt anhand des Films »Gegen die Wand« von Fatih
Akin aus dem Jahr 2003 die Problematik auf, dass die
transkulturellen und transgender Lebensentwüfe der hier
aufgewachsenen Kinder von Arbeitsmigranten aus der Türkei aufgrund
der starren Hierarchieverhältnisse eine tragische Begrenzung
erfahren.
Birgit Mau-Endres stellt kulturwissenschaftliche Überlegungen zu
der Frage an, inwieweit »kulturelle Prägung« den
psychotherapeutischen Prozess beeinflussen. Eine Auseinandersetzung
der Therapeut_innen mit den eigenen fremden Kulturen ermöglicht es
am ehesten in der Therapie einen Raum zu schaffen, in dem die
Patient_innen sich mit ihren unbewussten Konflikten gehalten und
getragen fühlen können.
Der abschließenden Beitrag von Hediaty Utari-Witt behandelt die
Frage, inwieweit das Land, in das migriert wurde, zur Heimat werden
kann. Eine allgemeingültige Antwort kann sie hierfür nicht geben.
Vielmehr zeigt sie Möglichkeiten auf, wie unterschiedlich diese
Frage bearbeitet werden kann.
Diskussion
Der Sammelband dokumentiert zahlreiche Konflikte, die im Rahmen von
Migrationsprozessen zur Geltung kommen und die das Leben im
Aufnahmeland deutlich beeinträchtigen können. Die Beiträge zeigen
auf, dass die Konflikte weder einfach in der Lebensgeschichte von
Individuen begründet liegen, noch allein aus realen Umständen des
Migrationsgeschehens resultieren. Vielmehr präsentieren die
sensibel vorgestellten Fallbeispiele, dass es sich stets um ein
Zusammenwirken der äußeren mit der inneren Welt handelt, welches in
einer je individuellen Weise bearbeitet und bewältigt wird. Neben
den vorgestellten Konflikten zeigen die Beiträge vor allem auch,
wie wichtig das Behandlungssetting in therapeutischen Prozessen
ist.
In vielen der vorgestellten Fälle hat erst die Modifizierung des
allzu starren Behandlungssettings den Erkenntnisprozess
vorantreiben können. Das sensible Einlassen auf die Bedürfnisse der
Patient_innen auch und vor allem durch innovative Settings
ermöglichte erst den Erfolg der Behandlung. Die Autor_innen sehen
daher in der Heranziehung des Konzepts »Enactment« einen sinnvollen
Beitrag für die Psychoanalyse. Insofern zeigt der Band einmal mehr,
dass aus der Befassung mit einem Spezialgebiet, wie es die Arbeit
mit Migrant_innen immer noch ist, wertvolle Impulse für die
Weiterentwicklung theoretischer und praxisrelevanter Konzepte
gewonnen werden kann.
Fazit
Das Buch beinhaltet eine Sammlung engagierter und einfühlsamer
Beiträge von Psychoanalytiker_innen, die die Situation von
Migrant_innen in unserem Land anhand vielfältiger innerer und
äußerer Konflikte transparent macht. Das Buch zieht Verbindungen
zwischen theoretischen Konzepten zum Verständnis von
Migrationsprozessen und den therapeutischen Prozessen und zeigt
auf, wie darin theoretische Perspektiven zum Tragen kommen. Darüber
hinaus unternimmt der Sammelband eine Reflexion der therapeutischen
Praxis und leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung des
psychoanalytischen Settings. Die Lektüre gibt insofern für alle
psychoanalytisch Interessierten viele Anregungen. Darüber hinaus
leistet das Buch einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um die
Bewältigung von Transformationsprozessen angestoßen durch
Migration.
Rezensentin
Prof. Dr. Marga Günther
Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der
Evangelischen Hochschule Darmstadt
Zitiervorschlag
Marga Günther. Rezension vom 28.12.2016 zu: Hediaty Utari-Witt,
Ilany Kogan (Hrsg.): Unterwegs in der Fremde. Psychoanalytische
Erkundungen zur Migration. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN
978-3-8379-2517-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/19745.php, Datum des Zugriffs
10.01.2017.
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