Rezension zu Die Dunkle Materie des Wissens
Inklings – Jahrbuch für Literatur und Ästhetik Bd. 32 (2014)
Rezension von Elmar Schenkel
Religion, Mythos und Philosophie
Bracker, Klaus J. Veda und Lebendiger Logos: Anthroposophie und
Integraler Yoga im Dialog. Frankfurt/M.: Info3 Verlagsgesellschaft,
2014.
Poitrenaud, Gerard. Cycle et Metamorphose du Dieu Cerf: Le dieu
primordial des celtes et ses avatars. Paris: Lucterios, 2014.
Hinrichs, Uwe. Die Dunkle Materie des Wissen. Über Leerstellen
wissenschaftlicher Erkenntnis. Gießen: Psychosozial-Verlag,
2014.
Lange Zeit schien es, als versuche die Anthroposophie das indische
Denken auf archaische Stufen zu verbannen, im Sinne eines »Das
haben wir doch längst alles hinter uns«. Dabei ist das indische
Denken, Yoga und Philosophieren, zu vielgestaltig, um »es hinter
sich« oder gar auf den Punkt zu bringen. Wie der Nobelpreisträger
Amartya Sen gezeigt hat, gibt es auch in Indien eine sehr alte
aufklärerische, ja atheistische Tradition [The Argumentative
Indian).
Nun hat zum zweiten Mal ein Anthroposoph eine Anknüpfung an
indisches Denken über dieselbe Brücke versucht. Diese Brücke lautet
»Integraler Yoga«. Damit ist ein Welt- und Lebensentwurf gemeint,
den der indische Philosoph Sri Aurobindo zwischen 1920 und 1950
entwickelte. Aurobindo wuchs in England auf und verbindet westliche
und östliche Denkansätze; so bringt er die Evolution zum Yoga.
Damit ist er aber für Anthroposophen interessant, für die der
Gedanke der persönlichen und historischen Entwicklung zentral
ist.
Bracker hat sich tief in die Materie eingearbeitet und argumentiert
mit genauer Hintergrundkenntnis. Im Anhang finden sich Kapitel über
den Begriff des Gurus, die spirituelle Gefährtin Aurobindos, Mira
Alfassa, auch »die Mutter« genannt und bis heute hoch verehrt in
Indien, insbesondere in Pondicherry und Auroville. Ein weiteres
Kapitel wird dem Dänen Johannes Hohlberg (1881-196/'0) gewidmet,
der schon frühzeitig diese Ost-West-Brücke belebt hat. Der Künstler
kannte Mira Alfassa noch aus okkult-metaphysischen Kreisen vor
ihrer indischen Zeit. 1915 führte er intensive Gespräche mit
Aurobindo in Pondicherry. Später wurde er Generalsekretär def
Anthroposophischen Gesellschaft Dänemarks.
Brückenbauer sind meist Figuren, die zwischen den anerkannten
Welten stehen. Ist die Brücke einmal gebaut, wird neu definiert.
Ein solcher Brückenbauer ist der Ingenieur, Germanist und Keltologe
Gerard Poitrenaud aus Toulouse. Mit Cycles et Metamorpkoses du Dieu
Cerf: Le dieu primordial des celtes et ses avatars (Zyklen und
Verwandlungen des Hirsch-Gottes – der Urgott der Kelten und seine
Verkörperungen) geht der französische Gelehrte in die Tiefe der
europäischen Kulturen zurück. Bei den Kelten, Griechen und Germanen
verfolgt er das Bild des gehörnten Gottes, wie man ihn etwa auf dem
keltischen Gundestrup-Kessel sieht. Dieser Gott-Hirsch zeigt sich
noch in den arthurischen Legenden – Artus jagt den weißen Hirsch.
Geweih und Krone des Königs sind sich ja erstaunlich nah. Wenn man
einmal einen Blick dafür hat, entdeckt man diesen wilden Gott noch
in Logos und zeitgenössischer Reklame. Opferkulte, schamanistische
Praktiken und Stammespsyche stehen am Beginn von Religionen.
Poitrenaud geht es um diesen Augenblick der Geburt von Religion –
eine der leeren Stellen unseres Wissens.
Um solche Leerstellen geht es auch dem Südslawisten und
Balkanologen Uwe Hinrichs. Sein Buch »Die Dunkle Materie« ist ein
Wurf, der alle Disziplinen interessieren sollte, denn es ist von
jemandem geschrieben, der einen Blick von oben auf sie alle wirft.
Das ist heutzutage ein gewagtes Unterfangen und kostet schon mal
eine Berufung oder den Ausschluss von Forschungsförderung. Hinrichs
ist gerade emeritiert worden und kann sich dieses Risiko leisten.
Er stellt fest, dass wir die wichtigsten Dinge gar nicht wissen und
dass, je mehr das Einzelwissen wächst, auch die Leerstellen im
Gesamtgefüge der Disziplin wachsen. Oft, könnte man hinzufügen,
sind diese Leerstellen auch Vergessensfelder. Dunkle Materie ist
eine starke Metapher für unser Nichtwissen – ob in Astronomie,
Genetik, Ökonomie, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft,
Psychoanalyse, Philosophie, Religion, Kunstwissenschaften oder
Kulturwissenschaft. Hinrichs nimmt sie sich alle vor. Am Ende
schlägt er ein »vieldimensionales Denken« vor. Das hat er
allerdings in diesem Buch schon bestens praktiziert.