Rezension zu Die vergessenen Kinder der Globalisierung (PDF-E-Book)

Heilpädagogik.de. Fachzeitschrift des Berufs- und Fachverbandes 3/2016

Rezension von Sybille Lenk

»Dieser saß am Gestade des Meers, und weinte beständig, Ach! in Tränen verrann sein süßes Leben, voll Sehnsucht heimzukehren...«
Odyssee, 5. Gesang, Vers 150

Es ist die globale Ungleichheit, die weltweit immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, politisch stabilen und instabilen Regionen, zwischen Krieg und Frieden, die zur Entstehung von transnationalen Familienkonstellationen beiträgt. Die Bewohner von Armutsgebieten sind weltweit immer weniger bereit, ihr Schicksal als gegeben hinzunehmen. Stattdessen wollen sie teilhaben am besseren Leben: »Im Gefolge ökonomischer und kultureller Globalisierung wird für immer mehr Menschen Migration zum dominanten Lebensprojekt. Migration ist die moderne Form der Aufstiegsmobilität.« (S. 13) Im Gegensatz zur in der Geschichte lange üblichen Migration von ganzen Familienverbänden vollzieht sich gerade ein Paradigmenwechsel hin zur Migration von Einzelnen. Damit sind besonders schwierige Wanderungsfaktoren verbunden. Dies betrifft vor allem die Lage von zurückgelassenen und / oder allein migrierenden bzw. remigrierenden Kindern und Jugendlichen, deren transnationale Kindheit bisher in der Migrationsforschung weitestgehend vernachlässigt wurde.

Der überwiegende Teil der durchweg hochinteressanten Beiträge des Buches ist aus Vorträgen einer Tagung an der Philipps-Universität Marburg in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sowie mit dem Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung entstanden. Ausgesprochen differenziert legen die Autorinnen den Zusammenhang von Diskontinuität in der elterlichen Fürsorge und dem Entstehen von negativen psychosozialen Folgen nicht nur für die Kinder – sondern wie am Beispiel von türkischstämmigen Personen belegt – auch der Enkelgeneration dar. Auch die Situation der sogenannten remigrierten »Kofferkinder« ist durch häufige Beziehungsabbrüche, Leid, Trauer, Verlassenheitsgefühle sowie permanente Anpassung an neue Systeme und Anforderungen geprägt. Am Beispiel narrativer Interviews in den meisten Beiträgen werden bewegende Lebensgeschichten gezeichnet, die dem Leser/ der Leserin einen tiefgründigen Einblick in kindliche Lebensrealitäten gestatten. Diese berühren das Herz und lassen pädagogisches Handeln z.B. in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung oder Schulen überdenken und gegebenenfalls neu denken.

Das betrifft auch die Kooperation mit Eltern, Großeltern und Vormündern. Auswirkungen des Care drains in den Herkunftsländern, die Transnationalisierung von Mutterschaft oder coping-Strategien von weiblichen Aussiedlerjugendlichen aus Russland und deren hybride Sprachmischung in Peergroups werden über einen sozialpsychologischen Verstehenszugang in eigenen Beiträgen erläutert. »U nas« bedeutet »bei uns« und gemeint ist immer die alte Heimat in Russland. Das gilt es zu bedenken.

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