Rezension zu Scheitern und Biographie

Bios Heft 1/2006 (19.Jg.)

Rezension von Peter Respondek

In einer Zeit, die gekennzeichnet ist von politischer und wirtschaftlicher Destabilität und in der Arbeitslosigkeit zu einem Massenphänomen avanciert, erleben selbst vermeintlich gut situierte Gruppierungen unserer Gesellschaft den Verlust von sozialer Sicherheit und Perspektive. Auch garantieren formale Qualifikationen, fachliches Können und persönlicher Einsatz dem Einzelnen schon lange nicht mehr beruflichen Erfolg. Hinzukommende oder nicht selten hieraus resultierende persönliche Krisen verheißen, was die eigene Lebensplanung betrifft, nichts Gutes. Leben bedeutet oft wagen, nicht aber immer gelingen. Im Gegenteil: ›Scheitern‹ gehört wie der Tod zu jenen Urerfahrungen, die das Dasein und das Denken des Menschen seit Jahrtausenden begleitet und geprägt haben. Ungeachtet seiner medialen Präsens im Unterhaltungs- und im Informationsbereich gilt vielen individuelles Scheitern noch immer, wenn nicht gar mehr denn je, als persönlich zu verantwortendes Versagen über das man besser nicht spricht.

Eine wesentliche Aufgabe von Sachbüchern ist es, auf ein Problem überhaupt aufmerksam zu machen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es ein bestimmtes Problem gibt. In diesem Sinne ist der von Stefan Zahlmann und Sylka Scholz herausgegebene Sammelband »Scheitern und Biographie«, der 2005 im Psychosozial-Verlag erschien, eine bemerkenswerte Publikation. Aus sehr unterschiedlichen disziplinären Perspektiven nehmen seine Herausgeber ebenso wie die Autoren und Autorinnen das

Phänomen des biographischen Scheiterns in seinen individuellen und kollektiven Facetten ins Visier. Scheitern nicht als simples, singuläres Misslingen, sondern als existentielle, wenngleich überwundene Realerfahrung, als Verlust und Aufgabe persönlicher Zielvorgaben wie als Nichterfüllung normativer Vorstellungen eines gelungenen Lebens ist das Thema dieses Buches.

Sein Aufbau gliedert sich in drei Teile: ›Arbeit und Leistung‹, ›Religion, Nation, Generation‹ und ›Lob des Scheiterns. Einsichten und Aussichten‹.

Obgleich nicht chronologisch strukturiert, sind die hier dargebotenen Fallbeispiele, die den Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart umspannen, so positioniert dass sie dem Leser eine Vorstellung vom gesellschaftlichen Wandel sozialer und kultureller Normen und somit auch biographischer Konzepte vermitteln. Eingeleitet werden die insgesamt 15 Beiträge durch eine originelle Reflexion Stefan Zahlmanns über das Scheitern im Kontext des ›Sprachspiels‹, eines sprach-philosophischen Konzepts Ludwig Wittgensteins, dem zur Folge Sprache nicht ein Spiegelbild der Welt ist, sondern ihre eigene Ordnung hat und diese derselben aufzwingt. Scheitern, insbesondere das individuelle, ist immer ein schwerwiegendes Ereignis. Doch ob und inwieweit ein Leben als gelungen oder gescheitert zu gelten hat, entscheidet letztlich das Reden hierüber. Als »wahrgenommene Differenz zum gelungenen Leben« (S. 13) wird Scheitern hier nicht als anthropologische Konstante, sondern als historisch, kulturell, sozial und geschlechtsspezifisch bedingtes Konstrukt definiert.

Um dem Buch nicht die Pointen und dem Leser nicht die Spannung zu nehmen, soll im Folgenden auf die einzelnen Beiträge nur knapp eingegangen werden.

Der erste Teil entwickelt das Thema entlang einzelner Biographien und deren narrativer Darstellung auf dem Hintergrund ihrer zeitspezifischen, historisch-kulturellen Norm- und Wertvorstellungen. Andreas Bähr schildert das Schicksal und schließliche Ende des »Tübinger Dichters, Advokaten und Publizisten Gotthold Friedrich Stäudlin«(S. 37), der sich im September 1796 selbst tötete, weil er, sich nicht in der Lage sehend, »seine Existenz auf eine materiell abgesicherte Grundlage zu stellen« (S. 38), moralisch versagt zu haben glaubte und anderen Menschen in Zukunft keine Last mehr sein wollte.

Jürgen Herres und Regina Roths Interesse gilt der Biographie von Karl Marx, jenes staatenlosen Exilanten, dem auch als Fünfzigjährigen der Weg in die materielle Unabhängigkeit nicht gelungen war. Nie zufrieden, ein Meister im Nichtvollenden und reich an persönlichen Tragödien galt er wohl vielen seiner Zeitgenossen als gescheitert. Nicht ins bildungsbürgerliche Konzept der Zeit, insbesondere der eigenen Familie, passte auch die Vita Sebastian Hensels, des einzigen Enkels des jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn (1792-86), mit der sich Martina Kassel beschäftigt. »Nie durch eigenes Verschulden bankrott« (S. 72) gegangen, machte dieser als Bildungsbürger, Landwirt und Hotelier im Kaiserreich eine bemerkenswerte Karriere. Als Erfolgsgeschichte galt sie seinem Sohn Paul jedoch nicht, eher als ein »Lebenslauf in absteigender Linie« (S. 71). Das »familiale Abseits (S. 98) und das Leiden an der Eindimensionalität des beruflichen Erfolgs sind Gegenstand des Aufsatzes von Renate Liebold, die sich mit der ›Nachtseite‹ moderner männlicher Erfolgsbiographien auseinandersetzt. »Meine Kinder fragen mich schon lange nichts mehr« (S. 89 ff). Gerd Dressels und Nikola Langreiters Thema ist das Scheitern von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnern, präziser die Formen dieses Scheiterns, Muster aufweist und innerhalb der ›scientific community‹ eher als nicht besprechbar gilt. Claudia Dreke schließlich analysiert die Geschichte eines »Scheiterns und deren Begründung aus der Perspektive einer westdeutschen Verwalterin« (S. 127) zu Beginn der neunziger Jahre in den neuen Bundesländern auf dem Hintergrund von »Fremd und Selbstbildern bzw. Fremd- und Selbsterwartungen« (S. 128) im Kontext des geführten Ost-West-Diskurses.

Die Beiträge des zweiten Teils des Sammelbandes offerieren dem Leser einen anderen Blickwinkel, indem sie den »Fokus des Scheiterns vom einzelnen Individuum zur Gruppe« (S. 24) verlagern. So stellt etwa Gesine Carl die philosophischen Konzepte der beiden, aus dem ostjüdischen Milieu stammenden Konvertiten Christian Salomon Duitsch und Salomon Maimon, beide Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts einander gegenüber und hinterfragt deren diametral entgegen gesetzte Auffassungen vom Scheitern. Jürgen Reuleckes Augenmerk gilt den Vertretern der so genannte ›Jahrhundertgeneration‹, d.h. der vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Deutschen und ihrem »Umgehen mit Scheitern, Schuld und Versagen« (S. 165) zur Zeit des Dritte Reiches. Als Beispiel dient ihm der sich zu Pfingsten 1947 im Kloster Altenberg bei Wetzlar konstituierende »Freideutsche Kreis«, der sich erst 53 Jahre später, im Jahr 2000, auflösen sollte. Um ein ganz besonderes mentalitätsgeschichtliches Problemfeld des 20. Jahrhunderts geht es in dem Beitrag von Rainer Pöppinghege, der sich anhand von ›Ego-Dokumenten‹ (Memoiren, Erlebnisberichten, Feldpostbriefen etc.) den Selbstbildern und -darstellungen deutscher Kriegsgefangener des Ersten und Zweite Weltkrieges zuwendet. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht die Gefangennahme als zeitlicher Fixpunkt individuellen oder kollektiven Scheiterns und der damit verbundene Rechtfertigungsdruck sich selbst gegenüber aber auch gegenüber Dritten. Die in vergleichender Perspektive behandelten Beispiele lassen die Fluktuationen männlicher und soldatischer Ideale deutlich werden. Männlichkeitsideale und deren Frakturen sind auch das Thema Christoph Kühbergers, der das Verhalten deutscher Kriegsgefangener nach 1945 in einem unter amerikanischem Befehl stehenden Internierungslager nahe Salzburg untersucht. Sein Interesse gilt insbesondere der Frage, wie die im NS-Staat sozialisierten, eigene Männlichkeitsvorstellungen pflegenden Soldaten auf den alternativen Männlichkeitsentwurf der Amerikaner reagierten. Das Interview Stefan Zahlmanns mit Sander L. Gilman schließlich lotet das Verhältnis des mainstream der amerikanischen Kultur zum Scheitern in Literatur und Alltag aus.

Der dritte Teil des Buches reflektiert die Chancen, die sich mit der Neubewertung biographischen Scheiterns für den Einzelnen ergeben. Scheitern als Möglichkeit, als Glück, als Voraussetzung für Fortschritt und individuelle Weiterentwicklung ist auch die zentrale Aussage des Beitrages von Utz Jeggle, für den Misslingen lebensimmanent ist: »Zum Glück gehört der Mut zum Unglück, zum Gelingen die Erfahrung des Scheiterns. Scheitern kann ich nur im Scheitern lernen« (S. 234). Für ein ›Lob des Scheiterns‹ plädiert auch Erhard Meueler und begründet dies anhand der eigenen Biographie, indem er dessen Potentiale aufzeigt. Erich Kästners »Fabian«(193 1) und Sven Regeners »Herr Lehmann«(2002) sind Romane, die in Berlin spielen und die Geschichten von Männern erzählen, deren Leben den Anforderungen der Gesellschaft nicht genügen. Christian Klein identifiziert beide Texte als Beispiele für eine Literatur, die, obgleich sie individuelle Schicksale beleuchtet, immer auch die Krisen und Verwerfungen einer ganzen Gesellschaft in ihrer Zeit meint. Berlinspezifisch ist auch der Beitrag von Sylka Scholz über die ›Show des Scheiterns‹ und den ›Club der Polnischen Versager‹, zweier Projekte der Berliner Szene-Kultur, in denen es um den Entwurf alternativer Sinngebungen geht, um die Profilierung einer Kultur des Legitimierens biographischen Scheiterns im Sinne Wittgensteins. Den Schluss ihrer Ausführungen widmet Sylka Scholz ihrer eingangs aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Scheitern, Geschlecht und Öffentlichkeit wie auch dem Benennen weiterer Problemhorizonte.

Im Gegensatz zu vergleichbaren Publikationen basiert der vorliegende Sammelband nicht auf den Ergebnissen einer Tagung. Spürbar wird dies an der ein wenig zu kurz gekommenen argumentativen Vernetzung der Beiträge untereinander. Dies fällt jedoch angesichts der skizzierten Gemeinsamkeiten in der Einleitung kaum ins Gewicht.

Für ein wissenschaftliches Produkt ist dieses Buch erstaunlich gut lesbar. Es ist flüssig geschrieben, seine Sprache ist klar und nie selbstzweckhaft. Sein besonderer Reiz liegt darin, dass es unterhaltsam und bedrückend zugleich ist Wer es liest, erfährt einiges über das Leben und seine Wahrnehmungen, mit seinen Brüchen, Neuanfängen, Enttäuschungen, Verletzungen und Widersprüchlichkeiten, über das Verhältnis von Lebensweg und Lebenswerk, über die Möglichkeiten und Formen seines Scheiterns und den Umgang damit. Es ist ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit, ein Serum, dessen Immunisierungskraft gerade in einer Zeit gebraucht wird, die uns weismachen will, dass dem Tüchtigen immer die Welt gehöre und jeder seines Glückes Schmied sei.

Den Herausgebern ist ein konzentriertes, gehaltvolles und gut lesbares Buch gelungen, dessen wohlüberlegte Gliederung und dessen Verknüpfung von Beschreibung und Analyse sehr überzeugen.

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