Rezension zu Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors

Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik Nr. 76, 1/2016, 33. Jahrgang

Rezension von Andreas Peglau

Ich will vorausschicken, was ich für den wesentlichen Fehler der hier veröffentlichten Arbeiten des Psychoanalytikers und Sozialarbeiters Ernst Federn (1914-2007) halte: sein Beharren auf dem vom späten Freud aufgestellten Todestrieb-Mythos. Wer an etwas angeboren Böses glaubt, muss natürlich teils zu ganz anderen Erklärungs- und Lösungsvorschlägen kommen als derjenige, der davon ausgeht, dass Menschen nur »böse« gemacht werden können. Viele Antworten, die Federn gibt, empfinde ich dementsprechend als falsch oder zumindest verkürzt. So zum Beispiel, wenn er als »Grundansichten« benennt: »Erstens, dass von Kindheit an jeder Mensch über starke, wilde Triebe verfügt, die da Anständige und Gesunde zu beherrschen lernt, während der Asoziale und Kranke ihnen in verschiedenen Formen nachgibt, die in Widerspruch zu den Formen des sozialen Lebens stehen. Zweitens, dass Erziehung und die Umwelt, die im größten Maße von der Beschaffenheit des Staates abhängen, jene Instanz herausbilden, die erst dem Individuum die Triebbeherrschung ermöglicht. Mit dieser »Instanz« meint Federn das Freud/'sche »Über-Ich«, das ich für ein bedauerliches Resultat entfremdender Sozialisation halte, also für einen Teil des Problems und keinesfalls für dessen Lösung. Dennoch benennt Federn auch nach meiner Ansicht im letzten Satz etwas Wichtiges: Die Art, wie Menschen innerhalb der Gesellschaft leben und von ihr erzogen werden, entscheidet über die Destruktivität dieser Gesellschaft. Was Federn an anderer Stelle auch ähnlich formuliert: »Wie man aber Kinder so erzieht, dass sie nicht zu potentiellen Massenmördern werden, ist ein Problem, dass die ›seelische Hygiene‹ angeht.«

Und so geht es mir mit dem gesamten Buch (bzw. mit den Teilen, die Federn selbst verfasst hat – es enthält ja umfangreiches zusätzliches Material): Ziehe ich bestimmte Grundannahmen ab, profitiere ich von zahlreichen Informationen, wie ich sie kaum anderswo in der Literatur finde. Dass ein psychoanalytisch so vorgebildeter Mensch bewusst das Konzentrationslager erlebt, überlebt und beschrieben hat, hat eine einzigartige Quelle entstehen lassen. Aus eigener Erfahrung kann Federn prominenten (wie Bruno Bettelheim) und heute weniger prominenten Mitgefangenen Denkmäler setzen, indem er von ihnen erzählt. Er, der selbst die Willkür von NS-Führern erlitt, kann deren Verhaltensweisen in frappierend sachlicher Weise analysieren. Der Bogen dieser Analysen reicht vom 18-jährigen SS-Mann, der in wenigen Minuten vom unsicheren Jungen zum Sadisten mutiert, bis hin zum sich hinter »Pflichtbewusstsein« versteckenden Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Aus gutem Grund will Federn auch die Täter verstehen: In »schrecklichen Geschehnissen nicht bloß blindes Wüten unbekannter Mächte zu sehen, sondern notwendige Folgen von psychischen und sozialen Bedingungen«, erleichtere »zu verhindern, dass unsere Kultur neuerlich in ›Barbarei‹ versinkt.« Dass Federn grundsätzlich auch auf soziale Bedingungen verweist, unterstreicht seine Bedeutung als Pionier politischer Psychoanalyse.

Im Zentrum des Buches stehen Ernst Federns Erfahrungen im KZ Buchenwald, wo er von 1939 bis 1945 interniert war. Auch hier verfasst Federn keinen bloßen Erfahrungsbericht, sondern eine Psychoanalyse des Systems Lager. In diesem waren, wie er belegt, die Grenzen zwischen »Gut« und »Böse« weit weniger klar gezogen, als man vermuten könnte: Die Unterdrückten attackierten sich nicht nur vielfach gegenseitig, sondern kooperierten auch in diversen Aspekten mit ihren Unterdrückern, mit denen sie gleichzeitig in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt waren. Dies wiederum lässt Federn nicht stehen als isoliertes Sittenbild von »Buchenwald«. Er beschreibt es als Beispiel dafür, wie solche terroristischen Systeme von allen Beteiligten am Laufen gehalten werden. Und er schildert detailliert, auch hier verknüpft mit eigenem Erlebten, wie Menschen durch physischen und psychischen Terror so zugerichtet werden, dass sie in diesen Systemen existieren und funktionieren können: »Wenn nun alle diese Methoden: Freiheitsentzug, Demütigung, ständige Unsicherheit mit all ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, sexuelle Not, auferlegte Untätigkeit oder Quälerei durch ungewohnte Arbeit und das ständige Erleiden von Angstzuständen mit allen Finessen, ohne Unterbrechung an einem Menschen angewendet werden, so kann dieser sehr bald jegliche seelische Widerstandskraft verlieren. Er wird stumpfsinnig und teilnahmslos.« »Viele Menschen« reagieren darauf aber auch, so Federn, mit Regression, mit »Wut und Rachegefühlen«, entwickeln »Verschlagenheit und Falschheit« oder identifizieren sich mit dem Aggressor, »indem sie sich ihm unterordnen und ihrerseits andere demütigen. Sie verwandeln sich in Sklaventreiber, um den Qualen der eigenen Ohnmacht zu entfliehen.«

Federn wird nicht müde, immer wieder zu betonen, dass es nötig ist, aus diesen speziellen Erfahrungen mit dem NS-Terror Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen: Die Welt ist »dauernd bedroht von Massakern und Verletzungen der Menschenrechte«, die Ausübung des Terrors ist »immer gleich, ganz egal, wo oder von wem oder wofür er benutzt wird«, Terror findet statt »in allen Haftanstalten und Zwangslagern der modernen Diktaturen [...], überall dort, wo einzelne Bewaffnete gegenüber Zivilisten eine unbeschränkte Macht auszuüben imstande sind.« Gerade diese Verallgemeinerbarkeit zeigt, dass es zeitgemäß war, dieses 1998 erstmals erschienene Buch nun, ergänzt um ein einfühlsames und kompetentes Vorwort von Roland Kaufhold, erneut herauszubringen. Wir können und sollen uns beim Lesen sowohl mit unserer Vergangenheit wie auch mit unserer Gegenwart befassen, uns auch fragen, was von all diesen Torturen noch immer angewandt wird – und welche Konsequenzen dies hat, auch für uns.

Folter, Terror – aktuell drängt sich der Gedanke an den »Islamischen Staat« auf. Doch nicht nur der »IS« hat Folter im Repertoire, sondern auch dessen vermeintlich freiheitlich-demokratischer Gegenpart, der »Westen«. Der Strafrechtler Wolfgang Kaieck konstatierte am 10.12.2014 in Zeit-online, dass sich jenes berüchtigte US-Folterlager Abu Ghraib »von den anderen irakischen Gefängnissen, Guantanamo oder Geheimgefängnissen an unbekannten Orten (auch in Europa – A.p.) nur dadurch unterschied, dass von den dortigen Misshandlungen Fotos öffentlich wurden.« Als Alibi dieses Staatsterrorismus dienen bekanntermaßen insbesondere nach dem 11.9.2001 erlassene US-Gesetze. Federn schreibt bereits 1946: »Gesetze schützen die Gewalttäter und rechtfertigen jene Gewalt moralisch, die im Interesse der mit Macht ausgestatteten Gruppen angewendet wird. Die in diesem Sinne wichtigste gesellschaftliche Gruppe ist jene, die die Staatsmacht kontrolliert, und ein großer Teil aller Gesetze nationalen und internationalen Rechtes haben die Sanktionierung von Gewaltmaßnahmen zum Inhalt.«

Auch unser »westliches« System wendet Folter an – Terror ohnehin. In diversen, insbesondere durch USA, Nato und IWF aber auch auf Initiative von EU und BRD destabilisierten Regionen erleiden Menschen millionenfach, was schon Federn beschreibt. Jürgen Todenhöfer bilanziert in seinem jüngst erschienen Report »Inside IS«: »Der IS ist eine mörderische Terrororganisation [...]. Doch wenn die westliche Politik ehrlich wäre, müsste sie zugeben, dass Politiker wie Bush jr., Rumsfeld und Blair zumindest nach der Zahl ihrer Opfer noch schlimmere Terroristen sind. Wo immer sie militärisch intervenierten, starben qualvoll nicht tausende, sondern hunderttausende Zivilisten. Unzählige wurden gedemütigt, gefoltert und vergewaltigt.« Eine Konsequenz dieses weiterhin angewandten Verfahrens sind mit Sicherheit noch mehr anschwellende Ströme vielfach schwer traumatisierter Flüchtlinge. Ein weiteres Resultat: Manche Terrorisierte werden selbst zu Terroristen. Bleibt es bei all dem, müssen die weltweit angerichteten, massenhaften seelischen Verkrüpplungen immer gravierendere Folgen haben. Auch für Mitteleuropa. Ernst Federns »Psychologie des Terrors« ist deshalb heute – leider – aktueller als zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung.

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