Rezension zu Die Kunst der Moderne

psychosozial 38. Jg. (2015), Heft IV (Nr. 142)

Rezension von Matthias Oppermann

Das erste Gefühl, als ich das Buch aus der Hand legte, war: Es hat mich durch lange Zeiträume geführt. Das ist vorab kein unwichtiger Aspekt der Leseerfahrung mit diesem Buch. Indem der Autor Verbindungen knüpft, die einzelnen Kunstrichtungen aufeinander bezieht und die Kunst in die Zeitgeschichte einbettet, vermittelt er ein Gefühl von vergangener Zeit. Dies macht aus dem kunstgeschichtlichen Werk ein sinnliches Lesevergnügen.

Beim Aufschlagen des Buches fällt auf, dass es auf zweierlei Papier gedruckt ist. Der Text wird immer wieder durch Passagen aus hellerem Papier unterbrochen. Auf ihnen findet sich ein geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Überblick über die Zeiten, um die es im kunsthistorischen Teil geht. Was bewegte die Menschen, welche geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklungen fanden statt? Dies als eigenen Diskurs neben den kunsthistorischen gestellt, verortet ihn zeitlich und schafft einen Raum, beides zu verbinden. Eines wird beim Lesen des Buches deutlich: Kunst ist ein Phänomen, das als Reaktion und Gegenreaktion mit dem Kontext der politischen und kulturellen Entwicklung und den damit verbundenen Unsicherheiten und Erklärungsbedürfnissen zusammenhängt. Dies ist eigentlich ein Allgemeinplatz, kann aber angesichts eines schönen Bildes leicht vergessen werden. Wenn Freud dem modernen Menschen die Kränkung zugemutet hat, nicht Herr/Frau im eigenen Haus zu sein, so mutet dieses Buch der Kunst zu, nicht autonom zu sein.

Bocola beginnt das Buch mit der Darstellung von mehreren »Hauptthesen«, die er für entscheidend hält und unter deren Vertex er die Kunstgeschichte der Moderne durchdekliniert. Als erste These konstatiert er zwei Prinzipien künstlerischer Gestaltung. Es ist das, was Nietzsche als das dionysische und das apollinische Prinzip beschrieben hat. Gemeint ist, dass sich im Schöpfungsakt immer der »rauschhafte, unbewusste und unklare Schöpfungsdrang« (S. 19) und der Wunsch nach Komposition, nach Einbindung in einen eigenen Stil oder einen künstlerischen Kanon gegenüberstehen. Dieses Prinzip, mit dem der Künstler immer beschäftigt ist, wird von Bocola mit Bezugnahme auf Kohut auch psychologisch als Antagonismus zwischen exhibitorischem und idealisiertem Pol unseres Selbst beschrieben. Man mag als Psychoanalytiker über Kohuts Theorie unterschiedlicher Auffassung sein, aber die Bedeutung dieses Begriffspaares in der Betrachtung von Kunst wird von dem Autor im Verlauf des Buches immer wieder augenfällig und stringent deutlich gemacht. Für dieses Begriffspaar formuliert er auch einen kulturellen Aspekt. Der Künstler mit seinem individuellen Ausdruck trifft auf ein Publikum, das neue Kunst nur auf dem Hintergrund der eigenen kulturellen Verortung gustieren und verstehen kann. Bocola schreibt: »Auch jede neue künstlerische Sprache ist nur in dem Maße verständlich und damit brauchbar, als sie Gesetzmäßigkeiten befolgt, deren Kohärenz und innere Logik die Grundlage neuer Konventionen bilden können« (S. 27).

In dem Wort »brauchbar« zeigt sich meines Erachtens eine heikler Aspekt seiner Arbeit. Das richtige Verhältnis von exhibitorischem und idealisiertem Pol im Künstler selbst sowie zwischen individuellem künstlerischem Ausdruck und dessen Einbettung in idealisierte Strukturen beim Rezipienten werden an einigen Stellen des Buches zum Kriterium von Bewertungen der Kunst. Darüber kann man sicherlich nachdenken. So fehlt es vielleicht heute, in einer Zeit, in der künstlerisch alles möglich scheint, an Qualitätskriterien. Mir schien dieser Ansatz aber zeitweise zu einfach und zu konservativ.

Als weitere These beschreibt er den zyklischen Verlauf künstlerischer Entwicklung. Dabei sieht er die Moderne als ein eigenes kulturelles Zeitalter, in dem der »Glaube[n] an die Wissenschaft, das heißt an die rational fassbare, durchgehende Determiniertheit und Einheit allen Seins« (S. 29) zum Paradigma geworden ist. Diese Paradigmata, die jedem Zeitalter zugrunde lägen, prägen einmal das Welt- und Selbstbild der Zeitgenossen, »bilden die Grundlage jeweiliger Kulturen und finden in deren Kunst in repräsentativer Weise Gestalt und Ausdruck« (ebd.). Die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Paradigma nimmt nun einen zyklischen Verlauf, den der Autor mit dem menschlichen Lebenslauf vergleicht.

»Sie durchläuft Kindheit und Jugend (ihre archaische Epoche) und erreicht mit der Volljährigkeit die klassische Stufe ihrer Entwicklung [...] Die neue Idee hat ihre eigene Sprache, ihre eigene Gemeinschaft und ihre eigenen Konventionen gefunden. [...] Die gestalterischen und expressiven Möglichkeiten des neuen, einst unbekannten Paradigmas sind schließlich ausgeschöpft. Trotz wiederholter Regenerationsversuche verliert dieses mit der Zeit immer mehr an Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft, bis es schließlich durch eine neue Version, durch ein neues Paradigma ersetzt wird« (ebd.).

So beginnt jedes Zeitalter mit der Archaik, mündet in die Klassik und endet mit Manierismus, Barock und Spätbarock. Es gelingt dem Autor, diesen zyklischen Verlauf überzeugend auf die Moderne anzuwenden. Er schafft es dabei, im Leser neue interessante Zusammenhänge und Blickwinkel entstehen zu lassen und Kunst als einen Prozess von Entwicklung zu begreifen. Spannend wird der Text an jenen Stellen, an denen deutlich wird, dass ein neues Paradigma im Entstehen ist (z.B. zu Beginn der Moderne), weil die alten Paradigmen an Gültigkeit verloren haben, es aber noch keine künstlerischen Möglichkeiten/Sprache gibt, das Neue zu formulieren. Hier sucht die Kunst nach einer Sprache, um das noch nicht formulierbare Paradigma auszudrücken. Das erinnert an neue psychoanalytische Ansätze, in denen es um die Entwicklung einer Sprache für nicht oder nur schwach repräsentierte, seelische Erfahrungen und Zustände geht. Zu Beginn eines kulturellen Zeitalters ist die Sprache noch nicht entwickelt, wohingegen an deren Ende die Paradigmata und auch deren Sprache an Bedeutung verlieren. So beschreibt Bocola die aktuelle künstlerische Situation der Postmoderne, in der es zum »Zerfall der idealisierten Strukturen« (S. 602) kommt, aber noch keine neue ästhetische Ordnung (Archaik) gefunden scheint. Man wird sich dabei bewusst, dass die Vogelperspektive, aus der der Autor die Kunst der Moderne mit großem zeitlichem Abstand betrachtet, notwendig ist, um die dargestellten Zusammenhänge zu erkennen, in der aktuellen Situation aber nicht mehr gegeben ist. Heute stecken wir ohne Abstand mittendrin. Das, was der Autor über die Entwicklung der Postmoderne schreibt, ist sehr nachvollziehbar, kommt aber sehr entwertend daher. Hier hätte ich mir als Leser mehr Abstand gewünscht. Es ist ein wenig, als ob der Autor seinem eigenen Ansatz nicht zu glauben scheint. Denn in den Fragmentierungen der aktuellen Kunst könnten durchaus Formulierungen eines neuen Paradigmas stecken, die aber noch nicht erkannt werden können.

Eine dritte These beschreibt vier künstlerische Grundhaltungen: »Kunst ist eine Form geistiger Wirklichkeitsbewältigung; mit seinen Gestaltungen beantwortet der Künstler in metaphorischer Form vier elementare Fragen: ›– Was ist wirklich? – Wie hängt alles zusammen? – Wie gehöre ich selbst dazu? – Was hat das Ganze für einen Sinn?‹« (S. 31) Diesen Fragen entsprechen vier künstlerische Grundhaltungen:

»Die empirische oder realistische Haltung zielt darauf, die äußere, sichtbare Wirklichkeit wahrzunehmen, ihre wesentlichen Aspekte zu erkennen und ›in Besitz zu nehmen‹, d.h. in der Vorstellung neu entstehen zu lassen. Die bildnerische oder strukturelle Haltung zielt darauf, die äußere, sichtbare Wirklichkeit zu verstehen und zu ordnen, d.h. die Prinzipien zu erkennen und aufzuzeigen, nach denen die einzelnen Erscheinungen miteinander verbunden und aufeinander abgestimmt sind und auf Grund derer sie sich als Teile eines zusammenhängenden und umfassenden Ganzen erfahren lassen. Die expressive oder romantische Haltung zielt darauf, die innere, unsichtbare Wirklichkeit wahrzunehmen und auszudrücken, d. h. sichtbar zu machen. Die idealistische und symbolistische Haltung zielt darauf, die innere, unsichtbare Wirklichkeit zu deuten und zu bewerten, d.h. zu einem allgemeinen und umfassenden Sinn in Beziehung zu setzen« (S. 32).

Diese vier Grundhaltungen prägen nach Auffassung des Autors als vier parallel verlaufende Entwicklungslinien die künstlerische Entwicklung der Moderne. Damit ist das Koordinatensystem aufgespannt, dem die Leserin oder der Leser im Verlauf des Buches immer wieder begegnen und das im Buch mit Material und Leben gefüllt wird.

Man mag so einer strukturellen Haltung, mit den Kategorienbildungen, die immer auch etwas wegwischen, kritisch gegenüberstehen, aber der weitere Verlauf des Buches zeigt meines Erachtens, dass die Anwendung dieser Kategorien sinnvoll ist und nicht nur reduziert, sondern in der Lage ist, neue Zusammenhänge zu knüpfen. Die kunsthistorischen Betrachtungen beginnen dann im 18. Jahrhundert bei Francisco de Goya und enden bei der Kunst der Postmoderne. Hierbei werden die einzelnen Künstlerinnen und Künstler oder Stilrichtungen nicht nur lebendig beschrieben und in das oben beschriebene Bezugssystem eingeordnet, sondern auch als künstlerische Gegenbewegungen aufeinander bezogen. Besonders spannend und lesenswert fand ich die Abschnitte über Kandinsky, Beuys und die Entwicklungen der amerikanischen Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Sicherlich ist das Buch mit seinen sechshundert Seiten eine Herausforderung, aber eine lohnende, wie ich denke. Es regt an, über Kunst nachzudenken, und generiert neue Fragen an die Bilder, die bei der nächsten Ausstellung zu sehen sein werden. Und zuletzt bietet das Buch dem postmodernen Menschen den Trost von Zusammenhängen, auch wenn es vielleicht wieder hundert oder mehr Jahre braucht, um das, worin wir heute in der Kunstszene stecken, verstehen und in einen Gesamtzusammenhang einordnen zu können.

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