Rezension zu Migration und Trauma
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Rezension von Matthias Meyer
Thema
Migration und Flucht ist ein hoch aktuelles Thema. Das zeigt sich
einerseits an der aktuellen Debatte über Flüchtlinge ausgelöst
durch zunehmende humanitäre Katastrophen. Andererseits wird es
beispielsweise an der in Bremen derzeitig stattfindenden Debatte
über minderjährige Flüchtlinge und der Forderung nach einer
geschlossenen Unterbringung verdeutlicht. Diese Forderung hatte
eine Petition an die Bremische Bürgerschaft »Keine geschlossene
Unterbringung für junge Menschen im Rahmen der Jugendhilfe« zur
Folge. Hieran zeigt sich, wie wichtig ein Verstehensprozess im
Rahmen von Jugendlichen mit Migrations- und Fluchterfahrungen ist.
Nicht nur deshalb ist die zweite Auflage des bereits 2012
erschienenen Werkes von aktueller Bedeutung für pädagogische
Auseinandersetzungen.
Entstehungshintergrund
Das hier rezensierte Werk stellt die zweite Auflage der 2011 von
der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen
Dissertationsschrift dar.
Aufbau
Der Autor gliedert das Buch in drei Teile (I. Theoretische
Darstellung, II. Qualitative Untersuchung, III. Pädagogische
Konsequenzen und Ausblick) mit vom Umfang her unterschiedlich
gewichteten Kapiteln.
Teil I. Theoretische Darstellung
1. Einleitung: Zwangsmigration, Trauma und Pädagogik (6 Seiten)
2. Theoretische Grundlagen: Migration und Trauma (29 Seiten)
3. Zwangsmigration und Sequenzielle Traumatisierung in der
Adoleszenz (36 Seiten)
Teil II. Qualitative Untersuchung
4. Das Forschungsdesign: ein tiefenhermeneutisch-qualitativer
Zugang (22 Seiten)
5. Einzelfalldarstellungen (93 Seiten)
6. Zwölf subjektive Realitäten mit wesentlichen Gemeinsamkeiten (21
Seiten)
Teil III. Pädagogische Konsequenzen und Ausblick
7. Pädagogische Arbeit mit zwangsmigrierten, traumatisierten
Jugendlichen (20 Seiten)
8. Zusammenfassung und Ausblick (3 Seiten)
Inhalt
In Kapitel 1 beschreibt der Autor das Thema Zwangsmigration als
einen traumatischen Prozess und arbeitet bereits hier die
Wichtigkeit einer pädagogischen Perspektive auf das Thema heraus,
dies greift er in Kapitel 7 wieder auf. Die Arbeit beginnt mit
einer Textstelle aus einem für den empirischen Teil der Arbeit
geführten Interview mit einem 16-jährigen Flüchtling. Der Zugang
über das Individuum wird nicht nur in der theoretischen Fundierung,
sondern insbesondere auch durch die umfangreichen
Einzelfalldarstellungen im weiteren Verlauf der Arbeit deutlich.
Der Autor begründet sein Vorgehen folgendermaßen: »Solcherlei
Konzeptionen müssen stets den Blick auf das Individuum richten. Nur
ein solcher erlaubt den Einbezug lebensgeschichtlicher Traumata in
pädagogisches Handeln« (S. 16). Der Autor verbindet mit seiner
Forschung die Bereiche Psychotraumatologie, Migrationsforschung und
Pädagogik. Das erste Kapitel endet mit einem Überblick über die
vorliegende Arbeit.
In Kapitel 2 richtet der Autor das Augenmerk auf die theoretischen
Grundlagen in Form einer Auseinandersetzung mit Migration (2.1) und
Trauma (2.2). Es werden unterschiedliche Formen von Migration in
Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Aspekten thematisiert,
gefolgt von einer psychologischen sowie einer soziologischen
Perspektive auf Migration. Nach einer kritischen Auseinandersetzung
mit dem psychiatrischen Zugang zum Traumabegriff wird der
psychoanalytische Zugang zum Traumabegriff dargestellt. Der Autor
arbeitet die Bedeutung von Freuds Traumabegriff und von der
Holocaust-Forschung für ein spezifisches Verständnis »von Trauma im
Kontext von Migration und Flucht« (S. 38) heraus. Er plädiert
hierbei für eine psychoanalytische Theoriebildung, die offen für
»kulturell verschiedene Dimensionen bestimmter äußerer Ereignisse
und individueller Belastung« (S. 40) ist. Bereits hier deutet sich
die sinnvolle Verbindung zum Konzept der sequenziellen
Traumatisierung als weiterer theoretischer Bezugsrahmen an. Der
Autor bezeichnet die Erweiterung der drei Sequenzen von Keilson
(1979) durch Becker (2006) auf sechs Sequenzen als einen
»geeigneten Rahmen zum Verständnis der subjektiven Realitäten
zwangsmigrierter Jugendlicher« (S. 47).
Nach einführenden Hinweisen zu sequenzieller Traumatisierung und
Zwangsmigration stellt der Autor in Kapitel 3 »typische«
lebensgeschichtliche Erfahrungen von traumatisierten und
zwangsmigrierten Jugendlichen dar und betont, dass bei solchen
Beschreibungen »angesichts der großen individuellen Unterschiede
Zurückhaltung geboten« (S. 50) ist. Dennoch sieht er in bestimmten
Bedingungsfeldern Ähnlichkeiten bei der benannten Gruppe und
beschreibt im Folgenden vier solche Bedingungsfelder: Gewalt, Krieg
und Flucht stellt dabei das erste Bedingungsfeld dar, gefolgt von
den Bedingungsfeldern Aufenthaltsrecht, Familie und Schule. Diese
lebensgeschichtlichen Erfahrungen dienen einem besseren Verständnis
bezüglich traumatisierten und zwangsmigrierten Jugendlichen und
bilden gleichzeitig den theoretischen Rahmen für den empirischen
Teil der Arbeit.
Im zweiten Teil der Arbeit, der qualitativen Untersuchung, stellt
der Autor zunächst das Forschungsdesign (Kapitel 4) dar. Hier wird
der Aspekt lebensgeschichtlicher Aspekte für einen
Forschungsprozess thematisiert, die damit einhergehende
Notwendigkeit einer theoretischen Rahmung für ein »tiefer
gehende[s] Verständnis der inneren Realitäten der Jugendlichen« (S.
88) herausgestellt und auf die Bedeutsamkeit einer »Reflexivität
des Forschers« (S. 88) hingewiesen. Anschließend wird ausführlich
auf das Szenische Verstehen mittels eines klassisch-therapeutischen
sowie eines pädagogischen Zugangs erläutert. Als Interviewform
wählt der Autor das themenzentrierte Interview und begründet diese
Form des Interviews u.a. mit der Ermöglichung einer
»vertrauensvolle[n] Interaktion« (S. 95) und der Orientierung »an
subjektiven Realitäten« (S. 95). Zudem ermöglicht es aufgrund
seines Leitfadens, »die relevanten Themen im Blick zu behalten« (S.
95). Für eine vertrauensvolle Atmosphäre während des Interviews
sind mindestens ein Vorgespräch mit der zu Interviewenden bzw. dem
zu Interviewenden geführt worden. Aufgrund dieser Vorgespräche
wurde auch geklärt, welche Themen für die Befragte bzw. den
Befragten mit einem Tabu belegt sind. Es »soll eine ungewollte
Auseinandersetzung mit traumarelevanten Inhalten im Rahmen des
Interviews, der keine adäquate Unterstützung folgen kann, vermieden
werden« (S. 99). Des Weiteren wird hier auf den Auswertungsprozess,
der auch eine Auswertung des Datenmaterials in einer
Forschungsgruppe beinhaltet, sowie auf die Gütekriterien
eingegangen und es wird die Grundgesamtheit und die Auswahl der
Interviewpartnerinnen und -partner beschrieben.
Darauf folgt eine ausführliche und eindrückliche Darstellung von
insgesamt sechs Einzelfalldarstellungen (Kapitel 5). Für dieses
Werk hat der Autor sechs von insgesamt zwölf Falldarstellungen
ausgewählt. Alle zwölf Darstellungen finden sich in der
Promotionsschrift des Autors, hierauf wird in Fußnote 3 (S. 109)
verwiesen. Zu jedem Einzelfall gibt der Autor einen kurzen
Überblick zum biografischen Hintergrund der Jugendlichen bzw. des
Jugendlichen, gefolgt von einer Beschreibung zur
Interviewsituation. Danach folgt eine detailliertere
Auseinandersetzung mit zentralen Bereichen subjektiven Erlebens der
interviewten Personen, hierauf liegt auch der Fokus der
Einzelfalldarstellungen. Jede Falldarstellung endet mit
abschließenden Überlegungen. In den Einzelfalldarstellungen
besticht die auf der einen Seite eindrucksvolle Schilderung von
Ausschnitten aus der Lebens- und Fluchtgeschichte, auf der anderen
Seite die theoretische Rückbindung und Reflexion des
Datenmaterials. Nachfolgend werden exemplarisch drei der sechs
Falldarstellungen kurz vorgestellt.
Es wird von einer 17-jährigen Jugendlichen berichtet, die wenige
Monate nach ihrer Geburt mit ihrer Familie aus der Osttürkei nach
Deutschland fliehen musste. In der Darstellung wird die
Unsicherheit der Jugendlichen bezüglich emotionaler Themen
verdeutlicht, darüber hinaus wird die hohe Belastung aufgrund der
familiären Situation deutlich: Ceylan, so der anonymisierte Name
der Jugendlichen, übernimmt die Aufgabe den rechtlichen
Aufenthaltsstatus der Familie zu sichern, was ihr gleichzeitig aber
nur durch eine Ablösung von der Familie möglich wäre. Die aus dem
Interviewmaterial interpretierte Wut, die sie letztendlich gegen
sich selbst richtet, wird durch eine Selbstzuschreibung von Schuld
bezüglich des nicht vorhandenen Aufenthaltstitels erweitert. Wut,
Schuld und Scham bezogen auf die eigene Lebenssituation und die
Duldungssituation sind zentrale Themen dieser Falldarstellung. In
Ceylans Leben findet eine Umkehrung der Rollen innerhalb der
Familie statt, sie fühlt sich verantwortlich und zuständig für die
Sicherung des Aufenthalts der Familie in Deutschland. Sie übernimmt
die Verantwortungsrolle und wägt ab, was sie ihren Eltern an
Informationen zumuten kann. Die Auswertungsgruppe empfindet hier
einen enormen auf Ceylan lastenden Druck. So sind es die guten
schulischen Leistungen von Ceylan, die sich als eine abhängige
Variable bezogen auf das Familienüberleben darstellen. Es zeigt
sich aber vor allem auch eine institutionelle
Verantwortungslosigkeit in der Form, dass ein Einsetzen für Ceylan
und ihre Familie geknüpft ist an die Leistungserbringung in der
Schule. Die Tatsache, dass Ceylan nicht offen über ihre Situation
mit ihren Eltern sprechen kann oder möchte und dass ihr im
schulischen Kontext dies ebenfalls nicht möglich ist – so spricht
sie beispielsweise auch nicht mit ihrer besten Freundin über ihre
Lebenssituation – stellt wichtige Anknüpfungspunkte für
pädagogische Handlungsansätze dar.
Ein ebenfalls 17-jähriger Jugendlicher, Farid, der vor fünf Jahren
(zum Zeitpunkt des Interviews) aus Afghanistan geflohen ist, kam
allein nach Deutschland. In der Interviewsituation ist Farid nicht
unbedingt wichtig, wer das Interview im Nachhinein liest, vielmehr
geht es ihm um die Ausklammerung bestimmter für ihn belastender
Thematiken. Die zentralen Bereiche seines subjektiven Erlebens sind
zum einen »die notwendige Abwehr gegenüber traumatischen
Fluchterfahrungen« (S. 128), des Weiteren die fehlende Beziehung
innerhalb seiner Peer Group, was er im Interview direkt damit
begründet, dass niemand von seinem Erleben der Flucht eine
Vorstellung hat. Er fühlt sich allein mit seinen Erfahrungen, die
er mit niemandem teilen kann. Gleichzeitig kann er sich auch keine
Vorstellung davon machen, wie Andere über ihn denken. Es fehlt ihm
»in der Terminologie Meads (1934) […] die Vorstellungen des
generalisierten Anderen« (S. 132). Eigene Vorstellungen zu seiner
Zukunft unterbindet Farid. Es werden hierzu mehrere Aspekte
benannt, die dies bekräftigen: zum einen die Schutzfunktion vor
einer Überflutung traumatischer Erfahrungen, dann die bisher nicht
bearbeitete Trennung von der Familie, eine fehlende sichere Bindung
lässt ihn »keine autonomen Zukunftswünsche entwickeln« (S. 133),
und schließlich die Abgrenzung von sich und der realen Lebenswelt.
Die Ungewissheit bezüglich des Aufenthaltsstatus nach Vollendung
seines 18. Geburtstages erschwert zunehmend die Entwicklung einer
Zukunftsperspektive. Ein weiterer zentraler Bereich des subjektiven
Erlebens ist die »(gewollte) Beziehungslosigkeit und die
Verhinderung größerer Lernerfolge in der Schule« (S. 136). Der
Autor kommt hier zu der Feststellung, »dass die Schule noch nicht
die richtigen Angebote bereitstellt, um Schülerinnen und Schülern
wie Farid näher zu kommen« (S. 138). In den abschließenden
Überlegungen deutet der Autor – auch unter Bezugnahme auf die
Auswertungsgruppe – auf eine Verhinderung emphatischen Einfühlens
durch Bezugspersonen aufgrund Farids eigenem Verdrängungsprozess
hin.
Ibrahim, ein 16-jähriger Jugendlicher, floh im Alter von drei
Jahren mit seiner Familie aus Syrien, die als Kurden einer
ethnischen Minderheit im Heimatland angehörten. Aufgrund starker
psychosozialer Schwierigkeiten besucht Ibrahim seit der siebten
Klasse eine Förderschule. Im Abschnitt zur Interviewsituation
erfährt die Leserin bzw. der Leser etwas über ein Gefühl der
Hilflosigkeit sowie die Schwierigkeit, sich in den Jugendlichen
einfühlen zu können. Die zentralen Bereiche des subjektiven
Erlebens beginnen mit der Schilderung von »Zweifel über den
Realitätsgehalt von Ibrahims Berichten« (S. 142). Ganz anders als
bei den anderen Jugendlichen wird hier ohne weitere Aufforderung
sehr detailliert von der Flucht berichtet. Es werden von dem Autor
unterschiedliche Symboliken herausgearbeitet, so zum Beispiel der
hohe Schnee, durch den die Familie auf der Flucht gelaufen ist. »In
diesem Bild des Laufens im brusthohen Schnee verdichten sich
retrospektiv demnach verschiedene sequenziell traumatische
Erfahrungen« (S. 144). Des Weiteren wird auch hier deutlich, welche
Rolle Scham und Verletzung in einem Leben als Flüchtling spielen.
Aufgrund diskriminierender Erfahrungen in Deutschland, aber auch
der »transgenerational tradierten Diskriminierung der kurdischen
Minderheit« (S. 147), bekommen Hass und Gewalt eine Bedeutung für
Ibrahim, die auch im Interview deutlich wird. Bezogen auf den
schulischen Aspekt wird anhand dieser Einzelfalldarstellung »die
Rolle des haltenden Lehrers« (S. 150) thematisiert. Die Schule wird
von Ibrahim grundsätzlich als wichtig erachtet, allerdings kommt es
häufig zu Schwierigkeiten zwischen Ibrahim und seinen Lehrerinnen
und Lehrern sowie seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Dabei hat
»die Schule über den Leistungswillen hinaus eine spezifische
strukturierende Funktion« (S. 153) für Ibrahim. Bezogen auf das
Aushalten der Lehrkraft wird wiederum in Anlehnung an eine
Textpassage aus dem Interview verdeutlicht, wie wichtig ihm
einerseits der Halt ist, dieser aber andererseits oft durch Brüche
wie beispielsweise häufiges Verschlafen konterkariert wird. Als
weiteres subjektives Erleben werden der »übergroße Wunsch nach
Assimilation und die Fremdheit« (S. 154) thematisiert. Anhand
dieser Fallbeschreibung wird eindrücklich verdeutlicht, inwiefern
äußere Gewalthandlungen als Ausgleich dienen können, eigene innere
Traumatisierungen »nicht selbst passiv erleiden zu müssen« (S.
158).
Im Kapitel 6 werden alle zwölf geführten Interviews, nicht nur die
in Kapitel 5 dargestellten, in den Auswertungsprozess mit
einbezogen. An dieser Stelle werden zentrale Gemeinsamkeiten
herausgearbeitet. Denn trotz der grundsätzlichen Verschiedenheit
der Jugendlichen, »kehren in fast allen Interviews spezifische
Themenbereiche wieder« (S. 203). Es wird auf die schulische
Situation Bezug genommen, insbesondere Leistung und eine
Erfolgsorientierung scheinen bei den Jugendlichen eine bedeutende
Rolle zu spielen. Es ist teilweise eine Mischung aus wirklich
vorhandenen Vorteilen, die ein Erfolg in der Schule bringt, und
fantasierten Vorteilen zu erkennen. Auch scheinen die familiäre
Situation und der Leistungsgedanke der Jugendlichen in einem
Zusammenhang zu stehen. Das Innen und das Außen sowie die
Selbsterfahrung und Fremderfahrung ziehen sich durch die Analyse.
Belastungserfahrungen werden nicht nur Anderen nicht mitgeteilt,
sie werden auch versucht »von sich selbst fernzuhalten« (S. 211).
Angst und Scham sind präsent und gleichzeitig besteht ein Bedürfnis
nach Normalität, was mit einer teilweisen Leugnung der eigenen
Vergangenheit einhergeht. Es werden zwar einzelne Bezugspersonen
von den Jugendlichen benannt, der Aufbau eines
Vertrauensverhältnisses erscheint angesichts der Verschlossenheit
der Jugendlichen allerdings schwierig. Eigene Zukunftsperspektiven
können nur schwer aufgebaut werden.
Im dritten und letzten Teil (Kapitel 7 und Kapitel 8) der Arbeit
benennt der Autor neben einem Ausblick vor allem pädagogische
Konsequenzen für die Arbeit mit zwangsmigrierten, traumatisierten
Jugendlichen. Zunächst: »Die Verschiedenheit der
lebensgeschichtlichen Erfahrungen« (S. 227) erlaubt keine
»Pauschalisierungen« (S. 227). Der Autor spricht sich hier
dezidiert gegen »unflexible Handlungsanleitungen« (S. 227) aus. Und
dennoch bedarf es einer Formulierung von sinnvollen Kategorien, die
der Autor in Kapitel 7 ausformuliert, aber dies bei einem
gleichzeitigen individuellen Fallverstehen – es bedarf sowohl des
einen als auch des anderen. Im weiteren Verlauf wird die
Schwierigkeit bezüglich eines Beziehungsaufbaus in der Institution
Schule auf der einen Seite und seiner Notwendigkeit auf der anderen
Seite thematisiert. Der Autor spricht sich hier für einen
erforderlichen Paradigmenwechsel aus. »Triebbedürfnisse,
Emotionalität und Individualität werden im (teils notwendigen)
Zwangscharakter der Schule eher, manchmal gänzlich, unterdrückt«
(S. 231). Ziel pädagogischer Arbeit sollte es sein, einen
»haltenden Rahmen zu schaffen« (S. 232). Dass dies Veränderungen im
Bereich »Professionalisierung« sowie »Organisationsentwicklung«
voraussetzt, wird vom Autor im letzten Abschnitt behandelt. Von
entscheidender Bedeutung dabei sind Reflexionskompetenz sowie
Supervision.
Fazit
Das hier vorgestellte Werk setzt sich mit dem hoch aktuellen Thema
von Migration und Flucht und damit einhergehender Traumatisierung
auseinander. Es geht, wie der Untertitel dies bereits verdeutlicht,
um ein »Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit
jungen Flüchtlingen«. Der Autor beginnt sein Werk mit dem
Interviewausschnitt eines 16-jährigen Flüchtlings. Sechs
Fallgeschichten prägen dieses empirische Werk, welches einerseits
auf einer theoretischen Darstellung zu Migration und Trauma sowie
zur sequenziellen Traumatisierung aufbaut, andererseits durch einen
tiefenhermeneutisch-qualitativen Zugang die Perspektive auf das
Individuum lenkt. Der Autor arbeitet als pädagogische Konsequenzen
zentrale Aspekte heraus: das szenische Verstehen, das Halten und
Zumuten (fördernder Dialog) sowie den sicheren Ort. »Grundlage und
Ziel gleichermaßen muss deshalb stets der haltende Rahmen sein, der
ein sensibles Angebot der Reflexion eigenen Erlebens und Verhaltens
ermöglicht« (238). Er macht deutlich, dass »gerade für den
schulischen Bereich […] erhebliche Desiderate« (16) im Bereich
Migration und Trauma bestehen sowie dass eine gemeinsame
Forschungstradition von Psychotraumatologie, Migrationsforschung
und Pädagogik fehlt. In Bezug auf Datler (1995), Leber et al.
(1989) und Heinemann (2003) beschreibt der Autor das vorliegende
Werk folgendermaßen: »Damit versteht sich die vorliegende
Untersuchung als Teil von kasuistisch orientierter
psychoanalytisch-pädagogischer Forschung, deren Beitrag zur
Entwicklung adäquater pädagogischer Konzepte wesentlich in der
Falldarstellung und -problemlösung besteht« (S. 89). Damit deutet
sich eine Schwerpunktsetzung auf den Einzelfall an, die sich nicht
allein aufgrund des Seitenumfangs in der Arbeit auch
wiederspiegelt.
Die sechs eindrucksvoll geschilderten Einzelfalldarstellungen von
jugendlichen Flüchtlingen tragen zu einem Verstehensprozess sowie
zu einem Verständnis bezüglich Migration und Flucht bei. Darüber
hinaus werden pädagogische Konsequenzen sowohl für den
institutionellen als auch für den professionellen Kontext aus einer
psychoanalytisch orientierten Pädagogik herausgearbeitet.
Rezensent
Dipl.-Sozialpäd. Matthias Meyer
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Pädagogik bei
Verhaltensstörungen im Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz
Universität Hannover
Zitiervorschlag
Matthias Meyer. Rezension vom 29.05.2015 zu: David Zimmermann:
Migration und Trauma. Pädagogisches Verstehen und Handeln in der
Arbeit mit jungen Flüchtlingen. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015.
2. Auflage. ISBN 978-3-8379-2180-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/18356.php, Datum des
Zugriffs 25.01.2017.
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