Rezension zu Psychoanalyse in der Türkei
psychosozial 38. Jg. (2015), Heft IV (Nr. 142)
Rezension von Vera Saller
Hale Usak-Sahin hat ein Buch geschrieben über Psychoanalyse in der
Türkei. Das Interesse, das die Tochter von nach Österreich
ausgewanderten türkischen Migranten dazu bewegte, war gespeist aus
Fragen, die sich auch uns nicht-türkischstämmigen Interessierten
unmittelbar stellen: Gibt es die Psychoanalyse in der Türkei, kann
die Psychoanalyse als Institution westlich-aufklärerischer
Provenienz in der Türkei oder – allgemeiner – in einer vom Islam
geprägten Kultur überhaupt Fuß fassen, respektive heilend wirken?
Wie erlernt eine Studentin, die in der Türkei aufgewachsen ist,
die Psychoanalyse und wie steht es mit der Rolle der Frau, dem
Patriarchalismus, den Familientabus, wie beeinflussen sie
psychoanalytische Behandlungen. Und zu guter Letzt: wie wird die
Rolle der Sexualität, die zumindest bei der frühen Psychoanalyse
so sehr im Vordergrund stand, in der Türkei aufgenommen, wo über
Sexualität nicht gesprochen werden darf und die Praxis der
Sexualität so verborgen wie möglich bleiben soll? Hinter der
Erkundung der Psychoanalyse-Geschichte in der Türkei stehen also
Fragen danach, wie türkische Kultur und Psychoanalyse zusammen
passen.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten geht die Autorin den
Spuren nach, die die Beschäftigung türkischer Interessierter mit
der Psychoanalyse in der Frühzeit hinterlassen haben, das heißt
Verbindungen, die zu Lebzeiten Freuds bis in die Kriegszeit hinein
bestanden. Der zweite Teil, der die Institutionalisierung der
Psychoanalyse in der Türkei von ihren Anfängen nach dem Krieg bis
heute nachzeichnet, unterscheidet sich methodisch stark vom ersten,
basiert er doch auf ausführlichen Interviews, die die Autorin mit
den Akteuren dieses Prozesses geführt hat. Usak-Sahin, die von der
Biografieforschung kommt, bezeichnet diese Interviews als Mischform
von narrativen Interviews und Experteninterviews. Da die
Institutionalisierung der Psychoanalyse unter der Ägide der IPA
erst in der Zeit der Forschung von Usak-Sahin ihrem Ende
entgegenging, könnte man auch sagen, dass sie hier von der
Geschichte zur Schilderung der aktuellen Lage wechselt.
Doch beginnen wir mit der frühen Geschichte. Als Hintergrundfolie,
auf der sich das erste Interesse an der neuartigen Therapie aus
Wien regte, schildert die Verfasserin die stark an der biologisch
denkenden, deutschen Psychiatrie orientierten Anfänge der
türkischen Psychiatrie in der Zeit der Gründung der Republik
unter Atatürk. Sie macht uns mit Izeddin Sadan bekannt, einem
einzelgängerischen psychiatrischen Kollegen des damaligen Opinion
Leaders Mazhar Osman Uzman. Sadan war sehr an Freuds Psychoanalyse
interessiert, versuchte, Neuerscheinungen zu verfolgen, hat einige
Schriften übersetzt und er hat einen Artikel in der Imago-Ausgabe
des Jahres 1932 platzieren können. Sein Artikel analysiert unter
dem Titel »eine mohammedanische Legende« eine volkstümliche
Erzählung, in deren Verlauf ein Sufi-Mönch, der die Tochter des
Sultans geehelicht hat, schließlich im Kampf um die Macht dem
Sultan unterliegt und stirbt. Die Geschichte wird im Sinne Freuds
als ödipal gedeutet und um zu einem für die mitteleuropäischen
Verhältnisse befriedigenden Ausgang zu kommen, verlängert Sadan die
Erzählung um die Geschichte des Sohnes des Paares, sodass letztlich
doch der Vater (der Sultan) besiegt wird vom Sohn (eigentlich vom
Sohn des Helden). Wie die abgebildeten und gedruckten Briefe und
Karten von Freud zeigen, hat letzterer sich über diesen Support
für die Universalität des Ödipuskomplexes aus der Türkei
freundlichst bedankt.
Anders ging es einer der beiden Emigrantinnen, Flüchtlingen aus
dem Dritten Reich, die beide nur wenige Jahre in der Türkei
verbrachten und deren Lebensgeschichte Usak- Sahin im nächsten
Kapitel erzählt. Die Autorin schildert die schwierigen Bedingungen,
die die Flüchtlinge aus Deutschland im jungen Atatürk- Staat
vorfanden. Sie waren als Angehörige der Oberschicht gut ausgebildet
und berufstätig gewesenen; hier war es kaum möglich, in den
qualifizierten Berufen weiterzuarbeiten. Edith Weigert-Vowinckel,
eine Analytikerin, die ihre Lehranalyse in Berlin bei
Müller-Braunschweig absolviert hatte, litt sehr unter der
Isolation von ihren Berufskollegen und sandte Freud circa 1936 oder
37 von Ankara aus eine Arbeit zur Veröffentlichung in der Imago, um
mit der analytischen Gemeinde im Gespräch zu bleiben. Sie erhielt
eine kalte Absage, wie sie später erfuhr, hatte sie den alten Mann
erzürnt, weil sie sein Totem und Tabu nicht erwähnte und nach
anderen Gründen als dem Ödipuskomplex forschte, um die Sitte der
Selbst-Kastration zur Verehrung der großen Mutter in matriarchalen
Urzeiten zu erklären.
Was für eine Ironie: der türkische Mann erreichte mit seiner
Unterwürfigkeit die Bewunderung und Dankbarkeit Freuds, während
die Kollegin deutscher Zunge mit Studien zu den psychischen
Voraussetzungen des Matriarchats (an das man damals allgemein noch
glaubte), denen sich die Emigrantin im patriarchalen Land widmete,
eine Abfuhr erhielt! Das Buch schenkt dem aufmerksamen Leser immer
wieder solch unglaubliche und widersprüchliche Anekdoten. Die
Autorin hat sich auch kundig gemacht und stellt zum Beispiel
anlässlich der kruden Interpretation des Herrn Sadan fest, dass
heutige Analytiker, sie erwähnt Mohammad Ardjomandi und Edith
Seifert, den Ausgang des Ödipus in der schiitischen Kultur anders
beurteilen, und spielt so indirekt darauf an, dass es Sadan
offenbar sehr wichtig war, nicht in Widerspruch zum Meister zu
treten. Leider hat die Autorin sich indessen einer eisernen
Neutralität verschrieben, sodass sie diese Ungereimtheiten der
Geschichte gleichmütig erzählt oder oft auch nur sehr kurz
streift, ohne sie zu interpretieren. Natürlich wäre jede
Interpretation Spekulation, aber die Leserin hätte doch gerne die
anregenden Themen ein wenig eingehender vorgeführt gewünscht und
dazu hätte auch gehört, dass die Autorin ihre Gedanken dazu
preisgibt. Ich glaube, wenn sie sich mehr auf solche Details
eingelassen hätte, hätte der interessierte Leser mehr darüber
erfahren, wie türkische Kultur und Psychoanalyse zueinander passen
oder was für andere Effekte diese Begegnung produziert. Natürlich
ließen sich bei einem derart breiten Thema und einer so großen
Zeitspanne Bezüge in alle möglichen Richtungen machen, sodass ich
mir schon fast ungerecht vorkomme, wenn ich anmerke, dass zur
Geschichte von Izeddin Sadan ein kurzer Blick darauf, wie die
Psychoanalyse zu jenen Zeiten allgemein mit anderen Kulturen
umging, lohnend gewesen wäre. So hätte ein Blick in die Geschichte
der Ethnopsychoanalyse gezeigt, dass die Suche nach einem Beweis
für die Universalität des Ödipus-Komplexes nicht nur ein
türkisches Phänomen war.
Wie sehr die Psychoanalyse sich verändert, wenn sie in eine andere
Kultur übersetzt wird, respektive wie sehr sich gewisse Prozesse,
etwa jene der Institutionalisierung, gleichen, das ist eines der
Themen, die untergründig das Buch durchziehen. Lobenswert, dass
Usak-Sahin deshalb auch versucht herauszufinden, was bei den
Übersetzungen von Freud ins Türkische verloren ging, respektive
wie sich die Psychoanalyse auf Türkisch anhört. Ganz richtig
kritisiert und bedauert sie, dass die Werke fast ausnahmslos aus
der englischen Standard Edition ins Türkische übersetzt worden
sind. Die Kritik, die Bettelheim 1984 an der englischen Übersetzung
von James Strachey vorbrachte, gilt deshalb im Großen und Ganzen
auch für die Werke in Türkisch, wie sie überzeugend darlegt.
Wobei die lateinischen Fremdwörter hier in ein Umfeld fallen, wo es
ähnliche oder vom Lateinischen abgeleitete Begriffe überhaupt
nicht gibt. Usak-Sahin diskutiert und stellt einige der gängigen
Fachtermini, wie sie heute in psychoanalytischen Werken in der
Türkei gebraucht werden, deshalb infrage. Natürlich ist das Thema
damit nicht ausgereizt, vor allem deshalb, weil es sich ja bei der
türkischen Sprache um eine nicht-indogermanische Sprache handelt
und es deshalb Anlass gäbe zu fragen, wie Türkisch und Deutsch
sich strukturell unterscheiden, welche Metaphern und welche
syntaktisch- rhetorischen Formen eingesetzt werden, um Emotionales
intersubjektiv verständlich zu machen und ob es da allenfalls
Spezifisches gibt, was unübersetzbar bleibt. Aber das wäre wohl
ein anderes Projekt und hätte den Rahmen der vorliegenden
Untersuchung gesprengt.
Eine kritische Bemerkung zur Sprache der Autorin selbst sei
indessen erlaubt. Vor allem in den Abschnitten, in denen die
Autorin direkte Rede aus den Interviews anführt, ist eine gewisse
Holprigkeit nicht zu übersehen, die – so vermute ich – von der
Übersetzungsarbeit der Autorin herrührt, denn die Interviews
wurden großenteils auf Türkisch geführt. Hier hätte eine
professionelle Übersetzerin oder eine gute Redaktion dem Buch
gutgetan.
Wir kommen zum zweiten Teil der Untersuchung, in dem die Autorin in
ihrem eigentlichen Element ist. Wie sie im Übergang vom ersten zum
zweiten Teil in ihrer erfrischend ehrlichen und unprätentiösen
methodischen Auseinandersetzung verrät, war für sie nach ihrem
ersten Buch, in dem sie türkische Migrantinnen der Generation
ihrer Mutter in Österreich interviewt hat, klar, dass sie auch ihre
weitere Forschung mit der Methode der lebensbiografischen
Interviews ausführen möchte. Sie hat also ziemlich systematisch
alle heute in der Türkei psychoanalytisch Arbeitenden aufgesucht
und sie um ein Interview gebeten. Es ist ihr gelungen, aus dieser
sicher ziemlich unüberschaubaren, riesigen Datenmenge eine
Geschichte zu formen, die sich an der Institutionalisierung der
Psychoanalyse in der Türkei orientiert. Man erfährt, dass
Analytiker in der Türkei, ganz ähnlich wie solche aus den Staaten
des ehemaligen Ostblocks, sich von der IPA dahingehend haben
begleiten lassen, dass über Shuttleanalysen ein Stock von
IPA-anerkannten Lehranalytikern gebildet wird, die dann als
Lehrpersonen für türkische InteressentInnen fungieren, sodass mit
der Zeit IPA-genehme Institute entstehen.
Usak-Sahin hat die Struktur, die sich aus den Faktoren
Ausland-Türkei, Lebensmittelpunkt und Anerkennung durch die IPA
ergab, aufgegriffen, um dem Leser ein geordnetes Bild ihres
Datenmaterials zu präsentieren. Sie ordnet die Analytiker, die mit
Patienten in der Türkei analytisch arbeiteten und die sie
persönlich sprechen konnte, also die Analytiker der Nachkriegsjahre
bis heute, in drei Gruppen. Diese Hierarchisierung nach Alter und
Generation rechtfertigt sich auch daher, weil die Jüngeren jeweils
von den Älteren lernten, wenn auch nicht ausschließlich. Konsequent
ordnen sich die Gruppen danach, wie und wo die Therapeuten ihre
Analysen absolvierten. Da gibt es die erste Gruppe, sechs
Gründerfiguren, die ins Ausland mussten, das heißt, die ihren
Lebensmittelpunkt über lange Jahre im Ausland hatten, und erst in
späteren Lebensjahren, veranlasst durch Umstände verschiedenster
Art, in die Türkei zurückkehrten. Was gleich ist an ihren
Lebenswegen, ist, dass sie – zurück in der Türkei – Interessierte
um sich scharten und Psychiater und Psychologen in Lehranalyse
nahmen, respektive Gruppen in der Lektüre psychoanalytischer
Literatur begleiteten und Fälle besprachen. Davon abgesehen ist
diese Gruppe, die nur aus sechs Personen besteht, überhaupt nicht
homogen. Gemäß meinem Eindruck liegt in der Schilderung dieser
Einzelpersonen die Stärke der lebensbiografischen Annäherung.
Insbesondere die Narrative zweier großen alten Damen haben mir
gefallen, beleuchten sie doch sehr schön die verschiedenen
Strategien, mit denen Migranten die Gegensätze von Ost und West in
ihren eigenen Persönlichkeiten verschmelzen, und zeigen auf, wie
stark diese Taktiken auch mit Persönlichkeitsmerkmalen der
Interviewten zusammenfallen. Da ist auf der einen Seite die
typische Istanbulerin Günsel Koptagel-Ilal, »mit einem
freundlichen Lächeln, das sie während des ganzen Interviews auf dem
Gesicht trug« (S. 128), die sich selbst als Glückskind darstellt.
Sie möchte die Interviewpartnerin davon überzeugen, dass
Französisch für sie eigentlich gar keine Fremdsprache gewesen sei,
weil sie schon eine westlich ausgerichtete Schule in Istanbul
besucht hat. Daneben spürt man die verhaltene Trauer der eher
verschlossenen Schwarzmeerküstenbewohnerin Ulviye Etaner, die sich
im Ausland manchmal abgelehnt und ausgegrenzt fühlte und die sich
zuweilen fragte, wie sie ihre Wertvorstellungen ihren deutschen
Kolleginnen verständlich machen könne. Dass diese Unterschiede sehr
komplexe Ursachen haben und dass sie Kultur, Schicht und
Persönlichkeit gleichermaßen durchziehen, sieht man daran, dass
Frau Etaner, die Kollegin von der Schwarzmeerküste, sich
angesichts der fortschreitenden Institutionalisierung der
Psychoanalyse in der Türkei letztendlich zurückzog und sich auch
dort irgendwie ausgeschlossen fühlte.
Die zweite Generation der fortschreitenden Institutionalisierung
hat ihre Ausbildungsanalysen wie bereits angedeutet im
Pendler-Modus gemacht und zwar mehrheitlich in Frankreich. Gemeint
ist damit, dass die Auszubildenden ihren Lebensmittelpunkt nicht
von der Türkei ins Ausland verlegten, sondern in vereinzelten
verlängerten Wochenenden Lehranalytikerinnen in Paris oder in
Zypern besuchten. In Zypern bot Vamik Volkan, der international
bekannte, in den Staaten tätige Analytiker türkischzypriotischer
Herkunft, zeitweise Analyseplätze für an Psychoanalyse
interessierte Türken und Türkinnen an. Für die jüngste
Generation der Analytiker schließlich ist es nun möglich, eine
IPAgemäße Ausbildung in der Türkei zu absolvieren.
Das Lektüreerlebnis flacht zum Schluss, wo es mehr und mehr darum
geht, wie die Psychoanalyse regelkonform institutionalisiert werden
kann, eher ab. Nebengeräusche und Konflikte, die zu diesen
Prozessen gehören, werden zwar angedeutet, die Autorin wollte aber
auch hier neutral bleiben und versucht, sich keiner Seite
zuzuschlagen. Als Mitglied eines nicht IPA-zertifizierten
Ausbildungsseminars indessen scheint mir, dass sie gerade durch
ihre starke Abstützung auf die IPA schon Partei genommen hat.
Dabei kann ich natürlich nicht beurteilen, ob es in der Türkei
psychoanalytisch Interessantes außerhalb der IPA überhaupt gegeben
hat, respektive gibt. Schade fand ich, dass die solchermaßen auf
psychoanalytische Orthodoxie ausgerichtete Sichtweise die
interessante Frage danach, wie die türkische Kultur und die
Psychoanalyse zusammenpassen, nach meinem Dafürhalten gegen Ende
des Buches etwas verdrängt hat. So hätte zum Beispiel, analog zu
den Betrachtungen zur Psychoanalyse in Japan, wo die
Morita-Therapie mit der Psychoanalyse verglichen wird und mit den
Arbeiten Takeo Dois auch die japanische Mentalität einer Analyse
unterzogen wird, auch hier danach gefragt werden können, ob die
traditionellen Heilmethoden, jene der Volkskultur und/oder jene der
osmanischen Palastkultur, wo Maltherapie und Musik als Heilmittel
eingesetzt wurden, mit der Psychoanalyse in Verbindung zu bringen
sind. Auch die innere Leere und Ruhe, die die Sufi- Mönche und
Derwische mit ihren Gesängen und Tänzen zu erreichen suchen, könnte
mit jenen Entwicklungen in der Psychoanalyse, die die Beziehung zur
frühen Mutter favorisieren und denen, zumindest nach Bion, die
Suche nach dem Augenblick absoluter Wahrheit, der Erfahrung O,
nicht fremd ist, in Beziehung gebracht werden.
Abschließend lässt sich sagen, dass Usak-Sahin ein sehr
lesenswertes Buch geschrieben hat, insbesondere für all jene, die
sich mit türkischen Patienten und/oder türkischer Kultur
befassen. Das Buch ist inhaltsreich und streift eine Unzahl
spannender Themen. Man hätte der Autorin gewünscht, dass sie sich
bei der Interpretation der einen oder anderen Anekdote etwas mehr
Freiheit erlaubt, respektive Zeit genommen hätte.