Rezension zu Körperkontakt (PDF-E-Book)
Psychoanalyse & Körper Nr. 28 15. Jg. (2016) Heft I
Rezension von Robert C. Ware
Dieser reichhaltige Sammelband unternimmt einen interdisziplinär
breit angelegten Überblick über Körperkontakt/Berührung als
grundlegende Beziehungsform in der sozialen Entwicklung des
Menschen. Der Band umfasst 16 Beiträge und ist für
körperpsychotherapeutisch Interessierte und praktizierende
Psychotherapeuten eine Schatztruhe. Vielleicht das Wichtigste
zuerst: »Es gibt keine Handlungstheorie des Umgangs mit
Körperkontakten, die das intuitive Richtig- oder Falschmachen
kontrastieren bzw. qualifizieren könnte« (Sielert & Schmidt, in
Schmidt & Schetsche, 2012, S. 145). Entscheidend sind
Rollenklarheit, Transparenz und Reflexion der Metakommunikation.
Genau wie die Meta-Ebene der verbalen Kommunikation muss die
implizite und explizite leiblich-affektive Kommunikation des
Körpers gelernt werden – durch Schulung des subjektiven Empfindens,
des Gespürs, der Intuition, durch Selbsterfahrung und
Improvisation.
Mehrere Autoren verweisen auf die negativen Auswirkungen einer
einseitig körperverneinenden christlich-abendländischen Denk- und
Moraltradition: die ›Erotisierung und Sexualisierung des
menschlichen Körpers‹ bis in die heutige Zeit. Alle erkunden
positive, lebenswichtige Aspekte von Berührung und Körperkontakt,
auch in therapeutischen Beziehungen. Die »Unfähigkeit postmoderner
Kultur- und Sozialforschung, direkte physische Kontakte zwischen
menschlichen Körpern in den Blick zu nehmen« (Schmidt & Schetsche,
2012, S. 20), betrifft genauso grundlegend die klassischen
analytischen Psychotherapien. Das psychotherapeutische Gespräch
findet nicht nur verbal und bewusst in den Inhalten der sogenannten
»Redekur« statt. Wir müssen lernen, die Beziehungsbedeutungen von
nonverbalen körperlichen Ausdrucksweisen im leiblichen Dialog der
Körper-zu-Körper-Interaktionen des psychotherapeutischen Prozesses
zu beachten. Dazu gehören Körperkontakte und Berührungen.
»Berührungen sind nicht nur die unmittelbarste, sondern eben auch
die psychisch tiefgreifendste Form des Austausches unter Menschen«
– so die Herausgeber (ebd., S. 25). Entgegen dem herkömmlichen
Berührungsverbot in Psychotherapien – ein Rest der
»mittelalterlichen Furcht vor dem Körperlichen« (Grunwald, in ebd.,
S. 52) – bereiten die Erkenntnisse dieses Bandes ein
wissenschaftliches Fundament für eine Neubewertung von Berührung
als basales Instrument und Medium therapeutischer Technik.
Zunehmend erklärungsbedürftig ist nicht die Inklusion und
Erweiterung psychoanalytischer Technik um die Dimension
Körperkontakt/Berührung, sondern deren weitere Exklusion. Vieles in
dieser anregenden Sammlung ist für den Umgang mit Berührung in
körperfundierter, psychoanalytischer Psychotherapie eins-zu-eins
übertragbar. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre für alle
PsychoanalytikerInnen und PsychotherapeutInnen.
PD Dr. phil. Renate-Berenike Schmidt ist
Erziehungswissenschaftlerin und Sozialisationsforscherin, PD Dr.
rer.pol. Michael Schetsche Politologe, Soziologe und
Abteilungsleiter am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und
Psychohygiene (IGPP), beide an der Universität Freiburg in
Breisgau.
Exemplarisch seien einige für PsychotherapeutInnen besonders
anregen- de Beiträge erwähnt: Faszinierend ist im ersten Teil
(Grundlagen) der Beitrag von Martin Grunwald, Leiter des
Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig, über »(d)as
Sinnessystem Haut und sein Beitrag zur Körper-Grenzerfahrung«. Der
»prominenteste Ort des Körpers« ist die Hautoberfläche, mit über
fünf Millionen Körperhaaren ausgestattet, äußerst feingliedrige
Tastsinnesrezeptoren, die den Kontakt zur umgrenzenden Welt
vermitteln, noch bevor die Haut selbst berührt wird. Lange vor der
Geburt empfindet ein Fötus schon in der 8. Schwangerschaftswoche
Berührungsreize. Tast-Körpererfahrungen hinterlassen im Gehirn des
Neugeborenen eine basale neuronale Matrix, die ein zentraler Bezug
für die Ausreifung aller anderen sensorischen Systeme darstellt.
Reifungsprozesse des Gehirns erfolgen nur, wenn der Organismus eine
hinreichende taktile Stimulation des Körpers erfährt, insbesondere
durch menschliche Berührungen: »Körperbezogene Interaktionen
zwischen Menschen (...) sind mit keinem anderen
zwischenmenschlichen Interaktionsmedium (zum Beispiel
Verbalsprache) vergleichbar.« »Berührungen (...) beeinflussen im
Moment der Interaktion, sowie darüber hinaus, alle Denk-,
Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse« (Schmidt & Schetsche, 2012,
S. 51f.). Rainer Wollny beschäftigt sich aus
bewegungswissenschaftlicher Sicht mit Körperkontakt und dem Rätsel
der menschlichen Motorik. Matthias Riedel plädiert für eine neu zu
schaffende ›Soziologie der Berührung‹ losgelöst von der
einseitigen, primär erotisch-sexuell orientierten
gesellschaftlichen Bestimmung des haptisch-taktilen
Austausches.
In Teil Zwei des Bandes (Psychische Funktionen und soziale
Bedeutungen) vertieft der entwicklungspsychologische Beitrag von
Christa Wanzeck-Sielert die überlebenswichtige Funktion von
körperlichen Kontakten, dem »Seelenhunger nach Berührung« und der
»Hautlust« – perinatal, in Kindheit und Jugend. Berührungen
schaffen die Grundlagen des Selbstkonzeptes, des Selbstwertgefühls
sowie der menschlichen Kommunikation und der Bewusstheit für den
eigenen Körper und seine Grenzen. Bereits im Mutterleib
»beeinflussen Ängste der Mutter, aber auch ihre Freude am eigenen
Körper auf direktem Weg die Angstbereitschaft bzw. die Vitalität
des Kindes« (ebd., S. 111). »(N)icht das Stillen an sich, sondern
der Körperkontakt zur Mutter (ist) ausschlaggebend« – »die
Brust-Haut-Beziehung« (ebd.). Insgesamt sind »Haut- und
Körperkontakte ein wesentlicher Faktor für die affektive, kognitive
und soziale Entwicklung« (ebd., S. 113). Gerd Stecklina vertieft
die Thematik mit Bezug auf die Entwicklung und Identitätsfindung
von Heranwachsenden, für die »Körperkontakte als Gestaltungsraum
und -mittel für die Identitätsbildung und als Bewältigungsmedium
und Sinnressource« gelten (ebd., S. 128). »Nähe, Gefühl, Wärme,
Sinne, Gerüche gehören zum menschlichen Dasein wie verbale
Kommunikation und kulturelle Deutungsmuster, sie haben eine hohe
Bedeutung für das Selbstbild von Individuen und deren
Bewältigungshandeln« (ebd., S. 138). Elke Mahnke und Uwe Sielert
erkunden das Feld von Körperkontakt im Alter und stellen fest, dass
es außer pflegewissenschaftlich »so gut wie nichts (an
Erkenntnisse) über den Zusammenhang von Körperkontakt und Alter«
gibt (ebd., S. 163).
In Teil Drei (»Heilsame Körperkontakte«) untersucht die
Physiotherapeutin Annette Probst die Bedeutung von Berührung und
Körperkontakt im Arbeitshandeln von somatisch orientierten
Therapien. Ihre Reflexionen sind auf körperpsychotherapeutische
Prozesse und Beziehungen direkt übertragbar. Da wie dort ist man
stets auf ein »eigenleibliches Spüren« angewiesen, das gelernt,
kultiviert und immer weiterentwickelt werden muss. Ulrike Böhnke
erkundet körpernahe Kommunikation und Interaktion im
pflegeberuflichen Handeln und stellt fest, wie im Handlungsvollzug
biografische und sozialisatorische Erinnerungen aus dem impliziten
leiblichen Gedächtnis wachgerufen werden. Insbesondere in der
körperbezogenen interaktiv- dialogischen psychotherapeutischen
Begegnung ist dies eine der wichtigsten Ressourcen. Tilmann Moser,
ein beredter Verfechter leibfundierter Psychoanalyse, verweist auf
die Untersagung der klassischen Psychoanalyse: »Berührung bedeute
Sexualisierung und damit auch Missbrauch des Patienten für die
eigenen Bedürfnisse des Analytikers«. Dadurch werde, so Moser, das
»Potenzial der nur im Körper gespeicherten Erinnerungen« verloren
gegeben. »(D)as wichtige und unabdingbare Abstinenzgebot« müsse
durch Schulung der Wahrnehmung eigener Körperreaktionen »auf die
Disziplin von Berührung und Interaktionshandlung« ausgeweitet
werden (ebd., S. 232). Alexandra Stupperich besinnt sich auf den
Körperkontakt zwischen Mensch und Tier, die »uralte Liebe«, die
grundlegende Bedürfnisse nach emotionaler Sicherheit, Intimität,
Freundschaft und Beziehungsverlässlichkeit realisiert. Der Kontakt
zu Haustieren zeitigt messbare Effekte auf das
Herz-Kreislauf-System sowie antisuizidale und antidepressive
Wirkungen.
Teil Vier (Sinn und Sinnlichkeit) beginnt mit einer faszinierenden
Abhandlung von Jeffrey Wimmer zum sozialen Potenzial
mediatisierter, virtueller Spielwelten, »soziale Welten ohne
Berührungen«. »Computerspielwelten stellen für ihre Spieler
Lebenswelten für Selbstkonstruktion, Identitätserprobung und
Gemeinschaftserfahrung dar. Sie sind damit als eine Art soziales
Labor ›jenseits körperlicher Widerstände und realweltlicher
Hindernisse‹ zu verstehen« (ebd., S. 265; Hervorh. J.W.). Der sehr
anrührende Beitrag von Traute Becker und Gudrun Lemke-Werner zur
Welt taubblinder Menschen ist eine feinfühlige Einführung in die
Möglichkeiten vor- und averbaler Körpersprache, »einkanalig über
Haut und Muskeln«. Der »Körperdialog« erfährt in der notgeborenen
Beziehungsarbeit mit einem anfänglich dreijährigen, von Geburt an
taubblinden Mädchen eine sublime Steigerung an Bedeutsamkeit: »In
einem solchen Körperdialog erfolgt ein Geben und Nehmen von
Berührungen, und auch Gefühle werden über diese Begegnung
mitgeteilt – unmittelbar, direkt und unverstellt, lange bevor ein
im engeren Sinne sprachlicher Austausch stattfinden kann« (ebd., S.
286). Auch »notgeboren« ist der Beitrag des Herausgebers, Michael
Schetsche, eine (mikro-)soziologische Annäherung an das Thema
erotischer Berührungen: »An diesem Thema kann man aus
›wissenschaftlicher‹ Perspektive schnell verzweifeln« (ebd., S.
289). Notgeboren, weil es den Herausgebern nicht gelang, jemand zu
finden, der sich an dieses heiße Thema herantraute. Schetsche
bleibt ebenso in der – durchaus lesenswerten – Annäherung stecken
und bekennt sich zum Schluss zu »Mehr Fragen als Antworten« (ebd.,
S. 305). Sabine Huschka zeigt zum Schluss die Kommunikations- und
Ausdrucksmöglichkeiten von Bewegungskontakt und Berührung im Tanz
(›Kontaktimprovisation‹). Der Jungianisch geschulte Psychotherapeut
erinnert sich, dass C.G. Jung ausdrücklich Tanz als Medium der
Aktiven Imagination erwähnt. In diesem Beitrag erfährt man, welch
intersubjektives Potenzial darin steckt: »Evoziert wird eine
Körperintelligenz, die sich dem impliziten Körperwissen verdankt,
reflexähnlich das Gleichgewicht blitzartig re-organisieren zu
können. Der gesamte Körper findet situationsbezogen
Bewegungslösungen, die schneller sind als die kognitive oder
bewusste Wahrnehmung« (ebd., S. 317).