Rezension zu Verbrecher, Bürger und das Unbewusste (PDF-E-Book)
Psychoanalyse & Körper Nr. 28 15. Jg. (2016) Heft I
Rezension von Tilmann Moser
»(Es) werden einige Dutzend Morde jeden Abend im Fernsehen vor
einem Millionenpublikum zelebriert und Krimifestivals gibt es in
jeder mittelgroßen Stadt. Sich an im Grunde schlimmen, wenn nicht
schrecklichen Schicksalen, die anderen Menschen widerfahren, oder
an der Niedertracht anderer Mitmenschen zu erregen, scheint ein
alltägliches und äußerst beliebtes parasitäres, sozusagen
kriminalpornografisches Befriedigungserlebnis zu sein« (Möhring,
2014, S. 11).
In der Tat: Kriminalität boomt, verstärkt nicht zuletzt durch das
Ausmaß politisch oder religiös begründetem Verbrechertum.
Möhring versucht kenntnisreich, die auseinanderdriftenden Theorien
so zusammen zu denken, dass Hoffnung besteht auf eine integrierte
Theorie samt kriminaltherapeutischer Folgen. Die real existierenden
Hauptwidersprüche der Ursachen: die Biologie, die Gene, die
Vererbung, kriminelle Milieus, Rollentheorie soziologisch und
familiendynamisch, sozialer Zu- schreibungsdruck und
psychoanalytische Diagnostik von Individuen. Entsprechend
unterschiedlich sind die zugehörigen Handlungstheorien von Strafen,
Wegsperren Fußfesseln, Verfolgungsintensivierung, Milieutherapie
usw. bis zu individueller Verhaltens- und tiefenpsychologischer
Psychotherapie.
Am leichtesten zu verknüpfen ist der sogenannte »labeling
approach«: die Theorie der als Zwang wirkenden Zuschreibung der
Täterschaft aufgrund von Vor-Definitionen aus der
juristisch-sozialen Welt, und der tiefenpsychologischen und
familiendynamischen Rollentheorie, bei der familieninterne
Konflikte zur »Auswahl« eines schwarzen Schafs oder eines
Symptomträgers führen, um Aggression verschoben auf die Außenwelt
auszuagieren. Freuds »Verbrecher aus Schuldgefühl«, eine ganz
neurosenspezifische Deutung, hat sich inzwischen erweitert um viele
Aggressionstheorien über Überich-Mängel und Handlungsmotivationen
aufgrund neuentdeckter Störungen. Also: von früher und individuell
wirksamer Schädigung durch Verwahrlosung und Grausamkeit usw. bis
hin zur kollektiven Rekrutierung in die Clans der Mafia durch
Wertübernahme und ausgeklügelte Rituale oder die Einschwörung durch
eine Morddrohung bei Verrat der »Familie«.
Je plausibler die tiefenpsychologischen und familiendynamischen
Rollentheorien und Therapieformen werden, desto mehr verwundert es,
dass in der Kriminalitätstherapie deren Ansätze noch kaum
realisiert und angewandt werden. Familientherapeutische Sitzungen,
über deren Wert und Wirksamkeit heute kaum noch Zweifel bestehen,
werden in Strafinstitutionen bisher kaum angewandt. Ist es die
Scheu von Experten, sich Sitzungen in einer Strafanstalt
vorzustellen, mit ängstlich oder trotzig anreisenden
Familienmitgliedern, zusammen mit dem von Beamten, vielleicht sogar
gefesselt, hereingeführten Täter, und dies wiederholt in vielleicht
weit entfernten Gefängnissen. Tiefenpsychologisch versierte
Psychotherapeuten sind längst tätig in besonderen Anstalten mit
speziellen Gruppen von Tätern, aber sie sind dorthin verzogen, und
ihre Einzeltäter stehen jederzeit zur Verfügung, von punktuellen
Zusammenführungen von Familien einmal ganz abgesehen, die aber dann
sogar eher noch der Sozialtherapeut leitet, weil es noch nicht um
Familientherapie geht, sondern um die Regelung von sozialen
Problemen.
Man darf gespannt sein, ob der Justiz etwas einfällt, wie und wo
Täter und ihre Familien regelmäßig zusammen gebracht werden können,
um die kommunikativen Defekte und die Konfliktlinien mit ihren
unbewussten Zwängen aufzuarbeiten. Die »Heilung« von einzelnen
Tätern wie von kriminogenen Familien durch tiefenpsychologisch,
gruppendynamisch oder systemisch ausgebildete Therapeuten wäre ein
menschlicher, prophylaktischer, ökonomischer wie politischer
Gewinn, der derzeit noch auf sich warten lässt. Möhring leistet
eine gelungene Integration der Verbrechenstheorien. Sein Buch ist
für alle am Übel beteiligten Gruppen ein andauernder und
motivierender Gewinn.