Rezension zu Die enthemmte Mitte (PDF-E-Book)

Lernende Schule. Für die Praxis pädagogischer Schulentwicklung. Heft 75, 2016, 19. Jahrgang

Rezension von Petra Druschky

Zunehmende Polarisierung der Gesellschaft
Die 1. Auflage der sogenannten Mitte-Studie war schnell vergriffen. Ohne verlässliche Daten zur Entwicklung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland fehlen wichtige Erkenntnisse für die politische Diskussion und die Bildungsarbeit, auch in Schulen. Diese liefert seit fast 15 Jahren eine Leipziger Forschungsgruppe, die deutsche Staatsbürger in ganz Deutschland zu ihren politischen Einstellungen befragt.
Die Studie zeigt: Mit den Flüchtlingsströmen nach Europa flammten 2015 bereits bestehende Vorurteile gegen einzelne Menschengruppen verstärkt auf und es entwickelten sich neue rechtspopulistische und rechtsextreme Bewegungen und Parteien, die oft zugleich islamfeindlich orientiert sind. Die Vorurteile und Ressentiments schlugen im letzten Jahr in offenen Hass um – mehr als 1000 Attentate auf Flüchtlingsunterkünfte im gesamten Bundesgebiet und mehr als 100 Brandanschläge auf solche Unterkünfte belegen eine wachsende Hasskriminalität und Fremdenfeindlichkeit.
Dennoch liefert die Studie ein überraschendes Ergebnis: Die demokratischen Milieus in Deutschland werden größer und stärker (S. 8). Allerdings vertreten demgegenüber andere Milieus offensiv völkisch-nationale Positionen und akzeptieren nunmehr stärker Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung.
Die mit dieser Radikalisierung verbundene Polarisierung der Gesellschaft wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein.

Das Buch stellt auf den ersten gut 150 Seiten die Ergebnisse der aktuellen Studie detailreich vor. Es beschreibt die Verbreitung und Ausprägung rechtextremer Einstellungen in Deutschland, vergleicht die Anhänger der Parteien und analysiert die politischen Milieus, das Klima und wie es sich verändert hat (S. 19). Darüber hinaus werden auch Ergebnisse anderer Studien, z.B. einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Aliensbach 2015 zur Einstellung gegenüber unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (S. 153ff.) vorgestellt.
Zu ausgewählten Ergebnissen, die in mehr als 100 Tabellen und Grafiken aufbereitet sind (und nicht wirklich überraschen, wenn man die aktuelle Diskussion und Entwicklung in Deutschland aufmerksam verfolgt): Ausländerfeindlichkeit ist im Osten etwas stärker ausgeprägt als im Westen, aber insgesamt auf einem bedenklich hohen Niveau von mehr als 20 Prozent der Befragten (S. 37); von den befragten Arbeitslosen und Ruheständlern hat sogar jeder Vierte (!) etwas gegen Ausländer (S. 40). Stark zugenommen hat die Islamfeindlichkeit im Vergleich zu 2014: »Jeder und jede Zweite gab 2016 an, sich ›wie ein Fremder im eigenen Land‹ zu fühlen, über 40 % wollen Muslimen/Muslimas die Zuwanderung nach Deutschland untersagen.« (S. 49) Fast 60 Prozent meinen, dass die meisten Asylbewerber nicht wirklich verfolgt werden und demnach zu Unrecht um Asyl ersuchen (S. 49). Das Vertrauen in die etablierten politischen Parteien ist bedenklich niedrig, fast 50 Prozent misstrauen ihnen. Demgegenüber ist vor allem für Menschen mit rechtsextremistischen Einstellungen, die die NPD für nicht wählbar halten, die AfD eine Wahlalternative geworden (S. 68).

Diese wenigen Daten zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen keine Randerscheinung der Gesellschaft mehr sind, sondern längst in deren Mitte verortet werden können. Damit hat sich auch das politische Klima in Deutschland merklich verschoben. Das Buch ist nicht nur wegen dieser Daten wertvoll, sondern auch, weil es den Autoren durchgängig – auch und besonders im zweiten Teil des Buches, der den Stand der Zivilgesellschaft und u. a. Bewegungen wie PEGIDA und die NEUE RECHTE unter die Lupe nimmt – gelingt, Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen und Umbrüchen im letzten Jahrzehnt einerseits und der Entwicklung und Verfestigung von rechtsextremen Einstellungen andererseits aufzuzeigen.

Mindestens nachdenklich sollten auch die Ausführungen zur (proklamierten vs. tatsächlichen) »Härte« des Rechtsstaates sein (S. 201ff.). Vorurteilsmotivierte Taten werden nach Ansicht der Autorin Kati Lang, entweder nicht erkannt oder nicht als solche registriert. Die Polizei sei demnach selbst »Teil des Problems« (S. 208). Auch bei der Ahndung vorurteilsmotivierter Straftaten durch Staatsanwaltschaften und Gerichte soll es – nach Erkenntnissen der Rechtstatsachenforschung – »massive Defizite« geben (S. 211).

Es zeigt sich damit auch: »Noch immer sind weite Teile der Bevölkerung bereit, abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen. Dabei wird immer deutlicher, dass hinter dem rassistischen und ethnozentrischen Denken in Deutschland weiterhin die Annahme einer Volksgemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft steht.« ( S. 21) Der Schoß ist fruchtbar – noch immer! (frei nach Bertolt Brecht)

www.friedrich-verlag.de

zurück zum Titel