Rezension zu Kontrollierter Kontrollverlust
Jazzpodium 10/16, Oktober 2016, 65. Jahrgang
Rezension von Reiner Kobe
Dass improvisierende Jazzmusiker mit Patienten der Psychoanalyse
verglichen werden, mag manche überraschen. Doch die Zusammenhänge
sind offensichtlich, wenn man dem Sammelband über »Jazz und
Psychoanalyse«, den vor kurzem Konrad Heiland vorlegte, glauben
will. Griffiger ist der Titel »Kontrollierter Kontrollverlust«, um
den fast alle Beiträge kreisen.
An der Verbindung von Jazz und Psychoanalyse lassen sämtliche
Autoren, die freilich verschiedene Blickwinkel beziehen, keinen
Zweifel, zu sehr sind sie in ihrem Metier verwurzelt. Herausgeber
Heiland, ausgewiesener ärztlicher Psychotherapeut und klinischer
Musiktherapeut mit Lehrtätigkeit an verschiedenen Institutionen,
betont im Vorwort, hier »Präludium« genannt, die
Parallelentwicklung von Jazz und Psychoanalyse. Die
psychoanalytische und die improvisatorische Praxis sind eins. Bei
beiden geht es um Vorausschreiten in assoziativen Ketten. Bei der
Improvisation, die mit Spannung zwischen Loslassen und Steuern
gleichzusetzen ist, verbindet sich Bewusstes mit Unbewusstem.
Folglich versteht der Autor den Jazzkeller als »dunkle Hölle, in
dem eine entfesselte Musik stattfindet und auch die Schattenseiten
der Seele erklingen«. Das idealtypische Bild – längst sind andere
Phänomene in der Jazz-Szene virulent – wird mit der Realität
konfrontiert: Psychoanalyse und Jazz »haben ihre Blütezeit hinter
sich«. Nichtsdestotrotz wird dem kontrollierten Kontrollverlust
weiter ernsthaft nachgegangen und der Parallelentwicklung beider
Strömungen weitere Entsprechungen hinzugefügt. Zunächst erläutert
Theo Piegler in einem recht theoretischen Beitrag »Die Geschichte
der Psychoanalyse«, was nur Eingeweihte interessieren dürfte. Die
Theorien, die die verschiedenen Autoren, meist ausgewiesene Kenner
der einen, mitunter auch der anderen Materie, darstellen, spitzen
sich auf die Tatsache zu, dass in der Therapie die freie
Assoziation fruchtbar gemacht wird und dass im Jazz sich die
Möglichkeiten gerade durch die Improvisation entfalten. Die
psychischen Vorgänge, die bei der Improvisation ablaufen, schildert
Jörg Schärft, praktizierender Musiker, eindringlich. Theoretischer
dann wieder Sebastian Leikert, der spezifische Eigenschaften des
Jazz mit der Begrifflichkeit der Psychoanalyse von Jacques Lacan in
Verbindung bringt. Dass auch Abwehrmechanismen, »wie sich diese bei
der Konfrontation mit disharmonischen Klängen und unvertrauten
Harmonien einschalten können«, im Spiel sind, schildert Hannes
König.
Die theoretischen Betrachtungen werden ergänzt durch Porträts
einzelner weniger Musiker. Miles Davis, heißt es, war kein
Virtuose, sondern Minimalist. Beim Trompeter »entstand eine
partielle, sehr karge, existenzialistische, reduzierte Musik, die
dem Inszenierungsstil entsprach«. Die Fusion, die Robert Wyatt
beisteuerte, einem anderen Porträtierten, «ist viel wärmer als die
von Davis«. Der einstige Schlagzeuger, der zum Sänger wurde, »hat
mit seinem einzigartigen subjektiven Ausdruck eine neue Farbe in
den Grenzbereich zwischen Jazz und Rockmusik hineingebracht«. »Das
zerrissene Genie Charles Mingus«, dessen Markenzeichen
»Diskontinuität und Brüche« waren, machte postmodernen Jazz par
excellence. Und für die Pianistin Laia Gene schließlich (»halbe
Türkin, ganze Preußin«), ist bei der Improvisation wichtig, »dass
man nicht zu weit abschweift, weil man sonst den Faden verliert«.
Etwas fehl am Platz wirkt das Porträt des Labels ECM, dem eine
Veredelung des Jazz als gelungener Aufbruch nachgesagt wird. Und
dass dem allmächtigen Jazz-Papst Joachim-Ernst Berendt, der den
Jazz in Deutschland hoffähig machte, eine narzisstische
Persönlichkeitsstörung bescheinigt wird, kann nicht
überraschen.
Der Versuch des vorliegenden Sammelbandes, erstmals Verbindungen
zwischen Jazz und Psychoanalyse anzugehen, ist verdienstvoll. Bei
aller Theorielastigkeit gibt er Denkanstöße, die weiterer
Betrachtungen wert wären.
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