Rezension zu Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung junger Frauen

Sexuologie, Bd. 23, Heft 3-4, 2016

Rezension von Kurt Starke

Bodybuilding, Bodymodifikation, optimierte Körper, Körperpraktiken, Körperarbeit, Körperökonomien, Embodiment, Zwischenleiblichkeit, leibliche Erfahrungswelten, Sexocorporel – der Worte sind sehr viele gedrechselt, nur um herauszuschreien: Es gibt ihn, den Körper! So als hätte es ihn früher nicht gegeben, nicht in der Kunst, nicht in der Wissenschaft, nicht in der Werbung und nicht in den Medien und auch nicht in der Sexualtherapie und der Sexualwissenschaft.

Wenn also jemand über »Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung« schreibt, dann muss man das Schlimmste befürchten, nämlich einen neuen Körperkult. Oder die Fortsetzung der Instrumentalisierung des Körpers mit anderen technischen Mitteln. Davon kann aber in dem Buch Julia Sparmanns nicht die Rede sein. Vielmehr geht es der Theaterpädagogin mit M.A. in Angewandter Sexualwissenschaft um die ganzheitlichen Zusammenhänge des Körpers und der Sexualität in Sexueller Bildung und Sexualberatung, um das komplexe Geschehen, das mit sexueller Lust verbunden ist, um die »Vieldimensionalität der individuellen sexuellen Kompetenzen« (12). Sie wählt dazu zwei Bereiche aus, den sexualtherapeutischen Ansatz Sexocorporel und die neo-tantrische Arbeit mit Frauen. Ihr Ziel ist »die Erschließung von brauchbaren Quellen aus körperbezogenen Therapieansätzen und Tantra, um die Methoden der Sexuellen Bildung zu erweitern [...] und sinnlich-konkrete Lernanregungen zu schaffen« (11, 13).

Da wäre dann als erstes zu klären, was unter »Sexueller Bildung« zu verstehen sei. Julia Sparmann sieht darin eine Erweiterung von Sexualaufklärung und Sexualpädagogik. »Sexuelle Bildung« nähme die etablierten Qualitäten des kognitiven Wissenstransfers der Sexualaufklärung und der Kompetenzvermittlung der Sexualpädagogik auf, öffne sich aber »konzeptionell einem ganzheitlichen Spektrum von Sexualität« und integriere alle Lebensalter (12). Im Kern geht es also um mehr Lust und mehr Wohlbefinden für alle.

In dem Kapitel über das sexualtherapeutische Konzept Sexocorporel betrachtet die Autorin Sexocorporel als umfassendes Modell sexueller Entwicklung und Funktionalität, das die Intention sexueller Gesundheit verfolgt (45). Nach der gründlichen Analyse dieses Modells kommt sie zu dem Schluss, dass aus dem Ansatz des Sexocorporel »in seiner Ganzheitlichkeit, in der Zentrierung auf lebenslange sexuelle Lernprozesse und in der hervorgehobenen Körperorientierung« umfangreiche Ressourcen für die Sexuelle Bildung erschlossen werden können (58). Auf der »energetischen Ebene« können das Aktivierung und Selbstregulierung sexueller Energien durch Spiel mit Atem und Stimme, mit Muskeltonus, mit Bewegungsraum, mit dem Rhythmus der Bewegung sein, auf der »praktischen Ebene« konkrete Bewegungen, Atemeinsatz, Selbstexploration, qualitative Erforschung unterschiedlicher Berührungsarten und auf der »tieferen körperlichen Ebene« Selbstwahrnehmungsübungen und Loslassen und Entspannen über die bewusste Regulierung von Muskeltonus und Atmung (59).

Im sich anschließenden Kapitel wendet sich die Autorin Tantra und dessen differenzierten und diffizilen Aspekten zu. Im gleichen Ressourcenformat wie bei Sexocorporel erscheinen ihr auf der »energetischen Ebene« als nützlich: Aktivierung durch Atemtechniken, Präsenzübungen, aktive Bewegungsmeditationen, und Entspannungstechniken, die diffundierende Erregung ermöglichen; auf der »praktischen Ebene«, z.B. Tantrische Rituale und Massagetechniken; und auf der »tieferen körperlichen Ebene« Präsenz- und Achtsamkeitsübungen für ein intensives und authentisches Kontakterleben mit sich selbst und anderen (86).

Bei der Diskussion der Ergebnisse setzt sich Julia Sparmann ausführlich, unverstellt und behutsam mit den Möglichkeiten und Grenzen des Transfers von Sexocorporel- und Tantra-Praktiken in die sexuelle Bildung auseinander, wohl wissend, dass sich Angriffsflächen aller Art bieten und manches als ungewöhnlich und ungewohnt betrachtet werden kann. Dabei umgeht sie auch das heikle Problem von Berührung und Nacktheit, die »Intimität im Bildungsrahmen« nicht (98).

Den beiden Hauptkapiteln stellt die Autorin zwei überaus informative und teils methodenkritische Übersichtskapitel voraus, zum einen eins zur Körperorientierung in der Sexuellen Bildung mit Blick auf ihre Zielgruppe (Frauen zwischen 18 und 35 Jahren) und zum anderen eins zu Körper(psycho)therapien. Das alles ist – wie das gesamte Buch – feinfühlig, ausgewogen, solide geschrieben, ein Mustergegenbeispiel für die landläufige Scharlatanerie, Oberflächlichkeit, Geschwätzigkeit und auch Tüchtigkeit im Geschäft mit dem wiederentdeckten Körper.

Reinen Gewissens ist dieses sorgfältige Werk aus dem Merseburger Laboratorium für Angewandte Sexualwissenschaft für die fachliche Weiterbildung zu empfehlen, aber nicht nur dafür, sondern auch als Allgemeinbildung für einen großen Kreis von Fachleuten und Laien, die über Sexualaufklärung und Sexualpädagogik hinaus denken wollen.

www.sexuologie-info.de

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