Rezension zu Der Prothesengott (PDF-E-Book)
Deutsches Ärzteblatt November 2005
Rezension von Alf Gerlach
Transplantation
Ambivalentes Erleben
Sigmund Freud verwendete den Begriff »Prothesengott« in seiner
Arbeit »Das Unbehangen in der Kultur« (1930), um einen Zustand der
menschlichen Kulturentwicklung zu beschreiben, in dem der Mensch
durch Wissenschaft und Technik Wunschvorstellungen realisieren
kann, die lange Zeit als unerfüllbar angesehen wurden. Im
medizinischen Bereich trifft dies auf zahlreiche Techniken zu, mit
deren Hilfe der menschliche Körper geheilt, manipuliert oder
beeinflusst werden kann: In-vitro-Fertilisation, plastische
Chirurgie, Gentechnik und Transplantationsmedizin sind Beispiele
dafür.
Decker entwickelt seine Studie, indem er für den Prozess der
menschlichen Kulturentwicklung wie für die Entstehung der Erfahrung
individueller Subjektivität beim einzelnen Menschen der Bedeutung
von idealisierten Objekten nachgeht. Er analysiert die in der
Vorstellung von Gott enthaltene Idealvorstellung ebenso wie die
Idealisierung der Eltern durch das Kleinkind, das sich im Prozess
seiner Subjektfindung von dieser Überhöhung nur mühsam lösen kann.
Die Auseinandersetzung mit den idealisierten Eltern bildet auch den
Hintergrund, auf dem sich Körperbild und Körperschema entwickeln,
die sowohl bei Erkrankung als auch bei Transplantation verändert
und neu organisiert werden müssen.
Auf der Basis dieser theoretischen Überlegungen wendet sich Decker
der subjektiven Verarbeitung von Transplantationen zu. Nach einer
Auseinandersetzung mit der Literatur stellt er eine eigene Studie
vor, in der Patienten nach dem operativen Eingriff zum Führen eines
Tagesbuches angehalten wurden, in dem sie einerseits in freier Form
ihr Erleben schildern, andererseits strukturierte Fragen
beantworten konnten. Die Daten wurden entlang der Strukturachse der
operationalisierten psychodynamischen Diagnostik ausgewertet und
einer Zeitreihenanalyse unterworfen, um die Entwicklung der
Transplantationsverarbeitung zu verdeutlichen. Dieses methodische
Vorgehen wird eingehend begründet und führt zu interessanten
Tiefenanalysen der vorgestellten Patienten.
Somit bietet das Buch einerseits eine profunde
sozialwissenschaftliche und psychoanalytische Auseinandersetzung
mit der Transplantationsmedizin und ihren Auswirkungen auf
gemeinsame Vorstellungen von Subjektivität, andererseits führt es
auch auf differenzierte Weise in das subjektive Erleben von
Transplantationspatienten ein, die die an ihrem Körper vollzogenen
Veränderungen ambivalent erleben.