Rezension zu Die lange Nacht der Trauer (PDF-E-Book)
Sozialpsychiatrische Informationen. Zeitschrift für kritische Psychiatrie seit 1970. 3/2015 – 45. Jahrgang
Rezension von Michael Konrad
Als gemäßigt linker, psychiatriekritisch ambitionierter Student der
Psychologie Ende der 1970er Jahre zog es mich hinsichtlich der
Theoriebildung zur Soziologie. Die psychologischen Modelle schienen
mir für die Lösung der im Zivildienst erfahrenen Probleme der
psychiatrischen Versorgung wenig geeignet. Aber nicht die Analyse
der Totalen Institution eines Erving Goffmann zogen mich an,
sondern die Versuche, individuelle Handlungsfähigkeit und soziale
Strukturen miteinander zu verbinden. Gegen Ende des Studiums stieß
ich auf die Schriften von Axel Honneth und Hans Joas, die als
Autorenteam 1980 eine Monographie über anthropologische Grundlagen
der Sozialwissenschaften mit dem Titel »Soziales Handeln und
Handeln und menschliche Natur« veröffentlicht hatten. Persönlich
beschäftigte sich Honneth in dieser Zeit mit Theorien der Macht und
leistete in seiner Dissertation eine wichtige Auseinandersetzung
mit der damals einflussreichen Psychiatriekritik eines Michel
Foucaults. Joas beschäftigte sich intensiv mit dem Werk des
amerikanischen Sozialtheoretikers George Herbert Mead, leistete
damit eine wichtigen Beitrag für die Rezeption dessen Lebenswerks
in Deutschland und zeigte anhand des Begriffs »Praktische
Intersubjektivität« auf, wie sich die Werte der Gesellschaft
während der Sozialisation im Individuum verfestigen.
Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass mich das Denken
dieser beiden Theoretiker in meiner praktischen Arbeit in der
psychiatrischen Versorgung stets beeinflusst hat. Ihre theoretische
Entwicklung habe ich in den letzten 10 Jahren nicht mehr verfolgt.
Vor zwei Jahren wurde ich auf einer Verwaltungstagung zum Thema
Inklusion auf die theoretische Entwicklung von Axel Honneth
aufmerksam. Er hatte sich zunehmend dem Werk des großen
schwäbischen Philosophen Hegel zugewandt und dessen Philosophie In
Auseinandersetzung mit den gängigen Sozialtheorien der letzten zwei
Jahrhunderte für eine Theorie des »Recht der Freiheit« fruchtbar
gemacht. Und was, so frage ich mich, hat Hans Joas in der
Zwischenzeit gemacht, dessen Ansatz mir während des Studiums etwas
näher lag als der von Honneth?
Das vorliegende Bändchen gibt Aufschluss zu dieser Frage. Es ist
anlässlich der Verleihung des Hans-Kilian-Preises 2013 an Hans Joas
erschienen und enthält dessen Rede bei der Preisverleihung die
Laudation auf ihn sowie ein Vorwort über den Namensgeber des
Preises sowie die vergebende Köhler-Stiftung. Der Hans-Kilian-Preis
wird für exzellente Leistungen in der interdisziplinären sozial-
und kulturwissenschaftlichen Forschung und Lehre alle zwei Jahre
vergeben.
Der abgedruckte Vortrag zeigt, dass Joas seiner Linie treu
geblieben ist. Ihn interessiert im Wesentlichen, wie das Individuum
mit den Zumutungen der Welt zurechtkommt –, aber nicht in
existenzialistischer Weise, sondern in der kommunikativen
Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen. Mit dem ersten Satz
seines Vortrags diagnostiziert er den Zustand der Welt: »Das
zwanzigste Jahrhundert war (...) wohl das gewalttätigste in der
Geschichte der Menschheit.« (S. 15) Diese Feststellung, über die
bereits Tausende von Büchern gefüllt wurden, führt er kurz aus, um
zwei Seiten später die für die weiteren Ausführungen entscheidende,
provokante Frage zu stellen: »Kann aus einer solchen
Gewaltgeschichte auch Gutes entstehen?« (S. 17) Der Geehrte, der in
der Laudatio von Jürgen Straub als gläubiger Katholik bezeichnet
wird, »der sich in einer reichlich profanen Welt zu Hause fühlt,
ohne den Glauben und die damit verbundenen Hoffnungen verloren zu
haben« (S. 63), thematisiert im nächsten Satz das »Obszöne«,
»Anstößige« seiner Frage »angesichts von Auschwitz, Gulag und
Hiroshima«.
In diesem extremen Widerspruch zwischen Katastrophe und Hoffnung
entfaltet sich das theoretische Programm des Preisträgers. Die
Tragödien der Menschheit nicht ignorieren, sondern die Möglichkeit
ihrer Bewältigung zum Ausgangspunkt des menschlichen Fortschritts
machen. Bei der Klärung der Frage, ob das Erzählen ein Weg aus der
Gewalt sein kann, setzt Joas an seinem Buch zur Geschichte der
Menschenrechte an, in dem er nach eigenen Worten herausgearbeitet
hat, »in welchem Maße und auf welchen Wegen die Gewaltgeschichte
sich auch als Inspirationsquelle für die Idee der Menschenrechte
(...) erwiesen hat« (S. 17f.). Das in diesem Buch entwickelte
sechsstufige Modell stellt er in seinem Vortrag nicht abstrakt,
sondern anhand des Prosawerks »Hamlet oder die lange Nacht nimmt
ein Ende« von Alfred Döblin vor. Döblin hatte in diesem
umstrittenen Werk aus dem Jahr 1947 die Geschichte eines verletzten
und traumatisierten Kriegsheimkehrers und dessen langsame
Auseinandersetzung mit dem Trauma und gleichzeitig seiner Familie
beschrieben.
Joas, der sich schon seit längerer Zeit mit diesem Werk Döblins
beschäftigt, betreibt keine Exemplifizierung seiner Theorie,
sondern entwickelt seine Theorie nach eigenen Worten »im Dialog«
mit dem Roman. Erste Stufe: »Die Erfahrung der Gewalt und ihr
schockierender Eingriff in die Sakralsphäre des Körpers« (S.
20ff.). Zweite Stufe »Erschütterung der fundamentalen Gewissheiten
des Weltverhältnisses« (S. 22ff.). Dritte Stufe: »Einfühlung in die
Erzählung anderer« (S. 27ff.). Vierte Stufe: »Konstitution neuen
Sinns und neuer Werte aus dem Erzählen über die Gewalterfahrung
heraus« (S. 33ff.). Fünfte Stufe: Achtsamkeit für »die
erschütternden Wirkungen, die jede neue Sinn- und Wertkonstitution
für überbrachte soziale Zusammenhänge hat« (S. 35ff.). Sechste
Stufe: Ausweitung der »politisch-moralischen Sinnfragen ins
Existentiell-Religiöse« (S. 37ff.). Den letzten Schritt betrachtet
Joas als unabdingbar, um sich nicht in der Opferrolle zu verharren
und damit in die Sackgasse der Feindbildentwicklung zu geraten.
Gerade in diesem letzten Schritt vollzieht sich für den Preisträger
der menschenrechtliche Akt der Brüderlichkeit.
Das Modell von Joas ist für die Praxis der Gemeindepsychiatrie gut
anwendbar. Es ist keine therapeutische Anleitung, sondern vielmehr
die Grundlage für eine empathisch mitfühlende Haltung. Der Einbruch
einer Psychose oder einer schweren Depression in das Leben des
Individuums kann durchaus als Gewaltakt bezeichnet werden. Das
Modell stellt eine theoretische Grundlage für den Prozess der
Recovery dar. Der den Psychiatrie-Erfahrenen begleitende Mensch –
ob Professionelle, Peers oder Angehörige – erhält ein Schema, um
den Prozess der Bewältigung zu verstehen und Veränderungen in aller
Behutsamkeit initiieren. Es geht Joas nicht nur um den Prozess des
Einfühlens, der im Werk von Mead eine zentrale Rolle einnimmt, es
geht auch um die Beendigung des Aushaltens. In dem Roman von Döblin
übernimmt der ungeliebte und als kalt beschriebene Vater die
Initiierung des Übergangs von Stufe 2 auf Stufe 3, indem er das
Verharren in der Opferrolle des Sohnes nicht akzeptiert und den
Vorschlag macht, sich in einem erweiterten Familienkreis
Geschichten zu erzählen. Die Erzählung der Geschichten versteht
Joas nicht als harmonischen, unmittelbar hilfreichen Prozess,
sondern als unbestimmte Reise, der idealerweise aus der Nacht
herausführt. Unabdingbare Voraussetzung für den Verlauf des
Prozesses sind Zeit und Geduld. Und so endet der Vortrag mit dem
Satz: »Weder wohlwollend therapeutisch noch autoritativ-belehrend
ist das Erzählen ein Weg aus der Gewalt, sondern nur als solche
existenzielle Herausforderung zur Formung einer neuen Geschichte.«
(S. 42)
Ein anspruchsvolles Programm für die mit Klienten arbeitenden
Personen in der Gemeindepsychiatrie. Für meine Arbeit konnte ich
feststellen, dass ich zwischenzeitlich doch eher dem theoretischen
Modell von Axel Honneth zuneige. Das mag daran liegen, dass ich wie
Hegel Schwabe und zudem ein areligiöser Mensch bin. Vor allem aber
damit, dass seit zwanzig Jahren das Sozialmanagement mein Geschäft
ist. Und angesichts der knappen Mittel, die die Gesellschaft bereit
ist, in den Sozialetat zu investieren wird meine Nacht der Trauer
beruflich wohl nie enden.
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