Rezension zu Das Geheimnis unserer Großmütter

ippnw forum. das magazin der ippnw (internationale ärzte für die verhütung des atomkriegs – ärzte in sozialer verantwortung), nr. 145 märz 2016

Rezension von Anne Jurema

Zeit heilt nicht alle Wunden
Zwei Studien zu den Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen

Am 30. November 2015 lud die Frauenrechtsorganisation medica mondiale zum Fachtag: »Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen – Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Fachwelt« in Berlin ein. Zentraler Bestandteil der Tagung war die Vorstellung der Ergebnisse der Studie »We are still alive – wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark« zu den Langzeitfolgen und Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina zwanzig Jahre nach Kriegsende von medica mondiale und Medica Zenica.

Während des Krieges in Bosnien und Herzegowina (1992–1995) wurden schätzungsweise 20.000 bis 50.000 vornehmlich bosnische Mädchen und Frauen systematisch von Soldaten vergewaltigt. Oft wurden sie gefangen genommen und über eine längere Zeit sexualisierter Gewalt und Folter ausgesetzt. Unzählige wurden davon schwanger. In der Forschungsarbeit »We are still alive« wurde mit 51 Überlebenden von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt im Krieg aus Bosnien und Herzegowina, die das Unterstützungsangebot von Medica Zenica in Anspruch genommen hatten, eine Studie durchgeführt. Ergänzend wurden mit Vertreterinnen von NGOs und Ministerien Interviews geführt.

Das zentrale Ergebnis der partizipativ angelegten Studie ist, dass auch 20 Jahre später die Überlebenden noch massiv an den psychischen, körperlichen und sozialen Folgen der Kriegsvergewaltigungen leiden. »Mehr als 70 Prozent der Teilnehmerinnen gaben an, dass die Vergewaltigung ihr Leben immer noch vollständig beeinflusst, vor allem in Form ständiger belastender Erinnerungen an die Ereignisse, emotionaler Probleme wie Angst oder Nervosität, gesundheitlicher Herausforderungen und ernsthafter Probleme in engen zwischenmenschlichen Beziehungen«, so die Autorinnen. Zu den gesundheitlichen Problemen gehörten in 93,5 Prozent der Fälle gynäkologische Probleme, Schwierigkeiten, nach dem Erlebten schwanger zu werden (20 Prozent) und Krebserkrankungen (über zehn Prozent). 57 Prozent der Teilnehmerinnen erfüllten die Kriterien der klinischen Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung PTBS, was für eine hohe Chronofizierung des Leidens spricht und sich mit den Prävalenzraten für PTBS nach Kriegsvergewaltigungen der meisten Forschungsarbeiten deckt.

Die Beziehungen zu Partner und/oder Kindern sahen die meisten Teilnehmerinnen im hohen Ausmaß beeinträchtigt. Ungefähr die Hafte der Frauen hatten Partnern und/oder Kindern bis heute nicht von dem Erlebten erzählt, was auf starke Schamgefühle und die Macht des gesellschaftlichen Schweigens hinweise, so die Autorinnen. Auf sozialer Ebene berichteten viele Frauen von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem offiziellen Status sogenannte »ziviler Kriegsopfer«, den Überlebende von Kriegsvergewaltigungen seit 2006 in Bosnien und Herzegowina beantragen können. Dieser soll Überlebenden Zugang zu einer kleinen monatlichen »Rente« und anderen speziellen Unterstützungspro-grammen eröffnen. Er stellt eine weltweit einzigartige politische Errungenschaft dar, für die viele Frauenorganisationen gekämpft hatten. Allerdings hatten insgesamt bis 2015 gerade einmal drei Prozent der Überlebenden diesen Status überhaupt beantragt und erhalten. In der Stichprobe waren es auch dank der Hilfe von Medica Zenica hingegen über 75 Prozent. In diesem Zusammen-hang ist es alarmierend, dass die Statusinhaberinnen der Studie den Status kaum als ermächtigenden Akt erlebten und auch nur nur sechs bis acht Prozent ein nicht-monetäres Unterstützungs-angebot wahrgenommen hatten.

Im Gegenteil, die Statusinhaberinnen in der Stichprobe hatten sogar »eine größere Neigung zur Selbstbeschuldigung als jene ohne Status«. Die Autorinnen der Studie führen das neben negativen Erfahrungen im Rahmen der Antragstellung vor allem darauf zurück, dass der Status »weder die bei weiten stärkeren, negativen Reaktionen aus dem Umfeld der Überlebenden auf[wiege], die immer noch auf allen Ebenen der Gesellschaft existierten, noch den enormen Mangel an Schutz und Gerechtigkeit, den sie erleben«. So erzählte eine Teilnehmerin etwa über ihren Kontakt mit lokalen Institutionen: »Sie sagen, dass du dich für Geld verkaufst«. Eine andere berichete, dass eine Beamtin bei Vorlage ihres Zertifikats in der Schule ihrer Tochter erwiderte: »Na und, warum hat sie nicht aufgepasst, so wie ich, warum hat MICH niemand vergewaltigt?« Hinzu kommt, das die wenigsten Täter zur Rechenschaft gezogen wurden und Überlebende diesen im Alltag sogar teilweise auf der Straße wiederbegegnen. All dies zeige nicht nur die »Unabgeschlossenheit des Friedensprozesses innerhalb der Gesellschaft«. Die Autorinnen schlussfolgern zudem, dass »ein Status, der allein über das Vorhandensein der Vergewaltigungserfahrung definiert wird, letztlich die Identität der Überlebenden als Opfer zementiert.«

Auf die Frage, was den Frauen helfe, mit dem Erlebten umzugehen, antworteten die Teilnehmerinnen, dass ihnen »Akzeptanz, emotionale Unterstützung, aktive Bewältigung, Religion und die Suche nach und die Inanspruchnahme instrumenteller Unterstützung und Planung« geholfen habe und helfen würde. Die am häufigsten genannte Bewältigungsstratgie war jedoch Ablenkung. Auch die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka wurde von 60 Prozent der Frauen als Form der Bewältigung angesehen. Fast ein Drittel der Teilnehmerinnen sagten sogar, dass es heute gleich schwer oder noch schwerer sei, mit den Erfahrungen fertig zu werden. Zugleich berichten zwei Drittel von Erfahrungen persönlichen Wachstums.

Die Mehrheit der Teilnehmerinnen sah das »Brechen des Schweigens« und das Sprechen über das Erlebte als einen Hauptfaktor für Heilung, so die Autorinnen. Hier spielten sowohl Familie wie Freunde, aber auch das Unterstützungsangebot von Medica Zenica eine große Rolle. Auch Berufstätigkeit erwies sich als ein wichtiger stabilisierender und protektiver Faktor.

Als »zweischneidig« bewerten die Autorinnen das Ergebnis, das die Befragten die Beziehung zu den Kindern als wichtigste und manchmal einzige Quelle der Kraft für das eigene Weiterleben nannten. Denn implizite elterliche »Aufträge« an das Kind, etwa dafür da zu sein, das Leid der Mutter zu kompensieren, führen leicht zur Überforderung und Weitergabe emotionaler Belastungen an die Kinder. Insbesondere zu der Situation und den Bedürfnissen der Kinder bedarf es weiterer empirischer Studien, vor allem, aber nicht nur da, wo diese aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind.

Auf der Tagung wurde auch die wissenschaftliche Studie »Das Geheimnis unserer Großmütter« von Svenja Eichhorn und Phillip Kuwert vorgestellt. Diese erste (!) Studie erhob 2011 gezielt die posttraumatische Belastung von Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges von russischen Soldaten vergewaltigt wurden – 65 Jahre nach dem Geschehen. Im Schnitt waren die Interviewten 80 Jahre alt. Hierbei zeigte sich, dass »das öffentliche und private Schweigen über die Welle der Kriegsvergewaltigungen um 1945 in vielen Fällen bis heute eine unsagbar große Verletzung verbirgt«, so die Autoren in ihrem Schlusswort. Im Frühjahr 1945 wurden im Zuge des Vorrückens der Roten Armee nach Westen 1,4 bis 1,9 Milionen deutsche, aber auch ukrainische und polnische Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt.

Die Studie, die auf der Diplomarbeit von Svenja Eichborn basiert, leistet so einen kleinen Beitrag zur späten Würdigung der Frauen und der lange versäumten Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte. Leider wurden jedoch nur quantitative Daten ausgewertet, was die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt. Aufgrund der transgenerationalen Auswirkungen sowie der Retraumatisierungsgefahr älterer allgemein-ärztlicher oder klinischer Patientinnen ist die Thematik auch gegenwärtig für Gesundheitsfachkräfte relevant.

Eine Zusammenfassung der Studie steht als Download auf der Seite von Medica Mondiale zur Verfügung: kurzlink.de/il8iYmpie

Svenja Eichborn, Phillip Kuwert: Das Geheimnis unserer Großmütter. Eine empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt um 1945. Psycho-Sozial Verlag, Gießen 2011. ISBN: 78-3-8379-2131-1


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