Rezension zu Kontrollierter Kontrollverlust
JAZZTHETIK 01/02-2017
Rezension von Hans-Jürgen Linke
Literatur
Jazz und Psychoanalyse
Improvisation als Technik
Nein, Sigmund Freud war nicht Jazzmusiker im Nebenberuf, nach
allem, was man von ihm weiß, war er nicht einmal ein Anhänger
dieser Musik. Als Louis Armstrong geboren wurde, war er schon ein
stattlicher Mittvierziger, und als Freud starb, gehörte Charlie
Parker gerade zur Band von Jay McShann.
Wenn Konrad Heiland das Thema Jazz und Psychoanalyse auf die Agenda
setzt, geht es weniger darum, Geschichten zu erzählen, und es geht
auch nicht um streng systematische Argumentationen. Am Anfang der
thematischen Entwicklung steht vielmehr die ungefähre
Gleichzeitigkeit der Entstehung von Psychoanalyse und Jazz sowie
die unverkennbare Zugehörigkeit beider, sagen wir: Disziplinen zum
Projekt der Moderne. Wir müssen uns also mit historischen
Parallelen begnügen sowie schließlich mit der zentralen Analogie,
die das Buch im Titel führt: Kontrollierter Kontrollverlust.
Sowohl Psychoanalyse als auch Jazz haben das durchaus nicht
widerspruchsfreie Verhältnis von Freiheit und struktureller
Bindung, von Kontrollverlust und Kontrolle, von freier Assoziation
und idiomatischer oder thematischer Basis zum Grundmuster ihrer
Praxis gemacht. Nur dass eben auf der einen Seite eine schnell
verwehende akustische Kunst produziert wird und auf der anderen
eine therapeutische Arbeitsweise und im günstigen Falle des
Gelingens ein Heilungsprozess.
Gleichwohl gehen die Beiträge in dem Buch über die Konstatierung
von Analogien weit hinaus. Sie produzieren oder finden
Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten, sie sammeln Ansichten,
dokumentieren Gespräche etwa mit Therapeuten, die auch Musiker sind
(oder umgekehrt), untersuchen verschiedene Aspekte künstlerischer
Praxis, musiktherapeutischer Vorgehensweisen und
musik-publizistischen Papsttums. Sie betten den aktuellen Jazz und
die Psychoanalyse ein in einen gemeinsamen Kontext aufgeklärter und
aufklärender Praxis, wobei das Hörbarmachen des Unbewussten in der
Musiktherapie nicht die einzige Berührungssphäre bleibt. Sehr
erhellend etwa liest sich Antje Niebuhrs Beitrag über »Freie
Assoziation, Freie Improvisation und gleichschwebende
Aufmerksamkeit«.
Der wichtigste Aspekt des Buches liegt in der großen
intellektuellen Aufmerksamkeit, die insgesamt den Verfahren
musikalischer und/oder sprach- und wahrnehmungspraktischer
Improvisation entgegengebracht wird. Denn niemand improvisiert oder
psychoanalysiert schließlich einfach so drauflos. Improvisation
erscheint zu Recht als komplexe Technik, emotional und vorbewusst
konstituierte Wege durch die Gestrüppe der Wirklichkeit – seien es
nun die Gestrüppe musikalischer Regelsysteme, Vokabeln und
Techniken, seien es die Gestrüppe der Affekte und der
Sprachzerstörung – zu finden oder zu bahnen. Und es ist an
Christopher Dell, einem der raffiniertesten deutschen Musiker des
aktuellen Jazz, die Dialektik des Improvisierens als
Handlungsfreiheit zu charakterisieren, die aus intensiven Lern- und
Bildungsprozessen entsteht.