Rezension zu Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus
psychosozial 38. Jg. (2015) Heft II (Nr. 140)
Rezension von Uta Ottmüller
Schwarze Löcher
In einer Fernsehdiskussion anlässlich der Pegida-Demonstrationen
hat der Dresdner Politologe Werner J. Patzelt die aktuelle
Konzeptlosigkeit der deutschen Einwanderungspolitik als »schwarzes
Loch der politischen Kommunikation« bezeichnet und zur Hauptursache
dieser irritierenden Protestbewegung erklärt.
Warum und wie dieses schwarze Loch entstanden ist, war nicht
Gegenstand der Diskussion. Es liegt aber nahe, zu fragen, ob die
Politiker als Volksvertreter hier nicht ähnlich geartete schwarze
Löcher mit ihrer potenziellen Wählerschaft gemeinsam haben.
Psychologisch können unter schwarzen Löchern auch tabuisierte Teile
der eigenen Lebens- und Familiengeschichte verstanden werden.
Themen, an die man nicht rühren darf. Einwanderung, die Not von
Flüchtlingen, der Einfluss von Einwanderern auf die eigene Kultur
– das sind Themen, die viele Deutsche offenbar fast 70 Jahre nach
dem Ende des Nationalsozialismus noch immer um den Verstand
bringen.
Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt sich die Lektüre des
Sammelbands »Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus.
Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien«,
erschienen 2014 im Psychosozial-Verlag. In seinem Beitrag »Morden
für das vierte Reich. Transgenerationalität und Rechtsextremismus«
beschreibt der Mitherausgeber Jan Lohl, wie sich bei den Nachkommen
der Nationalsozialisten »Phantome« von deren »Herrenmenschenselbst
« ausgebildet haben. Das Phantomhafte dieser Gefühlserbschaft sei
zum einen darin begründet, dass die gesellschaftliche
Konstellation, in der die oft durchaus lustvollen Machterlebnisse
der (Groß-)Eltern möglich waren, nicht mehr gegeben ist, zum
anderen darin, dass die aktuellen Phantomträger gewöhnlich wenig
bis gar nichts über die konkreten Umstände dieser Machterlebnisse
wissen. Es sei im Gegenteil so, dass die Kinder, die dazu bereits
alt genug waren, von ihren Eltern als mögliche Geheimnisverräter
bedroht wurden. Generell, so Lohl, wurde das »Herrenmenschenselbst«
nicht etwa durch eine anerkennende Erziehung weitergereicht,
sondern oft über harte Körperstrafen und Demütigungen der Kinder
– bei gleichzeitiger hoher Loyalitäts- und Liebeserwartung. Dies
erklärt sich nicht nur durch die harten Erziehungsregeln, die
bereits vor dem Nationalsozialismus verbreitet waren und
sozialpsychologisch zu dessen Machtergreifung beitrugen, sondern
auch durch die dringend benötigte Entlastungsfunktion, die die
Kinder für ihre demoralisierten Eltern erfüllen mussten. In ihren
Kindern konnten die Eltern, so Lohl, ihre »verleugnete[n]
Selbstanteile wie Schuld- und Schamgefühle, Schwäche und Zweifel
an der eigenen Lebensgeschichte projektiv identifizieren« (S. 177).
Weil sie diese Selbstanteile in der Nachkriegssituation zugleich
fürchten mussten, suchten sie diese an ihren Kindern durch strenge
Erziehung zu kontrollieren. Unter fortgesetzter Geheimhaltung der
ursprünglichen NS-Mitläufer- oder Täterschaft entwickelten sich
ähnlich zwiespältige Beziehungen auch zwischen den
Folgegenerationen.
Eine Möglichkeit für derart emotional überforderte Jugendliche,
Schuldgefühle aus ihrer Familiengeschichte zu vertreiben, sei der
Beitritt zu rechtsradikalen Gruppen. In deren überall stark
ausgeprägten historischen Bezügen würden Deutsche stets als
verteidigungsberechtigte Opfer dargestellt und auch im Hinblick auf
die Gegenwart, etwa im Zusammenhang der NSU-Morde, betreibe man
(publizistische) Täter-Opfer-Umkehr. Nach Lohl »verschwindet [so]
für Neonazis in ihren abgeschotteten Gruppen zunehmend die
zeitliche Differenz zu dem vergangenen Leben der Großeltern« und es
kommt zu einem »imaginären Zurückversetzen des eigenen Selbst in
deren Geschichte« (S. 192). Gleichwohl sind nicht alle Neonazis und
Rechtsextreme Nachkommen von NS-Tätern und -Mitläufern und
umgekehrt sind diese Nachkommen nicht alle Neonazis und
Rechtsextreme geworden.
Angela Moré, die Mitherausgeberin des Bandes, bemerkt in ihrem
Beitrag »NS-Täterschaft und die Folgen verleugneter Schuld bei den
Nachkommen«, dass diese auch in Wiedergutmachungsprogrammen,
Friedensaktionen und in der sozialen Arbeit mit im NS verfolgten
Minderheitengruppen aktiv wurden. Zentrales Anliegen ihres Artikels
ist es, auf das (therapiebedürftige) Leiden der Täternachkommen
aufmerksam zu machen:
»Nicht selten haben die Nachkommen von Täter/ innen und
überzeugten Nationalsozialist/innen das Gefühl, mit ihnen stimme
etwas nicht, sie seien nicht ganz in Ordnung. Sie fühlen sich
fremd und andersartig und haben das dumpfe Empfinden, kein Recht
auf ein eigenes, unabhängiges und unbeschwertes Dasein zu haben«
(S. 211).
Als Quellen zum Verständnis dieser Symptomatik zieht sie neben
psychoanalytischer Fachliteratur insbesondere autobiografische und
dokumentarische Berichte von Töchtern und Söhnen verurteilter
NS-Verbrecher heran, die mit großem persönlichem Mut den
Nestbeschmutzer-Tabus ihrer Familien trotzten, die ihnen
verheimlichte Realität gründlich recherchierten und als Buch oder
Dokumentarfilm veröffentlichten.
Eine von ihnen ist Ute Althaus, die erst nach dem Tod ihres Vaters
erfahren hat, dass er in den letzten Kriegstagen einen jungen
Widerstandskämpfer persönlich festgenommen, verurteilt und
hingerichtet hatte. Dafür wurde er zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt. In ihrem Beitrag zum hier vorgestellten Sammelband
beschreibt Ute Althaus unter der Überschrift »Lügen – Wünsche –
Wirklichkeiten« aus der Perspektive des in ihr selbst
wiederentdeckten Kindes, was es heißt, mit Familiengeheimnissen
aufzuwachsen:
»In meiner Kindheit gab es etwas, was ich nicht wissen sollte – und
doch sollte ich genau wissen, worüber ich nicht sprechen und
worüber ich keine Fragen stellen durfte. Mein Vater saß nach dem
Krieg im Zuchthaus, das wusste ich. Weshalb, das wusste ich nicht.
Das gehörte zum Familiengeheimnis. Obwohl mir gesagt wurde, dass
die Mutter den Vater im ›Zuchthaus‹ besuchte, durfte ich das Wort
›Zuchthaus‹ nicht aussprechen. Es war verwirrend« (S. 272).
Aufgrund der Ungereimtheiten, die daraus resultierten, dass die
Familie die Zuchthausstrafe des Vaters als Kriegsgefangenschaft
tarnte, geriet das Kind Ute auch in Gesprächen in der Nachbarschaft
und in der Schule oft in Verlegenheit. Von den Eltern, die sich als
moralisch integre Nicht-Nazis präsentierten, wurde dies jedoch
nicht etwa als dem Kind auferlegte Belastung interpretiert, sondern
vielmehr als Ausdruck seiner mangelnden Loyalität, und seine Fragen
als zu bestrafende »Unverschämtheit«.
Die Folgen für das Familienklima beschreibt Althaus so:
»Das Gebot, nichts nach außen zu tragen, machte die Familie zu
einer verschworenen Gemeinschaft, in sich abgeschlossen, in der
doch jeder alleine ist. Das Familiengeheimnis verwehrte nicht nur
die Öffnung nach außen, sondern vereinzelt auch innerhalb der
Familie« (S. 273).
Besonders nach der Rückkehr des zunächst idealisierten, nach
seiner Rückkehr aber als kalt und unzugänglich gefürchteten
Vaters verstärkte sich die »Mauer des Schweigens« in der Familie,
hinter der die Empfindungen des Kindes »nicht nur auf keinen
Widerhall [stießen], sondern im Gegenteil entwertet wurden«
(ebd.).
In dieser verwirrenden Alltagswelt suchte die Schülerin Ute die
Schuld für all diese Dissonanzen bei sich selbst und sie war froh
über jede richtig gelöste Matheaufgabe, weil sie ihr bewies, dass
sie noch nicht den Verstand verloren hatte. Nach einer
psychoanalytischen Therapie und umfangreichen Recherchen war es ihr
wichtigster Befreiungsakt, ihr Buch: »NS-Offizier war ich nicht.
Die Tochter forscht nach« (2006) zu schreiben und zu
veröffentlichen. Dabei wurde sie noch einmal – auch durch als
lebensbedrohlich erlebte körperliche Symptome – mit ihrer tief
sitzenden Angst, die elterlichen Schweigegebote zu verletzen,
konfrontiert. Dem Kampf mit dieser Angst unterzog sie sich nicht
nur um ihrer selbst willen, sondern auch, weil sie in ihrer
Geschichte »ein individuelles Beispiel für viele« sieht. Die
»Berechtigung« ihres Buches sieht sie vor allem darin, dass es
»andere Menschen dazu ermuntert, die Vergangenheit der eigenen
Familie zu recherchieren und bisher nicht gestellte Fragen zu
stellen« (S. 281).
Der Sammelband ist thematisch vorrangig auf die »unbewussten
Erbschaften« in Familien der Nationalsozialisten fokussiert. Die
psychischen Folgewirkungen in den Familien der Verfolgten und
Überlebenden, die in Zusammenarbeit mit ihren Therapeuten zuerst
entdeckt wurden und insofern forschungsstrategisch wegbereitend
waren, werden in einem Beitrag von Kurt Grünberg und Friedrich
Markert angedeutet. Hier bearbeitet die Enkelin eines
KZ-Überlebenden die Lücke in ihrer Familienerinnerung, indem sie
eine Ausstellung seiner Korrespondenz und weiterer Exponate aus der
NS-Zeit (mit)kuratiert. Die Autoren waren von ihr zur Anwendung des
am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut entwickelten »Szenischen
Erinnerns der Shoah« auf die Exponate gebeten worden und konnten
ihr mit dieser Methode eine Annäherung an das Extremtrauma ihres
Großvaters ermöglichen, über das dieser niemals mit ihr gesprochen
hatte.
Eine Möglichkeit für Nachkommen der Opfer- wie der Täterseite, die
unbewussten und unerwünschten Erbschaften des Nationalsozialismus
zu bearbeiten, ist die gemeinsame Dialogarbeit. Kern dieser Arbeit
ist es, dass die Teilnehmenden einander erzählen, welche
Auswirkungen der Massenmord auf den Lebensverlauf ihrer
(Groß-)Eltern bis hin zu ihrem eigenen gehabt hat, und dass sie
gemeinsam darüber sprechen.
Elke Horn berichtet in ihrem Beitrag: »Was tun mit dem
transgenerationalen Erbe?« über ihre Dialogerfahrungen in dem 1995
von jüdischen und nicht-jüdischen deutschen Psychotherapeuten
gegründeten Arbeitskreis PAKH (Arbeitskreis für
Intergenerationelle Folgen des Holocaust) sowie in gemischten
Gruppen mit friedenspolitischer Intention. In bewegenden Beispielen
zeigt sie, wie latente Schuld- und Schamgefühle sowie überstarke
Loyalitätsbindungen an die (Groß-)Eltern im Gruppenprozess
aktualisiert und auf ein realitätsgerechtes Maß zurückgeführt
werden konnten. Dabei sei das Erzählen von Träumen, aber auch das
genaue Analysieren von Konfliktsituationen hilfreich gewesen. Horn
fasst zusammen:
»Durch Biografie-Arbeit werden sich die Dialogpartner/innen ihrer
eigenen Verletzungen und derjenigen der anderen bewusst. Sie lernen
ihre inneren Verflechtungen mit den Eltern und Großeltern kennen
und können sich in einem manchmal schmerzlichen Prozess von
transgenerational vermittelten destruktiven Loyalitäten trennen.
Sie können die Fähigkeit entwickeln, nicht jede ›Einladung‹, sich
als ›Opfer‹ oder ›Täter‹ zu fühlen, anzunehmen und sich gegen
solche Zuschreibungen abzugrenzen. Wo ein Sich-bedroht-Fühlen in
der eigenen Identität aufkommt, kann die Gruppe den fehlenden
inneren Spielraum vorübergehend ersetzen und einen Übergangsraum
herstellen, in dem die verschiedenen Aspekte des Erlebens
nebeneinander stehen und Gehör finden können. […] Im Dialog erleben
wir uns im Blick des Anderen. Das innerlich beteiligte, von
Empathie getragene, aktive Zuhören verändert nicht nur den
Erzählenden, sondern auch den Zuhörenden, der seine inneren Bilder
von sich selbst und dem Anderen dabei bestätigt oder infrage
gestellt sieht. Dialog ist so gesehen eine ständige Arbeit an der
eigenen Identität. Wenn er gelingt, erleben die Teilnehmer/innen
dabei auch die eigene Wirkmächtigkeit in der Begegnung mit dem
Anderen« (S. 268).
Zum gesellschaftlichen Hintergrund der biografischen und familialen
Transferprozesse und ihrer Bearbeitung enthält der Band Beiträge
der erinnerungspolitisch prominenten Autoren Hannes Heer und
Wolfgang Benz. In beiden Artikeln geht es um bis heute
weitverbreitete Formen der Verharmlosung und Rechtfertigung der
NS-Verbrechen und die fragile Grenze, jenseits derer sie zum
Skandal und manchmal auch zum Anlass gerichtlicher Sanktionen oder
von Amtsenthebungen wurden. Heer befasst sich dazu unter anderem
ausführlich mit den Biografien und Werken von Günter Grass und
Martin Walser sowie mit der öffentlichen Diskussion um ihre späten
Enthüllungen. Heer wie Benz erwarten für die Zukunft keinen
selbstläufigen Rückgang von Antisemitismus und Rechtsradikalität
in Deutschland und blicken dementsprechend mit Sorge in die
Zukunft. Im impliziten Kontext des hier besprochenen Bandes lässt
sich dies als Argument für die Dringlichkeit der Verbreitung der
neuen familiengeschichtlichen Herangehensweisen lesen, die vor
allem in den Artikeln von Ute Althaus, Ruth Waldeck und Elke Horn
veranschaulicht sind.
Der Band basiert auf einer langjährigen und stark nachgefragten
Tagungsreihe der evangelischen Akademie Hofgeismar. Die
Tagungsinitiatorin Heike Radeck beschließt ihren einleitenden
Beitrag mit der folgenden »Zukunftsansage«:
»Wenn der Pakt mit den Tätereltern oder Großeltern aufgekündigt
ist, dann ist die leidvolle Weitergabe von Generation zu Generation
endlich durchbrochen […]. Die Verbrechen sind damit nicht aus der
Welt geschafft und auch nicht das Leid, das sie bei den
nachfolgenden Generationen ausgelöst haben. Aber sie sind mit dem
richtigen Namen benannt und bei den Personen verortet, die sie auch
begangen haben« (S. 24).