Rezension zu Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung
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Rezension von Gerhard Klug
Thema
Band 22. aus der Reihe »Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik«
beschäftigt sich mit den Themen »Kindeswohl« und
»Kindeswohlgefährdung« aus rechtlicher und – das soll das
Charakteristische dieses Bandes sein – aus
psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive.
AutorInnen
Bei den AutorInnen handelt es sich um überwiegend graduierte und
promovierte SozialpädagInnen, Soziologinnen, Pädagoginnen, die im
deutschen und österreichischen Raum im Hochschulbereich tätig sind
und eine fundierte Expertise im Bereich der psychoanalytischen
Pädagogik aufweisen.
Entstehungshintergrund
Das regelmäßig erscheinende Jahrbuch fokussiert in einem jeweils
erscheinenden Band abwechselnd verschiedene Themen. Der hier
vorliegende Band beschäftigt sich explizit mit dem Themenfeld der
»Kindeswohlgefährdung«, da nach Ansicht der Redaktion sich die
»Psychoanalyse und Psychoanalytische Pädagogik … bisher kaum« (S.
15) mit dieser Thematik beschäftig haben, obwohl viele zahlreiche
Veröffentlichungen zu Misshandlung und Missbrauch vorliegen.
Aufbau und Inhalt
Zehn Beiträge, mehrheitlich in alleiniger Autorenschaft, tragen
dazu bei, dass der Themenschwerpunkt »Kindeswohl und
Kindeswohlgefährdung« von verschiedenen Blickrichtungen aus der
Praxis behandelt wird. Abgeschlossen wird der Band mit einer
»Literaturumschau« und einigen Rezensionen.
Zum Editorial
Zu Beginn und damit als Hinführung zum Thema durchstreift die
Redaktion in einer essayartigen Darstellung erziehungs- und damit
kindeswohldeterminierende Aspekte. Ausgehend von der
»Entwicklungstatsache«, der Ausstattungsseite bzgl. der Eltern/des
Familiensystems sowie der Vorstellung geeigneter Erziehungsziele
beschreiben die Herausgeber das moderne Bild von Kind/Kindheit. Sie
zeigen heutige Erziehungsmuster mit all den Risiken und
Gefährdungsmomenten auf. Dabei spielen die »Eltern-Kind-Dynamiken«
(S. 11) und Beziehungsmuster in der Familie eine wesentliche Rolle
bei der Bearbeitung und Bewältigung problematischer
Entwicklungen.
Zu 1: »Rechtliche Aspekte des Kinderschutzes«, von Wolfgang
Feuerhelm
Der erste Beitrag »Rechtliche Aspekte des Kinderschutzes« wird von
Wolfang Feuerhelm ausgeführt. Er leitet in die Thematik der
Kindeswohlgefährdung ein, indem er rechtliche Standards erläutert
und gesetzliche Neuerungen (Bundeskinderschutzgesetz) einbezieht.
Inhaltlich durchstreift der Autor mehrere Bereiche: der verbesserte
Kinderschutz und die leichtere Praktikabilität ausgehend von der
Reform des § 1666 BGB, Kinderschutz als präventive Aufgabe der
»Frühen Hilfen« – mit kritischer Würdigung der Effekte durch den
Autor –, das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen
Missbrauchs mit Einschränkungen für Opfer und Berater, Änderungen
in den ärztlichen Mitteilungspflichten nach SGB V und eine
Reflexion üben den Stellenwert der körperlichen Misshandlung neben
der sexuellen und psychischen Misshandlung.
Zu 2: »Sequenzielle Traumatisierung bei Kindeswohlgefährdungen«,
von David Zimmermann
Der Autor führt prägnant in das Themenfeld der Traumatisierung ein,
hervorgerufen durch eine Kindeswohlgefährdung, und schneidet die
Sichtweise der Psychoanalytischen Pädagogik auf traumatisierende
Prozesse an. Nach Darstellung einer knappen Typologisierung von
Traumata-Typen geht er auf das Kernthema, der Sequentiellen
Traumatisierung, ein. Anhand von Fallvignetten wird die Konzeption
erläutert, kritisch reflektiert und mithilfe des Szenischen
Verstehens analysiert. Abschluss bildet eine kritische Analyse des
Umgangs mit Kindeswohlgefährdung. Dabei zeigt der Autor das
implizite Spannungsfeld auf, das entsteht und nicht ganz auflösbar
ist, da sowohl eine notwendige Gefährdungsabwendung (bspw. durch
eine Inobhutnahme oder das zur Anzeige-Bringen der Gefährdung) als
auch eine Unterlassung komplexe traumatisierende oder
re-traumatisierende Folgen nach sich ziehen.
Zu 3: »Kindeswohlgefährdung – professionelle Grenzerfahrungen?
Beobachtungen zur ›aufsuchenden Psychoanalyse‹ in
Frühpräventionsprojekten für ›children-at-risk‹«, von Marianne
Leuzinger-Bohleber, Lorena Hartmann, Verena Neubert und Tamara
Fischmann
Der dritte Beitrag beschäftigt sich mit erlebten Grenzerfahrungen
von Fachkräften im Kontext von sexuellem Missbrauch. Die Autorinnen
greifen hierbei auf Praxiserfahrungen aus den
Frühpräventionsprojekten für »child-at-risk« zurück. Im Kern des
Beitrages geben die Autorinnen eine Definition über den sexuellen
Missbrauch sowie über die damit verbundenen psychischen Traumata
und behandeln aus psychoanalytischer Sicht die damit implizierten
Themen von Gewalt, psychische Funktionsweise bei der Bewältigung
des Traumas und Abwehrmechanismen beim Kind. Einen weiteren
Einschub geben die Autorinnen mit einer Abhandlung über Faktoren,
welche die »Qualität der Traumatisierung« moderieren. Gewalt als
sexueller Missbrauch vor einem kulturellen Hintergrund und Gewalt
als jugendamtliches Handeln wird von den Autorinnen in einer
Fallvignette dargestellt.
Zu 4: »Das Wohl des Kindes in der Erziehungsberatungsstelle«, von
Urte Finger- Trescher
Der vierte Beitrag beleuchtet das Thema Kinderschutz und
Kindeswohlgefährdung aus der Perspektive der
Erziehungsberatungsstelle. Die Autorin gibt hierbei einen kurzen
Abriss über das Spektrum der Beratungsthemen, die sich in der
Praxis wiederfinden. Im Weiteren veranschaulicht sie mit Hilfe
mehrerer Fallvignetten die psychoanalytische Perspektive, anhand
derer sie versucht Kindeswohlgefährdung zu belegen und zu
analysieren. Die Rolle und damit verbundenen Grenzen eines
psychoanalytisch verstehenden Beraters (»negativ capability«, S.
69) werden dazu von der Autorin aufgezeigt. Die Fallbeispiele geben
verschiedene Formen von Gefährdungen wieder, die mal deutlicher mal
verdeckter die Störungen der körperlichen oder seelischen
Entwicklungsfähigkeit aus der zu Grunde gelegten Sichtweise zeigen.
Abschließend plädiert die Autorin dafür, ebenfalls gestützt durch
ein Fallbeispiel, Erziehungsberatung als präventiven Kinderschutz
anzusehen. Dem psychoanalytisch-pädagogischen Zugang attestiert sie
die Fähigkeit Kindeswohlgefährdung im konsensualen Einklang mit der
normativen Rechtsprechung zu bearbeiten. Sie sieht jedoch eine
darüber hinaus reichende Erfassung und Bewertung von gefährdenden
Momenten, die aus juristischer Perspektive nur schwer erfassbar
sind.
Zu 5: »Komplexe Dynamik verstehen. Kindeswohl und
Kindeswohlgefährdung in der Jugendhilfe im ASD«, von Magdalena
Stemmer-Lück
Stemmer-Lück greift das Thema Kindeswohlgefährdung aus der Sicht
des Jugendamtes auf. Sie attestiert der generalistisch handelnden
Fachkraft im Jugendamt die Notwendigkeit einer »diagnostische(n)
Kompetenz«, um gefährdende Situationen »wahrnehmen, bewerten und …
entsprechend handeln« (S. 83) zu können. Basis jugendamtlichen
Handelns ist dabei die Beleuchtung des Interaktionsnetzes, in das
sich Kindeswohlgefährdung bewegt. Im Zentrum steht dabei die
Beachtung/Bearbeitung der diversen bewussten und unbewussten
ablaufenden Dynamiken, auf welche die Autorin jeweils kurz eingeht.
Das Herzstück von Stemmer-Lück´s Beitrag ist die theoriegeleitete
Darstellung psychoanalytisch-pädagogischer Zugänge, um
»unbewusste(n) Mitteilungen und Inszenierungen der Klienten und
Klientinnen« zu verstehen und diese richtig bewerten und
entsprechend handeln zu können. Anschließend zeigt sie anhand von
drei praxisnahen Fallbeispielen (Vernachlässigung, Misshandlung und
sexueller Missbrauch) auf, welche bewussten/unbewussten
Interaktions- und Beziehungsmuster zwischen den Akteuren
ablaufen.
Zu 6: »›Sag’ das dem Gericht!‹. Psychoanalytisch-pädagogische
Perspektiven auf das Kindeswohl im Kontext von Trennung und
Scheidung«, von Judit Barth-Richtarz
Dieser Beitrag widmet sich der Thematik Kindeswohl im
Aufgabenspektrum der Trennung und Scheidung. Auch hier wird eine
Fallvignette von der Autorin zu Beginn vorgelegt, um den Leser in
die Thematik einzuführen um sich im Anschluss der Darstellung bzw.
Herleitung einer psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive zu
widmen. Entlang der Fallvignette stellt die Autorin eine
kontroverse Diskussion verschiedener Beteiligten vor zu der Frage,
was Kinder in einer Trennungs- und Scheidungssituation aus der
Kindeswohlperspektive benötigen. Hierbei spannt sie den Bogen
zwischen kindlichen Bedürfnissen im Trennungs- und
Scheidungsverfahren einerseits und andererseits
kindeswohlermöglichende Perspektiven und Haltungen Externer bei
Sorgerechtsentscheidungen. Das Thema »Kindeswohl« wird vertieft
unter Hinzuziehung weiterer psychoanalytischer Perspektiven und
historischer Linien (dabei bezieht die Autorin auch die
Gesetzgebung in Österreich mit ein). Abgerundet wird der Beitrag
durch Rezeption der Österreichischen Evaluationsstudie zum
Kindschafts-Änderungsgesetz (KindRÄG 2001), die beispielhaft für
eine psychoanalytisch-pädagogische Studie steht und aktuelle
empirische Erkenntnisse hierzu liefert.
Zu 7: »Stationäre Einrichtungen als Orte zur (Wieder-)Herstellung
des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen? Eine
psychoanalytisch-pädagogische Perspektive«, von Margret Dörr
Die Autorin sucht mit diesem Beitrag eine Antwort auf die Frage, ob
es der Praxis der stationären Jugendhilfeeinrichtung gelingen mag,
»bereits verwundeten und gedemütigten Kindern und Jugendlichen« (S.
138) eine gutes, gesundes, selbstbestimmendes und teilhabegeprägtes
Leben zu ermöglichen. Dörr zeichnet hierbei Bedingungen auf, die
ihrer Ansicht nach ein »gesundheitsförderndes Setting« (ebd.) im
Heim darstellen und weist sodann auf die Grenzen und Risiken der
Heimerziehung hin. Dörr arbeitet aus der
psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive eine klinische Haltung
aus, die sowohl die personale als auch strukturelle Ebene
einbezieht. Sie zeigt auf, dass Fachkräfte in Heimen
»affektgeladene Beziehungsmuster« (S. 142) der Kinder verstehen
möchten, da sich diese interpersonal und institutionell
niederschlagen können und »Defizite, Widersprüche und Spaltungen«
(ebd.) in den Institutionen sichtbar machen und vorantreiben
können. Der Notwendigkeit der Elternarbeit widmet sie besondere
Aufmerksamkeit.
Zu 8: »Häusliche Gewalt und Kindeswohlgefährdung«, von Margrit
Brückner und Annelinde Eggert-Schmid Noerr
Mit zwei Bildern einer Fotoserie zur Häuslichen Gewalt setzen die
Autorinnen den Einstieg in die Thematik und binden den Leser damit
nicht nur rational an das Thema. Häusliche Gewalt, häufig
verstanden als männliche Gewalt in einer Partnerschaft mit
Auswirkungen auf das Kind, wird von den Autorinnen zunächst
einführend behandelt. Der Zusammenprall professioneller
Handlungslogik auf die »spiralförmige Beziehungslogik« (S. 158) der
Partnerschaft weist, laut den Autorinnen, ein noch weitgehend
offenes Feld für die Praktiker, um angemessen auf die oft diffuse
und ambivalente Realität einzugehen zu können. Durch das Aufzeigen
verschiedener Arten von Gewaltdynamiken stellen die Autorinnen die
Strukturen von gewaltbetonten Liebesbeziehungen dar. Die
Auswirkungen dieser Beziehungen auf das Kindeswohl werden aus der
Kinderperspektive und geschlechtsdifferenziert bearbeitet. Die
dabei entstehende Traumatisierung durch (mind.) einen Elternteil
wird als weitere Folge aus psychosozialer und psychoanalytischer
Sicht diskutiert. Die in der Familie innewohnende
Elternrepräsentanz wird dabei ebenso beleuchtet wie die
transgenerationale Weitergabe von Gewalterfahrungen in der späteren
Beziehungsgestaltung. Zum Abschluss werden Belastungen und
Schwierigkeiten im Umgang mit Häuslicher Gewalt aufgezeigt bspw.
durch institutionelle und damit oft auch rechtlich geregelte
Rahmungen, Reibungsverluste bei den Fachkräften und emotionale
Berührungen durch Aktualisierung eigener Erfahrungen aus der
Herkunftsfamilie.
Zu 9: »Der Beitrag der Frühförderung zum Kindeswohl. Perspektiven
ihrer Weiterentwicklung im Kontext der Frühen Hilfen«, von Hans
Weiß und Bernd Ahrbeck.
Der präventive Kinderschutz als ein wichtiger Beitrag zur
Sicherstellung des Kindeswohls durch »Interdisziplinäre
Frühförderstellen (IFS)« ist zentrales Thema in diesem Artikel.
Einführend erläutern die Autoren zunächst die Zielsetzung und den
konzeptionellen Rahmen der »Frühen Hilfen«, die mit den
Interdisziplinären Frühförderstellen im vernetzten Verbund in der
Lage sein können, Kindeswohlgefährdung einzudämmen. Die
Interdisziplinären Frühförderstellen werden hinsichtlich ihrer
Bedeutung und Rolle herausgearbeitet und im Weiteren kritisch in
Bezug auf ihre Erreichbarkeit durch die Zielgruppen und ihrer
konzeptionellen Entwicklung beleuchtet. Die Bedeutung und Rolle der
IFS untermauern die Autoren durch Darstellung »statistischer
Bedingungszusammenhänge« (S. 183), die einen Zusammenhang zwischen
der Prävalenz von Kindeswohlgefährdung und Kindern mit
Behinderungen und/oder Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten
aufzeigen. Die »Vernachlässigung«, als eine der am häufigsten
anzutreffenden Form von Kindeswohlgefährdung, rücken die Autoren
dabei in den Mittelpunkt und gehen unter
psychoanalytischer-pädagogischer Perspektive darauf ein.
Abschließend beschäftigen sich die Autoren mit Möglichkeiten die
Effektivitätssteigerung der IFS etwa durch Elternbildungsprogramme
oder Konzepte, welche die psychosoziale Situation, intrafamiliäre
Kommunikation und Beziehung stärken sollen. Der psychoanalytischen
Konflikttheorie wird großes Potential eingeräumt, um – ausgehend
vom strukturellen Setting der IFS – konflikthafte und
dysfunktionale Entwicklungsmuster zu erkennen und präventiv zu
bearbeiten.
Zu 10: »Drohende oder vermutete Kindeswohlgefährdung? Elternschaft
von Menschen mit einer geistigen Behinderung«, von Ursula
Pforr.
Mit einem leicht provokanten Einstieg sensibilisiert Pforr den
Leser einen inneren Bezug zum Thema Elternschaft bei Eltern mit
geistiger Behinderung herzustellen. Gesellschaftliche und
sozialpädagogische/jugendamtliche Skepsis sind, so die Autorin,
nach wie vor anzutreffen, obwohl aus rechtlicher Sicht die Frage
nach der strafrechtlichen Haftung längst ausgeräumt ist. Eine
ausgedehnte Fallvignette stellt die Autorin bewusst und mit dem
Hinweis nicht vor, da die Debatte um die Elternschaft bei von
geistiger Behinderung betroffenen Eltern emotional, polarisierend
und wenig differenziert erfolge. Dennoch zeigt sie anhand mehrerer
kurzer Fallverläufe eine jugendamtliche Praxis auf, die
mehrheitlich und überzogen Sorgerechtsentzüge und
Fremdunterbringungen vorzuweisen hat. Die psychosozialen Krisen als
Folge dieser familienzerstörenden Eingriffe spart Pforr dabei nicht
aus. Um den thematischen Rahmen besser zu verstehen zeigt sie
anhand mehrerer Exkurse auf, wie geistige Behinderung definitorisch
und gesellschaftlich einzugrenzen ist, welchem Wandel das
Menschenbild historisch unterlag und welche empirischen
Erkenntnisse zur Elternschaft bei geistig behinderten Eltern
vorliegen. All diese Ausführungen wandern in eine differenzierte
und sachliche Auseinandersetzung, ob bei all der notwendigen Sorge
um das Kindeswohl, tatsächlich eine drohende oder eher eine
vermutete Kindeswohlgefährdung vorliegt. Die Autorin plädiert
abschließend dafür, »auch bei Eltern mit einer geistigen
Behinderung sollte man daher immer zunächst in einem
differenzierten Prozess Risiko- und Schutzfaktoren gegeneinander
abwägen und im Bedarfsfall nach möglichen zusätzlichen
Schutzfaktoren suchen, bevor« (S. 215) eine Herausnahme erwogen
wird
Diskussion
Der vorliegende Band ist wohlüberlegt und systematisch aufgebaut.
Für den Praktiker stellt sich mit dem ersten Beitrag von Wolfang
Feuerhelm ein Gewinn ein, indem er kritisch die Wirkung der
länderweit eingeführten kinderärztlichen Untersuchungen hinterfragt
und den Stellenwert der körperlichen Misshandlung herausarbeitet.
Gerade bei Fachkräften aus der Praxis stellt sich die Frage, ob der
Aufwand der Registrierung und Verfolgung von Fällen, bei denen
Eltern ihre Kinder keiner kinderärztlichen
(Früherkennungs-)Untersuchung unterzogen haben, verhältnismäßig ist
und den gesetzlich intentionierten Zweck erfüllt. Eine gute und
nachvollziehbare Bearbeitung aus psychoanalytischer Sicht erfährt
dabei die Darstellung und Definition von sexuellem Missbrauch und
den damit verbundenen Traumata. Die psychischen
Funktionsmechanismen werden ausführlich genug behandelt, sodass
auch psychoanalytisch ferne Diagnostiker das Konzept gut
nachvollziehen können.
Weitere Spannungsfelder wie bspw. zwischen der normativen und der
psychoanalytischen Perspektive werden aufgezeigt, wenn bspw.
darüber nachgedacht werde, dass misshandelte Kinder keinen erneuten
Kontakt zu den Eltern haben sollten, auch keine Rückführung, um
eine Sequentielle Traumatisierung zu verhindern (vgl. S. 68). Oder
wenn Kindeswohlgefährdung zu Überforderung bei Professionellen
führen und ein fachliches und strukturell angemessenes Handeln
erschweren.
Als praxisnah und äußerst gut gelungen darf die
Darstellung/Bearbeitung bewusster/unbewusster Interaktions- und
Beziehungsdynamiken in Stemmer-Lücks Beitrag genannt werden.
Spätestens hier wird die Leserschaft feststellen, dass eine
Kinderschutzfachkraft bzw. Fachkraft im Jugendamt über deutliche
fachliche Kompetenzen verfügen muss, als dies in der Regel über ein
basisqualifizierendes Studium vermittelt werden kann. Die
psychoanalytisch-pädagogische Perspektive wird als Zugang zum
Fallverständnis und zur Intervention im Jugendamt als schlüssiges
und praxisnahes Konzept dargestellt und so bleibt zu wünschen, dass
viele Kollegen sich dieses Wissen für die eigene Praxis zu Eigen
machen.
Mit dem Beitrag von Judit Barth-Richtarz gelingt ein weiterer sehr
praxisnaher Beitrag, der sowohl für BeraterInnen in
Beratungsstellen und in Jugendämtern eine gute theoretische und
empirisch fundierte Ausarbeitung bietet. Die kontroverse Sichtweise
der zu Wort kommenden Protagonisten und deren Bewertung bereichern
die Sichtweise und helfen dem Leser sich die kindeswohlorientierte
Perspektive anzueignen. Die sorgsame und differenziert dargestellte
Thematik im Spektrum Trennung und Scheidung als auch die in der
stationären Jugendhilfe wirken fundiert und trennscharf, zeigen
eine gute klinisch akzentuierte Haltung und geben
handlungsorientierte Empfehlungen. Häusliche Gewalt wird ebenso gut
und umfassend aufbereitet, sodass für den Leser keine offenen
Punkte bleiben. Das Werk zeigt auf, wie ein sehr komplexes und
schwer greifbares Feld der Häuslichen Gewalt verstehbar gemacht
wird bzw. gemacht werden kann, wenn die inneren Logiken der
Beteiligten (betroffene Frauen, beteiligte Fachkräfte und
betroffene Kinder) verstanden werden und die emotionale Belastung
in die professionelle Haltung als dazugehörig erlebt wird. Selbst
ein in der Fachöffentlichkeit eher unterrepräsentiertes Thema der
Elternschaft bei Eltern, die von geistiger Behinderung betroffen
sind, wird nicht ausgespart. Es wird weniger psychoanalytisch (was
dem Thema jedoch nicht schadet) und mehr aus rechtlicher,
psychosozialer und empirischer validierter Perspektive eine Lanze
gebrochen für eine Elternschaft von Eltern mit geistiger
Behinderung.
Fazit
Es ist kein leichtes Unterfangen, ein derart komplexes
Themenspektrum, das zudem strukturell und institutionell
verschiedenartig ausdifferenziert ist, zu bearbeiten. Das Werk
erfüllt die Erwartungen, die es an sich gestellt hat, denn es
schließt die Lücke in der Psychoanalytischen Pädagogik zu den
Themen »Kindeswohl« und »Kindeswohlgefährdung« tatsächlich
umfassend. Es besticht durch die gute theoretische Fundierung und
den daraus initiierten und abgeleiteten Verstehensprozess.
Kindeswohlgefährdung und Kindeswohl werden aus psychoanalytischer
Sicht verständlich ausgeführt. Dabei werden verschiedene
Blickwinkel beleuchtet und Kontroversen zwischen der normativen und
psychoanalytischen Perspektive verdeutlicht. Einsteiger oder
unerfahrene Fachkräfte ohne einen gewissen Grundstock an
psychoanalytischem Verständnis werden sich mit diesem Werk zu
Beginn überfordert fühlen.
Da die Beiträge in sich abgeschlossen sind, ist es ohne weiteres
möglich sich die psychoanalytisch-pädagogische Perspektive und die
an vielen Stellen angeführten psychoanalytischen Konzepte und
Sichtweisen zu erschließen.
Besonders empfehlenswert ist dieses Werk für alle Fachkräfte aus
der öffentlichen und freien Jugendhilfe, die dem Schutzkonzept des
§8a SGB VIII verpflichtet sind. Das Werk trägt dazu bei
Fallkonstellationen zu verstehen und hilft dem Praktiker sein
Erklärungs- und Handlungswissen zu erweitern.
Zitiervorschlag
Gerhard Klug. Rezension vom 30.07.2015 zu: Urte Finger-Trescher,
Annelinde Eggert-Schmid Noerr, Bernd Ahrbeck, Antonia Funder
(Hrsg.): Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung. Psychosozial-Verlag
(Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2238-7. Jahrbuch für
Psychoanalytische Pädagogik 22. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/18424.php, Datum des
Zugriffs 13.01.2017.
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