Rezension zu Verbrecher, Bürger und das Unbewusste

psychosozial 38. Jg. (2015), Heft III (Nr. 141)

Rezension von Frank Winter

Mit Verbrechen, dem Bösen verhält es sich ähnlich wie mit dem Fremden: Es geht ein Reiz von ihm aus, der locken kann oder ängstigen – meist beides zugleich (Winter, 2013). Ohne das Fremde gäbe es das Eigene nicht, ohne das Böse nicht das Gute. Und jeweils umgekehrt. Aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln lässt sich das Böse betrachten – individuell wie wissenschaftlich. Historische, juristische, sozialwissenschaftliche und psychologische Erforschungen des Bösen, die sich wiederum in zahllose weitere Blickwinkelunterschiede unterteilen ließen, werden allerdings nur selten zusammen gedacht.

Verbrechen sind bzw. Kriminalität ist, was das Strafrecht so definiert. Die Definitionen sind historisch und gesellschaftlich bedingt und permanenten Veränderungen unterworfen. Das Delikt »Holzdiebstahl« (Blasius, 1978, S. 19ff.) ist aus dem Strafrecht verschwunden, ebenso der »Ehebetrug« (§170 StGB, 1973) und – erst vor 20 Jahren – die »Widernatürliche Unzucht« (§175 StGB). Andere Strafnormen wie »Bildung einer terroristischen Vereinigung« (§129a, 1976) oder »Beharrliche Nachstellung« (§238 StGB, 2007) wurden neu definiert. Strafrecht stigmatisiert und grenzt aus. Zugleich ist Delinquenz ubiquitär: Allein die konsequente Dunkelfeldaufhellung der Delikte »Steuerhinterziehung«, »Erschleichung von Leistungen« und »Beauftragung zur oder Durchführung von Schwarzarbeit bzw. illegaler Beschäftigung« (SchwarzArbG) würden mindestens die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands zu Straftätern machen. Doch es gibt Unterschiede: Frauen haben noch immer Sonderrechte und empirisch nachweisbar auf allen Stufen der Strafverfolgung eine Art Freibrief, der dazu führt, dass sie bei gleichen Delikten wenn überhaupt, dann viel milder bestraft werden als Männer. Frauen werden insgesamt fast nie inhaftiert (Geisler & Marißen, 1988; Statistisches Bundesamt, 2013). Sind sie die Besseren? Und wer sind die Guten? Oder wie viel Böses brauchen die Guten? Und wie wird das Böse zum Bösen gemacht und bei einzelnen oder Gruppen verortet? Warum ist die Anwendung des Strafrechts allenfalls ungleich und ungerecht?

Peter Möhring ist Facharzt, Psychoanalytiker, Lehrender an der Uniklinik Gießen und nun auch Kriminologe. Er bemüht sich in seiner in der Buchreihe »Bibliothek der Psychoanalyse« des Psychosozial-Verlags erschienenen Monografie um eine differenzierte Sichtweise auf die Genese von Delinquenz, Dissozialität und Verbrechen, aber auch um einen reflektierten gesellschaftlichen Umgang mit geschehenen Taten und den davon betroffenen Geschädigten und Tätern. In der Tradition Arno Placks (1967) sieht er Verbrechen als psychologisch zu deutende bzw. zu verstehende Taten, die in soziale Kontexte eingebettet sind. Möhring sucht theoretische Zugänge zum Verständnis der komplexen gesellschaftlichen Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen, den Taten und der sozialen Gemeinschaft mit ihren vielfältigen, nicht nur bewussten und vor allem nicht nur medialen Wechselwirkungen.

Anders als Michael Günter, der in seinem Band »Gewalt entsteht im Kopf« (2011) bekannte Filmprotagonisten und Kino-Artefakte zum Verständnis der Entstehung von Destruktion und Gewalt heranzieht, berichtet Möhring in vier »kriminellen Geschichten« (S. 125ff.), wie aus sozialen Abweichungen, die in jedem Menschen virulent sind, Lebensläufe Dissozialer und die Begehung von Verbrechen entstehen können: »Der Übertüchtige« (S. 125ff.) überfiel eine Tankstelle, »Der Gestrandete« (S. 136ff.), ein Flüchtling afrikanischer Herkunft, fälscht schließlich seinen Pass, »Herr T.« befindet sich »Im Abwärtsgang« (S. 131ff.) und begeht schon als junger Mensch zahllose Straftaten, während »Herr A.« aufgrund einer körperlichen Anomalie und »verschiedener unglücklicher Umstände « (S. 142) zunehmend Verbrechen wie Raubüberfälle begeht und schließlich in einem Handgemenge einen Mann niedersticht (S. 145).

Möhring begreift Lebensläufe als Prozessgeschehen und stellt in den 14 Kapiteln seines Buches dar, wie das »Ineinandergreifen der jeweiligen psychischen, familiären und sozialen Faktoren« (S. 147) dafür entscheidend sein kann, ob man dem »Bösen« nicht nur »im Unterhaltungsfernsehen […] huldig[t]« (S. 11), ob man sich an »schrecklichen Taten erregen« (ebd.) kann, solange sie weit genug entfernt scheinen und anderen widerfahren oder im Kino oder Krimi geschehen, oder ob man in einer Lebens- bzw. Tatsituation eine Tat begeht. Für die »Bürger« liegt das Böse im Außen und wir alle sind wenig zugänglich für »dasjenige [Böse] in uns selbst« (S. 12).

Zum Verständnis der Entstehung von Kriminalität und Verbrechen nutzt Möhring die Kriminologie (S. 23ff.), für das Verstehen einzelner Taten die »psychoanalytische Perspektive « (S. 115ff.), wobei er bereits bei »Freud und seinen frühen Schülern« (S. 25ff.) Verknüpfungen zwischen beiden Wissenschaften aufzeigt. Neuere psychoanalytische Konzepte wie Bindungstheorie (S. 48ff.) und Mentalisierung (S. 38, 185) werden ebenfalls zur »Zusammenschau « (S. 17ff.) von Kriminologie und Psychoanalyse herangezogen.

Der emeritierte Strafrechtlehrer und Psychoanalytiker Lorenz Böllinger hat ein sehr persönliches und wohlmeinendes Vorwort (S. 7f.) zu dem Band verfasst, das mit einem »Ausblick « (S. 199ff.) und einer umfangreichen Literaturübersicht (S. 203ff.) endet.

Möhring will herrschende Spaltungen in »gut« und »böse« auflösen und fordert zu Recht zusätzliche zivilisatorische wie individuelle Integrationsanstrengungen, um das Destruktive und seine Nachwirkungen sozial und integrativ zu bewältigen und nicht durch neue Übelzufügungen immer wieder zu perpetuieren. Seine sozialwissenschaftlichen, kriminologischen und psychoanalytischen Überlegungen hat er in dem gut lesbaren und auch für Laien recht verständlichen Band in kleinen Kapiteln kurz, aber versiert dargestellt und die unterschiedlichen Theorieansätze durch ethnopsychoanalytische Erläuterungen im siebten Kapitel (S. 73ff.) verknüpft. Er beschreibt in seinen Fallbeispielen sehr unterschiedliche Tatentstehungen und geht bei verschiedenen Gelegenheiten wieder auf die vorgestellten Fälle ein. Sein 12. Kapitel widmet sich der Frage, was nützt (»Cui bono?«, 173ff.), im 13. sucht er die »praxistaugliche Kriminalitätstheorie« (S. 181ff.) und ein anderes Verständnis des Strafens (S. 186) und entwickelt daraus Forderungen für den das Buch abschließenden »Ausblick« (S. 199ff.).

Möhrings Schluss, Verbrechen als »Prozessgeschehen […] mittels Individualpsychologie, Objektbeziehungen sowie familiärer Dynamik sowie der sozialen und kulturellen Einbettung [zu verstehen und einem] unbewussten Raum, aus dem Motive für Emotion, Handlung und Hemmung wirksam werden« (S. 182), und seine Forderung, individuelle wie »institutionelle Abwehr[prozesse]« (S. 183) nicht zu verleugnen, könnte einen zivilisierteren Umgang mit Verbrechenstaten, Tätern und den von ihnen Geschädigten unterstützen. Ohne das Böse geht es nicht: unsere Gesellschaft braucht nicht nur Kriminalitäts-»Opfer«, um die ihr selbst innewohnende Gewalt zu kanalisieren und von sich abzulenken (Girard, 1994).

Ein feines Buch mit großem Anspruch zur »Quadratur des Kreises« (S. 7, Böllinger). So verwundert es den Rezensenten, dass nicht nur im Titel des Bandes explizit vom »Verbrecher«, anderswo sogar von »Verbrechern« (S. 9) die Rede ist und nicht von »Verbrechen«: also von in ihrem jeweiligen Kontext entstandenen und vielleicht daraus auch verstehbaren Taten von Menschen. Es widerfährt hier und in einzelnen sprachlichen Ausgrenzungen (»parasitär«, »kriminalitätspornografisch«, »Dementalisierung «) Möhring selbst, was er eigentlich bei den im Titel so bezeichneten »Bürgern« zu vermeiden wünscht und in der Einleitung thematisiert (S. 15): er stigmatisiert Täter über ihre Taten zum Verbrecher und fällt in geläufige Attribuierungen. Er spaltet in gute Zivilisierte und stumpfe Bürger. So sind wie wir alle, die Bürger sind, auch Möhring und Böllinger Teil der sie umschließenden Gesellschaft und unterliegen den unbewussten Prozessen zwischen Gesellschaft und Individuum. Insofern bestätigt die Rede von den »Verbrechern« zumindest die Gültigkeit der Theorie der Ethnopsychoanalyse als Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichem und individuellem Unbewusstem bei der Konstruktion von »Realitäten« und Büchern.

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