Rezension zu Gefängnisaufzeichnungen
Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik Nr. 75, Heft 2/2015, 32. Jg.
Rezension von Andreas Peglau
Die Psychoanalyse wurde keinesfalls in dem Maße vom NS-Staat
verfolgt, wie oft behauptet. Stattdessen muss von einer
hochgradigen Integration analytischer Erkenntnisse und Therapeuten
in das NS-Gesundheitssystem gesprochen werden. Umso wichtiger sind
jene Wenigen, die aktiv Widerstand leisteten. Dass Edith Jacobson
(1897-1978) – Jüdin, »linke« Analytikerin, später in den USA
wichtige Theoretikerin und Therapeutin – eine von ihnen war, ist
bekannt. Bereits 2005 informierte das von Ulrike May und Elke
Mühlleitner herausgegebene Buch über Jacobson auch zu Hintergründen
und Ablauf ihrer Haft, bot Auszüge von dem, was sie dort zu Papier
brachte. Wenn Judith Kessler, Mitherausgeberin der nun erschienenen
Gefängnisaufzeichnungen, allerdings meint, das von ihr und Roland
Kaufhold publizierte Material füge »wahrscheinlich nicht viel
Wesentliches« für die Wissenschaft hinzu, erscheint mir das zu
bescheiden. Zum einen, weil die hier erstmals veröffentlichten
Jacobson-Texte auf immerhin 65 Buchseiten plus 87 Seiten Faksimiles
weitere Einblicke und Einfühlungsmöglichkeiten bieten. Zum anderen
wegen der beiden Einführungen.
Zunächst berichtet Kessler, warum ihr erst sehr spät der Wert jenes
»schwarzen Heftes« – mit eben diesen Aufzeichnungen – aufging, das
ihr bereits 1988 vererbt worden war. Dabei verbindet sie gekonnt
persönliche Reflektionen mit Faktendarstellung. Respektvoll und
sensibel setzt sie sich dann mit Facetten der Mitteilungen
Jacobsons auseinander. Dem folgt eine knappe aber umfassende
biografische Skizze Roland Kaufholds, die zugleich den Rahmen von
Jacobsons antifaschistischem Engagement absteckt: der
Anpassungskurs von DPG, IPV, Sigmund und Anna Freud gegenüber dem
NS-System, der auch beinhaltete, »linke« und widerständische
Aktivitäten in den eigenen Reihen zu unterdrücken und verächtlich
zu machen. Solidarität erfuhr Jacobson nach ihrer Inhaftierung
daher in erster Linie von Einzelpersonen wie Otto Fenichel – der
ihr 1938 maßgeblich zur Flucht in die USA verhalf – Nic Hoel und
Wilhelm Reich. Auch Hoel, Reich, Edith Buxbaum, Karl Friedjung,
Marie Langer, Käthe Draeger und andere NS-Gegner werden von
Kaufhold als Antipoden einer sich seit 1933 immer »unpolitischer«
gebärdenden Psychoanalyse gewürdigt.
Auf diese Weise ist man dann gut auf den Hauptteil vorbereitet, auf
den schon der Buchumschlag eingestimmt hat mit drei
»erkennungsdienstlichen« Porträtfotos von Jacobson, aufgenommen
nach ihrer Inhaftierung im Oktober 1935 durch die Gestapo. Gefühle
sind kaum zu entdecken auf diesem Gesicht, vielleicht leise
Resignation, Müdigkeit, ein Anflug von Trotz. Auf »gedrosselte«
Emotionen stößt man dann beim Lesen mehrfach. Anders war die meist
in Isolationshaft verbrachte Zeit mit der Aussicht auf lange Haft-
oder gar Todesstrafe wohl nicht zu überstehen.
So ordnet Jacobson – und das ist offenkundig nicht zynisch gemeint
– in den kurzen »Haftnotizen« die barsche Reaktion der Wärterin auf
ihre Verzweiflung als »ausgezeichnete Therapie« gegen aufkeimende
»Hysterie« ein, diagnostiziert mit vermeintlich professionellem
Abstand: »Aus dem narzißtischen Trauma« sei bald ein narzisstisches
»Erhöhungserlebnis« geworden, Sublimierung wechsle sich ab mit
Angst, Schock und Depression. Oder sie verfasst, die Ich-Form
vermeidend, »Einige Betrachtungen über physische u. psychische
Hafteinwirkung«, hält hier u.a. fest: »chron. ängstl. Erwartung!
[…] auf kleine Reize hin sehr schwere oder kaum zu hemmende
Reaktionen. […]. Pubertistische Zustände, anscheinend durch schwere
Libidostauung verursacht.«
Die Parallelen zu Ernst Federn, der seine KZ-Haft auch dadurch
überlebte, dass er seine Erlebnisse psychoanalytisch durchdrang,
sind nicht zu übersehen. Allerdings half sich Federn zusätzlich
durch die Annahme, der Todestrieb mache verständlich, was im KZ
Buchenwald geschah. Jacobson war in der Lage, auf diese
Rationalisierung zu verzichten. So notiert sie zwar in Versform
»Ach, des Menschen schlimmster Gegner ist der Mensch«, setzt aber
fort: »Doch der Mensch ist nimmer böse, Torheit kettet ihm die
Hand«.
Spürbar wird ihr ungebrochen positives Menschenbild ebenfalls in
dem neunseitigen Text »Zur Technik der Analyse Paranoider«.
Eingangs beruft sie sich hier auf Wilhelm Reichs, auf Ablehnung des
Todestriebmythos basierende Vorstellung zum therapeutischen Umgang
mit Aggression. Anders als zeitgleich Anna Freud und Melanie Klein
hat Jacobson es auch nicht nötig, angeborene Destruktivität in die
Kinder hinein zu phantasieren. Deren »paranoides Misstrauen« sei
»ziemlich berechtigt«, meint sie, aufgrund der meist negativen
Erfahrungen mit Erwachsenen hätten kindliche Patienten »gewiß
keinen Grund, Gutes vom Analytiker zu erwarten«. Wenn ein Kind sich
jedoch »verstanden und in seinem anlehnungsbedürftigen Ich gestützt
fühlt, wird es rasch fähig, auch seine neurotischen Charakterzüge
und verbotenen Strebungen zuzugeben. Gelingt es, quälende Symptome,
Ängste, Zwänge u. dgl. aufzufinden, dem Kind als heilbare
Krankheitszeichen zu erklären und wirksam anzugreifen, so ist das
Kind bald gewonnen.«
Bekannt ist, dass Jacobson sogar einen kompletten, 1937 in der
Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse veröffentlichten
Artikel aus dem Gefängnis schmuggeln konnte: »Wege der weiblichen
Über-Ich-Bildung«. Die Skizze über die Behandlung Paranoider belegt
erneut: Zeitweise gelang ihr, sich soweit von ihren widrigen
Lebensumständen abzuschotten, dass sie wissenschaftliche Arbeit
leisten konnte. Judith Kessler kommentiert diese Details der
Aufzeichnungen und ergänzt weitere: »Ich erfahre, […] dass sie
Zugriff auf Fachbücher hat (…), dass sie sich zu Körperübungen
zwingt und [insbesondere durch die Faksimiles – A.P.] wie sie ihre
Verse schreibt, formt, umschreibt und vor allem, dass sie es
schafft, ihren ‚Bauch‘ auszuschalten, ihre Situation genau zu
analysieren und Überlebensstrategien zu entwickeln. […] Dass
Schreiben eine rettende Kulturtechnik sein kann, ist gewiss nicht
neu. Dennoch berührt es mich, Wort für Wort zu entziffern, wie EJ
[Jacobson] in ihren Notizen und Versen immer wieder quasi das
eigene Ich des gestrigen Tage liest, mit ihm ›spricht‹ und sich
selbst und ihre Position dabei auch neu bestimmt.«
Ihre Gedichte, die den größten Teil der Aufzeichnungen ausmachen,
lesen sich daher oftmals wie ein gereimtes Hafttagebuch: »Wie
ausgelöscht versackt das innere Leben,/ und todesmatt legt man sich
elend nieder,/ um andern Tags sich elend zu erheben.«
Doch der Verzweiflung setzt sie immer wieder Selbstbesinnung und
-ermutigung entgegen. Judith Kessler hebt ein Gedicht Jacobsons
besonders hervor, dessen drei Strophen so beginnen: »Ich bin ein
Jude, – seht Ihr meine Züge?/ […] Ich bin ein Deutscher, – hört Ihr
meine Sprache?/ […] Ich bin ein Mensch – spürt Ihr denn nicht mein
Fühlen …«. Der Abschluss dieses Gedichtes lautet: »Nicht Hassen
hilft, nicht Schlagen –/ Mit Menschwürde tragen/ und warten, bis
der Mensch zu Liebe gereift/ und furchtlos fremde Menschenhand
ergreift.« Was für eine Quintessenz, verfasst im NS-Gefängnis im
Angesicht des Fallbeils!
Zusätzlich zu den von May/Mühlleitner publizierten Dokumenten, den
Berichten Ernst Federns, den Aufzeichnungen des 1943 hingerichteten
John Rittmeister und dem, was ansonsten über antifaschistisches
Engagement von Analytikern bekannt ist, liefern Kessler und
Kaufhold einen weiteren Mosaikstein für ein längst überfälliges
Forschungsprojekt: Psychoanalyse gegen den Faschismus.