Rezension zu Frauen- und Männerbilder im Kino
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Rezension von Dr. med. Joachim Gneist
Thema und Entstehungshintergrund
»Ins Kino gehen bedeutet zwei Stunden in einen Spiegel zu schauen«
(Andreas Hamburger). Schon seine Einleitung führt auf die
Zielgerade des Themas, das in sechs Einzelbeiträgen abgehandelt
wird: Frauen im Hollywoodfilm sind oftmals Konstrukte männlicher
Blicke. Aber Frauen können die Identifikation mit dem männlichen
Blick durchaus genießen. Inzwischen sind immer mehr Frauen hinter
der Kamera aufgetaucht. Wie differenziert Männer im Kino vom
weiblichen Blick konstruiert werden, arbeitet Hamburger heraus.
Hauptaufgabe der Initiation von Jungen sei die Ablösung von der
Mutter, während Mädchen nicht aus der Nähe der Mutter vertrieben
würden, sie werden selbst Mütter. Jungen und Mädchen sind in der
Adoleszenz damit beschäftigt, die gegenseitige Sexualangst und Neid
zwischen den Geschlechtern zu bewältigen. Das Männlichkeitsbild,
das »La Belle et la Bête« zu dekonstruieren unternimmt, hat nicht
nur Märchencharakter, es wächst durchaus organisch. Wie Männer
Frauen und Männer, so können auch Frauen Männer und Frauen lustvoll
betrachten.
Der vorliegende Band ist der Ausbalancierung dieses Gendernetzwerks
gewidmet. Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, die ihre
Erfahrungen mit »La Belle et la Bête« reflektieren, sind alle sechs
in Klinik und Praxis tätig und leiten ihre Ansichten nicht nur von
eigener Zuschauererfahrung her.
Aufbau und Inhalt
Ein grundlegendes Kapitel widmet Wolfgang Mertens der Methode der
Filmanalyse, die er maßgeblich mitbegründet hat. Anhand 3er
eindrücklicher Filme aus den 90er Jahren erklärt er das: »Der
englische Patient«, »Das Schweigen der Lämmer«, »Das Piano«. Es
geht nicht um intellektuell analysieren, sondern die während des
Filmschauens erfahrenen Eindrücke durch das eigene Selbsterleben in
nicht gekannter Tiefe anreichern, vor allem wenn dies in einer
Gruppe geschieht. Mertens vergleicht das mit der Katharsis der
griechischen Tragödie und hebt die Ähnlichkeit von Traum und Film
hervor. Sein Fazit: man kommt im Verständnis von sich selbst und
anderen nur so weit, wie man sich dem eigenen Unbewussten gegenüber
öffnet. Dies gilt auch für den Kinobesuch.
Auf 50 Seiten führt dann wieder Hamburger den Leser ebenso
gründlich wie anschaulich in die Motivgeschichte von Cocteaus »La
Belle et la Bête« ein. Dabei geht auch er von der unbewussten
Reaktion des Zuschauers aus. Sie wird vom Kunstwerk hervorgerufen.
Wir Zuschauer sind quasi die Patienten. Filmsprache wird aber nicht
schon individuell, sondern erst im kulturellen Kontext
verständlich. Dazu gehört nach Hamburger auch die Lebensgeschichte
Cocteaus, die in politischer und privater Hinsicht in seinen Film
hineinspiele. »La Belle et la Bête« wurde vor 70 Jahren gedreht, im
Jahr eins nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust. Auf eine Schultafel
schreibt Cocteau die Namen der Schauspieler und löscht sie wieder.
Schließlich schreibt er an die Zuschauer, er bitte um kindliche
Einfalt, um uns zu beglücken, nennt drei Zauberworte: »es war
einmal«. Hamburger lädt LeserInnen ein, weit zurückzuschauen vom
antiken Märchenstoff des Tierbräutigams über Amor und Psyche bis
zum barocken Kunstmärchen von Leprince. Wie im Film geht es da um
die sich schmerzlich vom Vater befreiende Tochter Belle. Sie ist
es, die im Unterschied zu ihren egoistischen Schwestern den Vater
aus den Fängen des Ungeheuers befreit. Sie muss erst vor Schreck
ohnmächtig werden (im Orgasmus?), bevor sie den verwunschenen
Prinzen erlöst. Die ironische Pointe bei Cocteau ist nun, dass der
Erlöste sie weit weniger fasziniert als die Bestie, umso mehr er
jetzt ihrem früheren Liebhaber gleicht. Hamburger verschränkt seine
Filmdeutung mit vielschichtigen Interpretationen der Mann- und
Frauwerdung. Die Wirkungsgeschichte von Cocteaus Meisterwerk bringt
eine Fülle von Filmen mit sich, in denen harte oder egoistische
Männer durch die Liebe einer Frau erlöst werden, wie z.B. in
»Pretty Woman«.
Andrea Sabbadini setzt sich in seinem Beitrag mit der angeblichen
Fixierung des Kinos auf weibliche Schönheit auseinander, stellt dem
Cocteaus Männerdarstellung der Beaux und des Tieres gegenüber und
das auf dem biografischen Hintergrund des »schwulen Duos
Cocteau-Marais«. Sabbadini konzentriert sich schließlich auf die
»Brückenfunktion« der Rose im Film, ein Geschenk des Vaters für
Belle. Am Vater hänge das Mädchen in ödipaler Liebe, bevor sie auf
»das ödipale Biest Sexualität« trifft.
Das Schöne an dem kleinen Sammelband ist, dass er ganz
unterschiedliche Ansätze vereint, zu denen auch Christine
Kirchhoffs harsche Kritik an Aufbau und Schluss des Films passt.
Alles drehe sich um Sexualität, Aggression und Scham. Diese aber
werden als zu gefährlich umgangen. Statt einer integrativen Lösung
löse sich das Paar samt der Problematik in Rauch auf. Und wenn das
Ungeheuer erst zum kitschigen Märchenprinzen geworden sei, könne
Belle Zärtlichkeit und Sinnlichkeit nicht vereinen.
Marianne Leuzinger-Bohleber untertitelt ihren Beitrag in ganz
andere Richtung: »Ein surrealistischer Überlebensversuch im Jahr
1946?« Einerseits scheint ihr Cocteau in seiner Poesie von der
Realität des Holocaust und der Verwüstung Europas weit weg zu
führen, wie sie Fassbinder in seinen Filmen konfrontiere.
Andererseits erblickt sie in dem Märchen einen künstlerischen
Therapieversuch gegen die nach dem Krieg »allgegenwärtige
Suicidalität«. In einer zerstörerischen und sich selbst
zerstörenden Welt wecke der Film eine Sehnsucht, Leidenschaft und
Zärtlichkeit zu integrieren und nicht länger passiv Erlittenes
anderen aktiv zuzufügen.
Der Fokus von Andreas Rost zielt auf Belles Begreifen, dass hinter
der tierischen Gestalt eine menschliche, gute Seele wohne, und die
kann durch die Liebe der Schönen aus ihrem Gefängnis befreit
werden. Die keusche Sinnlichkeit, die Cocteaus Belle auf die
Leinwand bringe, sei aufgrund ihrer übersinnlichen Verbindung im
Himmel gut aufgehoben, schreibt er in Anspielung auf das Filmende.
Die in Remakes forcierte Tendenz sexueller Verfänglichkeit
angesichts der Bestie entzaubert das.
Diskussion und Fazit
Die sechs Autorinnen und Autoren liefern eine ungeheure Spannweite
von Interpretationen und beeindrucken durch höchst unterschiedliche
methodische Betrachtungsweisen. Da begegnen uns Literatur- und
Kulturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Filmwissenschaftler,
alle lehren und praktizieren psychoanalytisch.
So fasziniert beim Lesen das übergreifende Bemühen, unauflösbare
innere Widersprüche im Entwicklungsprozess jedes einzelnen und den
Schock der Weltkriegs- Holocaust- und Hiroshima-Katastrophe
aufeinander zu beziehen.
Genau das gelingt in dem Buch verstörend. Märchen, verfilmt wie
dieses, schaffen anders als Biografien oder Analysen Zugänge wahrer
Selbsterkenntnis und glaubhafter Beziehungsfähigkeit. Viele
Leserinnen und Leser wird überraschen, wie viel ernst zu nehmende
Filme von Macht, Ohnmacht, Gier, Resignation, aber auch von
Ganzwerdung und einander Annehmen handeln. Die Lektüre kann
passionierten Kinogängern einen Spiegel ihrer Ängste und Wünsche
hinhalten. Ebenso können beruflich mit dem Thema Mann-Frau Befasste
für ihr Reflektieren und Handeln profitieren.
Zitiervorschlag
Joachim Gneist. Rezension vom 21.09.2015 zu: Andreas Hamburger,
Christine Kirchhoff, Marianne Leuzinger-Bohleber, Wolfgang M.
Mertens, Andreas Rost u.a. u.a. (Hrsg.): Frauen- und Männerbilder
im Kino. Genderkonstruktionen in La Belle et la Bête von Jean
Cocteau. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2446-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/19225.php, Datum des Zugriffs
13.12.2016.
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