Rezension zu Internationale Psychoanalyse Band 9: Moderne Pathologien
Analytische Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie Nr. 167, 3/2015
Rezension von Annegret Wittenberger
Auch dieser aktuell vorliegende Auswahlband ist wieder eine große
Bereicherung für die Psychoanalyse in Deutschland. Dies empfinde
ich als umso wertvoller, wenn man die schmerzliche Tatsache
bedenkt, auf die M. Teising in seinem Vorwort noch einmal hinweist,
dass die Vorläufer des »International Journal of Psychoanalysis«,
die »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse« und »Imago« ein
Opfer des deutschen Faschismus geworden sind, worauf ihre Tradition
im englischen Sprachraum fortgeführt wurde und nun seit einigen
Jahren eine Auswahl der Beiträge in den Übersetzungen der Bände
»Internationale Psychoanalyse« den deutschsprachigen Lesern wieder
zugänglich gemacht wird.
Aus der Fülle der Aufsätze möchte ich die herausgreifen, die mir
für unsere analytische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen am
fruchtbarsten erscheinen, obwohl ich damit dem Gedankenreichtum des
Buches nicht gerecht werde, zumal die großen (alle erst kürzlich
verstorbenen) Psychoanalytikerpersönlichkeiten J. Laplanche, A.
Green, B. Joseph und J. McDougall mit ihren innovativen Ideen
hierbei von mir nicht berücksichtigt werden.
Besonders angesprochen hat mich, dass die von Gianna Williams
geschaffene Erweiterung des Bion’schen Containment-Konzepts hier
gleich in zwei Beiträgen in ihrer Fruchtbarkeit für die
analytische Situation dargestellt wird. Williams stellt einem
gelingenden Containment, das zum Aufbau der Persönlichkeit
beiträgt, ein Versagen der mütterlichen Aufnahme- und
Umwandlungsfähigkeit gegenüber, was das Kind veranlasst, seine
eigenen Ängste unmodifiziert zu reintrojizieren. Darüber hinaus
kann die Mutter eigene beunruhigende Gefühle in das Kind
projizieren, was zur Verweigerung des Essens als fehlgeleitete
Abwehr gegen das Aufnehmen dieser Gefühle führen kann, von
Williams mit dem Ausdruck »Kein Zutritt« bezeichnet.
J. M. Stern schildert, wie anorektische Patientinnen, die Nahrung
und sexuelles Begehren als intrusiv-verletzend erleben, andere
(Ärzte, Psychotherapeuten) verführen, ihnen gegenüber
intrusiv-verletzend zu agieren, bis hin zu medizinisch unnötigen
chirurgischen Eingriffen. Er führt dieses Enactment auf ein
intrusives inneres Objekt der Patientinnen zurück, das als
gefährlich zerstörerisch erlebt und operativ entfernt werden soll.
Durch die frühkindliche Erfahrung, von eindringenden elterlichen
Projektionen verstört zu werden, entstehe im Erleben des Kindes
eine Objektbeziehung, die bestimmt sei, sowohl von einer
Abwehrreaktion (»Kein Zutritt«) als auch von einem Bedürfnis, die
mütterliche Abschottung zu durchbrechen (Intrusion). Dieses
Bedürfnis nach Intrusion werde projiziert und verführe
unreflektiert andere zu intrusiven Reaktionen. Anschaulich
schildert Stern in einem Fallbeispiel, wie er das durch Einladung
zur Intrusion entstehende Gegenübertragungsdilemma reflektiert. Er
plädiert dafür, in einen Dialog mit Ärzten einzutreten, um sie
für die besonderen Gefahren zu sensibilisieren, die durch dieses
unbewusste Zusammenspiel entstehen, womit er einen wichtigen
Gedanken Balints fortführt, ohne diesen zu nennen.
W. Skogstad verdeutlicht die innere Dynamik, wie ein
undurchlässiges mit einem intrusiven inneren Objekt zusammenhängt
und wie sich diese Konstellation in Übertragung und
Gegenübertragung manifestiert, was zu einem Enactment führt, das
einer intensiven Reflexion bedarf, damit der Analytiker
herausfindet, wann er auf subtile Weise als abschottendes oder
eindringendes Objekt agiert, was ihm nur gelingt, wenn er offen
genug ist, seinen eigenen Anteil am Übertragungs-
Gegenübertragungs-Agieren zu erkennen. Skogstad zeigt, was
Containen in der analytischen Beziehung heißt: die Projektionen des
Patienten wirklich aufzunehmen, ohne das Bedürfnis, den Patienten
zu überzeugen, dass man nicht so sei. Die Patientin in seiner sehr
differenziert dargestellten Analyse (und gilt das nicht für alle
unsere Patienten?) brauchte es, dass er sie nicht nur intellektuell
verstand, sondern dass er tatsächlich verstört war; nur dann hatte
sie das Gefühl, ihn wirklich erreicht zu haben. Dieser Beitrag ist
eine ausgezeichnete Darstellung eines analytischen Prozesses: So
funktioniert Psychoanalyse!
V. Bonaminios Arbeit über Winnicott schildert, wie dessen
klinische Arbeit mit Erwachsenen als Objektiv zu sehen ist, durch
das er die frühe Entwicklung des Selbst und seiner Verwerfungen
erkennen und verstehen konnte, und nicht umgekehrt. Er fasst
Winnicotts umwälzende Erkenntnis über die psychoanalytische Arbeit
zusammen. Revolutionär ist die Verlagerung der Sicht von der
Technik auf den persönlichen Anteil des Analytikers, den er als
grundlegend für den psychoanalytischen Prozess ansieht. Der reale
Analytiker ist ein wirkliches Objekt, das die Angriffe des
Patienten überlebt, nicht nur ein Behälter für diese Angriffe via
projektiver Identifikation. Bions Containment eines denkenden
Analytikers stellt Winnicotts Haltung einen atmenden Analytiker
gegenüber, dessen Haltung auch eine affektive und körperliche
Dimension umfasst. Präsenz und lebendiger Kontakt des Analytikers
halten den Patienten und ermöglichen ihm so, aus einem Rückzug,
der von pathologischer Pseudounabhängigkeit geprägt ist, in eine
Regression einzutreten, die Abhängigkeit und damit Veränderung
ermöglicht. So zeigt Bonaminio, wie stark unsere heutige Sicht auf
die analytische Beziehung gerade auch von Winnicott geprägt ist,
was wiederum Skogstads Beitrag anschaulich belegt (allerdings ohne
dass dieser Bezug zu Winnicott aufnimmt).
A. Lemmas Beitrag über die psychotherapeutische Begleitung eines
Patienten (von ihr als Frau bezeichnet), der sich einer operativen
Geschlechtsumwandlung unterzieht, wirft Fragen auf: Obwohl die
Analytikerin das Misslingen des Containments in der frühkindlichen
Entwicklung wahrnimmt, scheint sie sein Leiden in der Therapie auf
die mangelnde Spiegelung seiner Inkongruenz mit dem Körper zu
reduzieren, was m. E. bereits einen (fehlgeschlagenen)
Bewältigungsversuch des frühkindlichen Traumas darstellt. Die
Geschlechtsumwandlung als Agieren einer manischen Abwehr macht
scheinbar unabhängig vom Objekt und nährt die Omnipotenzphantasie.
Damit verhindert sie das Einlassen auf die Abhängigkeit einer
analytischen Beziehung. Mit der Operation wiederholt der Patient
die Destruktion aus der frühen Mutterbeziehung an seinem Körper
und vermeidet so den Schmerz, den das Wiedererleben und
Durcharbeiten in der analytischen Beziehung mit sich bringen
würde. Aber nur dadurch könnte der Patient dem Wiederholungszwang
entkommen, der mit der Operation ja noch nicht zu Ende ist: Jetzt
sieht er in dem Chirurgen den Aggressor, der – wie das primäre
Objekt – seine Arbeit schlecht gemacht habe. Aber vielleicht liegen
in einem solchen Fall ja auch die Grenzen der Analyse.
S. Movahedi und G. Homayounpour sehen den Tschador als komplexes
Phantasieobjekt und stellen die möglichen subjektiven Bedeutungen
für die Trägerin heraus: von einer Repräsentanz des mütterlichen
Körpers, in den das Kind mit sadistischer Lust eindringen möchte
oder in dem es sich wie in einer Gebärmutter geborgen fühlt, über
eine schützende zweite Haut, einem die illusorische Verbindung mit
einer abwesenden Mutter symbolisierenden Übergangsobjekt oder auch
einem der Abwehr dienenden imaginären psychischen Rückzugsort, bis
hin zu einem strafend-repressiven Überich, einem Versteck für
inakzeptable Selbstanteile oder einer Gefängniszelle zur
Verhinderung von Separation und Individuation. In klinischen
Falldarstellungen wird – wie immer in der Psychoanalyse – die
individuelle Bedeutung herausgearbeitet, ohne insgesamt die
soziokulturelle Dimension der Zuschreibungen an die
Tschadorträgerin zu übersehen.
A. Mauss-Hanke zeigt in ihrem Beitrag, wie ihr Kleists literarische
Bearbeitung des Amazonen-Mythos in seiner »Penthesilea« in der
Analyse mit einer in eine dyadische Struktur verstrickten Patientin
als hilfreiches Drittes ermöglichte, ihre analytische Position und
deutende Funktion wiederzugewinnen. Diese anschauliche und
anregende Verknüpfung von Mythos, Literatur, psychoanalytischer
Theorie und Fallbericht ist zugleich eine wunderbar
zusammengefasste Übersicht über die »antiödipale Verfasstheit« bei
Klein und Bion. Es lohnt sich also auch bei diesem Band wieder, wie
schon bei den vorangehenden, ihn aufmerksam zu lesen.