Rezension zu Handbuch Mentalisieren

Analytische Psychologie. Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse Nr. 181, 3/2015

Rezension von Claus Braun

Peter Fonagy und Mary Target sind die Hauptvertreter eines psychoanalytischen Modells, das die Fähigkeit, interpersonales Verhalten unter dem Blickwinkel psychischer Zustände zu begreifen, als ausschlaggebende Determinante der Organisation des Selbst und der Regulierung von Affekten darstellt. Diese Fähigkeit wird im Kontext früher Bindungsbeziehungen erworben und wird als »Mentalisieren« oder »Reflexionsfunktion« bezeichnet. Mentalisieren umfasst eine selbstreflexive und eine interpersonelle Komponente. Beide zusammen vermitteln dem Kind die Fähigkeit, die innere von der äußeren Realität sowie innere psychische und emotionale Vorgänge von interpersonellen zu unterscheiden. Mentalisieren ermöglicht die Anpassung von Affektzuständen und ist so eine wichtige Funktion der Regulierung des Selbst. Nach Fonagy und Target bildet die Mentalisierungsfähigkeit das Herzstück der psychoanalytischen Behandlung über ein erfahrungshaftes Verstehen der eigenen Gefühle. Mentalisieren ist ein entwicklungspsychologisches Konstrukt. Schwierigkeiten von Menschen, die im Kontext von Bindungsbeziehungen spezifische Mentalisierungsdefizite aufweisen, werden heute als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Eine Persönlichkeitsstörung ist durch das Unvermögen charakterisiert, ein Gefühl der Identität des Selbst sowie die Fähigkeit zu entwickeln, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Diese Unfähigkeit findet beispielsweise Ausdruck in der mangelhaft integrierten Repräsentation anderer Menschen. Diese Repräsentation bildet einen zentralen Aspekt des Mentalisierens. Mentalisieren wird als ein fundamentaler psychischer Prozess verstanden, der sämtliche schwere psychische Störungen tangiert (S. 15). Dementsprechend wurde die klinische Anwendung als mentalisierungsbasierte Therapie ursprünglich in einer Tagesklinik entwickelt.

Der vorliegende Band ist ein Sammelband, in dem Beiträge der führenden Vertreter der Mentalisierungstheorie insbesondere zur klinischen Praxis (Teil 1) und zu spezifischen Anwendungen (Teil 2) versammelt sind.

Die Einführung gibt einen Überblick über die Entwicklung der Mentalisierungstheorie in den letzten zwölf Jahren insbesondere auch in ihrer Anwendung auf Borderline-Persönlichkeitsstörungen, deren Desorganisation der Selbststruktur hauptsächlich auf die Unfähigkeit zu mentalisieren zurückgeführt wird. Wenn die Fähigkeit, in sozialen Kontexten zu mentalisieren, beeinträchtigt ist, macht sich eine brüchige Selbstorganisation bemerkbar. Der Begriff »Selbst« beschreibt hier einen inneren Prozess, der mit dem Gewahrsein von Autonomie und dem bewussten Gefühl, das eigene Verhalten zu steuern und ein kohärentes »Selbstnarrativ« zu erzeugen, verbunden ist. In der Entwicklung des Kindes besteht eine enge Verbindung zwischen der sich erweiternden Mentalisierungsfähigkeit und der Qualität der mütterlichen Bindung. Im Weiteren werden dann die Unterschiede zwischen einem automatischen (impliziten) und einem kontrollierten (expliziten) Mentalisieren entwickelt und andere Parameter des Konzepts dargestellt wie: das Mentalisieren des Selbst versus Mentalisieren anderer Menschen, kognitives versus affektives Mentalisieren und die daraus folgenden Behandlungsimplikationen für alle Formen von Psychotherapie.

Im folgenden Kapitel wird näher beschrieben, an welchen klinischen Merkmalen der Grad der Mentalisierungsfähigkeit erkennbar wird. Praktisch sind hier stichwortartige Tabellen zum »guten« und »schlechten« Mentalisieren, eine Skala zur Bewertung der Reflexionsfähigkeit, weitere Tabellen zu »innerlich und äußerlich fokussiertes Mentalisieren«, »Mentalisieren des Selbst und anderer«, »kognitives und affektives Mentalisieren« u. a.

Zunächst hatten die Mentalisierungstheoretiker ein Modell für eine mentalisierungsbasierte Einzeltherapie (MBT) zur Behandlung von Borderline- Persönlichkeitsstörungen entwickelt (Batman/Fonagy: Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ein mentalisierungsgestütztes Behandlungskonzept. Gießen, Psychosozial-Verlag 2008). Im vorliegenden Band wird die Anwendung dieses Modells kritisch diskutiert und auf eine Anwendung auch in Gruppen erweitert. Instruktive Fallvignetten zeigen Anwendungsbeispiele. Besonders sinnvoll erscheint das Konzept in seiner Anwendung als mentalisierungsbasierte Familientherapie und als mentalisierungsbasierte psychoanalytische Kinderpsychotherapie. Anwendungen in der Kurzzeitpsychotherapie scheinen besonders in der Behandlung von Suchtstörungen und in der Behandlung gesundheitsbezogene Probleme zur Verhaltensänderung gegeben zu sein. Kriseninterventionen bei Suizidgefährdung scheinen möglich, soweit die Patienten noch in der Lage sind, zu reflektieren.

Im zweiten Teil folgen ausführliche Kapitel zur Anwendung der Mentalisierungstheorie bei verschiedenen Patientengruppen. Im Einzelnen werden Möglichkeiten der Behandlungspraxis ausgeführt für Borderline-Persönlichkeitsstörungen, antisoziale Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Depressionen, Traumata, Drogensucht, Adoleszenter Zusammenbruch und auftauchende Borderline-Persönlichkeitsstörung, sowie bei Risikomüttern mit Babys und Kleinkindern.

Beurteilung: Die Entwicklungen und Ergebnisse der Mentalisierungstheorie und ihres empirischen Hintergrunds einschließlich wichtiger hirnphysiologischer und neurophysiologische Befunde werden ausführlich und gut lesbar dargestellt. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf den unterschiedlichen klinischen Anwendungen, und hier lassen sich zahlreiche praktische Hinweise finden, deren Evidenz sich aus der zitierten Forschung ergibt. Beispielsweise wird diskutiert (S. 92ff.), ob es sinnvoll sein kann, wenn ein Therapeut seine natürliche Tendenz, auf das psychische Leid des Patienten besonders mitfühlend zu reagieren, zunächst einmal hemmt und sich emotional etwas distanziert, anstatt seinem natürlichen Impuls zu folgen, sich besonders einfühlsam und fürsorglich zu verhalten. Dies kann möglicherweise sinnvoll sein, um die Wucht einer emotionalen Interaktion abzufangen, um nicht auf den Affekt in der Interaktion zu fokussieren, der Bindungsbedürfnisse und »automatisches Mentalisieren« beim Patienten eher verstärkt und »kontrolliertes Mentalisieren« abschwächt. Die MBT erscheint so besonders geeignet zur Behandlung niedrig integrierter oder desintegrierter ich-struktureller Störungen (S. 301). Nach Erreichen eines höheren mentalen Funktionsniveaus wäre dann der Wechsel z. B. in ein psychoanalytisches Setting zu erwägen.

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