Rezension zu Migration im Jugendalter (PDF-E-Book)
HLZ (Hessische Lehrerzeitung der GEW), 69. Jahrgang, Heft 11, November 2016
Rezension von Angela Schmidt-Bernhardt
Migration im Jugendalter
»Meine Eltern haben jetzt ihre Aufgabe bis dahin erfüllt. Für sie
gibt es eine Erlösung, ich gehe nach Europa, damit sie das Alter
auch in Ruhe haben können. Nicht Gedanken machen, was wird er
werden, was wird er studieren, wie wollen wir es machen, wie
nanzieren.«
Linus aus Vietnam, der im Alter von 14 Jahren von seinen Eltern
mithilfe von Schleusern nach Deutschland geschickt wurde
Christine Bär, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Schulpädagogik der Philipps-Universität Marburg, widmet sich in
ihrer Dissertation jungen Menschen, die als Seiteneinsteiger im
Jugendalter in das deutsche Bildungssystem hineinkommen. In einer
qualitativen Studie erforscht sie die psychosozialen Folgen, die
der Seiteneinstieg für diese Kinder beinhaltet. Sie unterscheidet
drei Migrationshintergründe:
• die Parachute Kids, die wie Linus aus Vietnam von ihren Eltern
alleine nach Deutschland geschickt werden,
• die nachgeholten Jugendlichen, die zunächst bei Verwandten der
Eltern im Heimatland aufwachsen, ehe sie von den Eltern, die
bereits in Deutschland leben, nachgeholt werden, und
• die Flüchtlingsjugendlichen, die gemeinsam mit Eltern und
Geschwistern nach Deutschland fliehen
Aus jeder dieser drei Gruppen wählt die Autorin einen jungen
Menschen aus, mit dem sie mehrfach ausführliche Interviews gemacht
hat. Auf der Basis dieser tiefenhermeneutisch ausgewerteten
Gespräche porträtiert sie die drei Jugendlichen und lässt
Leserinnen und Leser in die Welt dieser jungen Menschen eintauchen.
Sie gehören zu den Bildungserfolgreichen: Yasemin, die bei ihren
Großeltern in der Türkei aufwuchs und im Alter von zehn Jahren von
ihrer Mutter in die BRD nachgeholt wurde, Yamila, die mit ihrer
Familie aus dem Irak nach Deutschland flüchtete, und Linus, der
von seinen Eltern von Vietnam nach Deutschland verschickt wurde.
Alle drei meistern die schulischen Anforderungen erfolgreich.
Der theoretische Teil der Studie befasst sich kenntnisreich mit den
soziologisch-politikwissenschaftlichen Migrationstheorien,
insbesondere den jüngeren Forschungen zur Transmigration. Er
beleuchtet aus psychoanalytischer Perspektive Erfahrungen von
Trennung und Verlust und deren Verarbeitung in der Migration sowie
die Möglichkeiten der adoleszenten Migrantinnen und Migranten zur
Entwicklung ihrer Identität. Ein Blick auf schulische
Rahmenbedingungen und Eingliederungsmaßnahmen auch in Hessen rundet
den Theorieteil ab.
Die Porträts machen Trennungserfahrungen und damit verbundene
Verlustgefühle deutlich spürbar. Sie zeigen aber auch, dass hohe
Bildungsaspirationen und Anstrengungen nur möglich sind, wenn
Trauer und Verlust unsichtbar gemacht werden. Für alle drei
Gruppen gilt, dass Trennungs- und Verlusterfahrungen trotz
unterschiedlicher Rahmenbedingungen einen entscheidenden Einfluss
auf die psychosoziale und schulische Entwicklung der Jugendlichen
haben. Sie benötigen deshalb Möglichkeitsräume, um sich auf den
Trauerprozess der Trennung einlassen, ihn durchleben und auch
abschließen zu können. Bei den drei vorgestellten Jugendlichen
fehlte in dem dreijährigen Untersuchungszeitraum diese
Möglichkeit weitgehend.
Christine Bär entwickelt die Hypothese, dass es sich bei den
enormen schulischen Erfolgen der porträtierten Jugendlichen um
Abwehrstrategien für die Trauer um die erlittenen Verluste
handelt. Sie weist auf die Notwendigkeit von Längsschnittstudien
hin, um in der weiteren Entwicklung der Jugendlichen zu sehen, ob
sie eines Tages Raum für die Verarbeitung von Trauer und Verlust
finden können.
Die hohen Erwartungen der Eltern erklären sich aus der unbewussten
Delegation eigener Bildungswünsche an die Kinder. Einerseits
wirken die elterlichen Erwartungen als Antrieb für den schulischen
Erfolg, andererseits wirken sie belastend und lassen den
Jugendlichen keinen Experimentierraum für ihre adoleszente
Entwicklung. Die Bindung der migrierten Jugendlichen an ihre Eltern
ist enorm hoch, auch wenn sie wie Yasemin in ihrer Kindheit keine
enge Beziehung zu den Eltern hatten. Obwohl sie unter dem frühen
Weggang der Mutter gelitten hat und erst im Alter von zehn Jahren
von ihr nach Deutschland nachgeholt wurde, identifiziert sie sich
projektiv mit deren Leid.
Die Einsamkeit der Jugendlichen ist beim Lesen schwer auszuhalten.
Freundschaften können jedoch auf dem Weg in das Erwachsenenleben
helfen: Für Yasemin ist es die stabile konstruktive Freundschaft
zu einem jungen Mädchen mit einem vergleichbaren Schicksal, für
Linus die katholische Hochschulgemeinde, die sich regelmäßig
trifft und gemeinsame Interessen verfolgt. Schmerzhaft sind auch
die Frustrationen, die diese Jugendlichen hinnehmen müssen, wenn
ihre Noten und Leistungspunkte nicht ihren eigenen hochgestellten
Erwartungen entsprechen, ihre subjektiven Anstrengungen und die
enormen Lernfortschritte in kurzer Zeit nicht gewürdigt werden,
weil alle gleichermaßen am monolingualen Habitus der deutschen
Schule gemessen werden.
Für Lehrerinnen und Lehrer ist die vorliegende Studie in hohem
Maße empfehlenswert, da sie exemplarisch einen tiefen Einblick in
die Lebensumstände, die Problemlagen und die Zukunftsvisionen von
im Jugendalter migrierten Jugendlichen ermöglicht.
Angela Schmidt-Bernhardt, Marburg
www.gew-hessen.de