Rezension zu Die enthemmte Mitte (PDF-E-Book)
Gehirn & Geist 01/2017
Rezension von Marie-Theresa Kaufmann
Rechtsruck in Deutschland
Was wir denken und wählen
Seit 14 Jahren erfassen Wissenschaftler der Universität Leipzig
die politischen und rechtsextremen Einstellungen der Deutschen.
Ihre »Mitte-Studien« besitzen momentan eine besonders hohe Brisanz:
Laut Bundeskriminalamt gab es im Jahr 2016 allein bis Mitte Oktober
fast 800 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Rechtsextremismus
setzt sich laut den Forschern aus der Befürwortung einer
rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit,
Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Verharmlosung des
Nationalsozialismus zusammen. Dabei zeichne sich seit einigen
Jahren ein Wandel ab: Während die Ablehnung von Ausländern im
Allgemeinen zurückgeht, nimmt die Diskriminierung speziell von
Muslimen, Asylsuchenden sowie Sinti und Roma zu. Außerdem zeigt
sich bei Rechtsgesinnten eine zunehmende Bereitschaft zur Ausübung
von Gewalt, um eigene Interessen durchzusetzen.
Zunächst beschreibt das Team aus Psychologen und
Sozialwissenschaftlern ihre Erhebung aus dem Jahr 2016, bei der sie
knapp 2500 Menschen in ganz Deutschland mit Hilfe von
standardisierten Fragebögen zu ihren politischen Ansichten befragt
haben. Ergebnisse: Der Nationalsozialismus wird in Westdeutschland
stärker als im Osten verharmlost. Katholiken bejahen mehr
rechtsgesinnte Aussagen als Protestanten, Konfessionslose oder
Anhänger anderer Religionen. Ein Viertel der rechtsextrem
eingestellten Menschen wählt SPD oder CDU/CSU. 70 Prozent der
AfD-Wähler sympathisieren mit der fremdenfeindlichen
Pegida-Bewegung – das sind mehr als bei jeder anderen Partei.
Außerdem sind die Anhänger der AfD heute jünger und schlechter
ausgebildet als noch vor zwei Jahren. Darüber hinaus scheinen sie
besonders homophob, gewaltbereit und islamfeindlich zu sein. Die
Wissenschaftler sehen in Pegida mehr als eine Empörungsbewegung –
nämlich eine Gefahr für die Demokratie.
Im zweiten Teil, »Zum Stand der Zivilgesellschaft«, gehen
verschiedene Autoren wie etwa Alexander Häusler auf die zentralen
politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre ein, zum Beispiel
die Entste- hung der AfD, rechten Terror gegen Flüchtlinge oder
den NSU-Prozess. Außerdem kritisieren sie immer wieder den Staat:
Behördliche Definitionen wie die der Hasskriminalität seien
ungenau und fokussierten sich ausschließlich auf besonders radikale
Gruppierungen. Dadurch würden viele Straftaten erst gar nicht auf
ihren politischen Hintergrund hin untersucht. Zudem müsse die
Polizei offener gegenüber Kritik werden.
Das Buch punktet durch die ausführliche Beschreibung von Methodik
und Ergebnissen der »Mitte-Studie 2016« – obwohl das an manchen
Stellen trocken wirkt und man den Überblick über die zahlreichen
verwendeten Fragebögen verlieren kann. Nichtsdestoweniger ist es
überwiegend verständlich geschrieben.
Warum rechtsextreme Ansichten auf dem Vormarsch sind, können die
Leipziger Forscher nicht kausal beantworten. Sie vermuten, dass
weltweite Krisen, die Umstrukturierung des Sozialsystems, ein nach
wie vor bestehendes Verständnis des deutschen Volks als
Schicksalsgemeinschaft sowie ein ausgeprägter Ethnozentrismus dazu
beigetragen haben. Die veränderten Einstellungen zeigten sich zum
Beispiel in den Reaktionen auf die vielen Flüchtlinge, die seit
2015 nach Deutschland gekommen sind. Diese seien aber nicht der
Auslöser. Die spannende Erhebung ist es wert, ein wenig Statistik
in Kauf zu nehmen. Damit versteht man besser, wohin sich die
Gesellschaft entwickelt hat.
Marie-Theresa Kaufmann studiert Psychologie in Würzburg und Murcia
(Spanien).