Rezension zu Der andere Mann
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Rezension von Joachim Thönnessen
Josef Christian Aigner (Hrsg.): Der andere Mann
Herausgeber
Der Herausgeber Josef Christian Aigner (geb. 1953), Prof. Dr.
phil., Dr. h.c. ist Psychoanalytiker und Psychotherapeut sowie
Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für
psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, der
Universität Innsbruck. Seine Forschungsschwerpunkte sind
Vaterforschung sowie Männer in erzieherischen und sozialen
Berufen.
Aufbau
Der Band enthält zwölf Beiträge, die sich mit dem Thema »Der andere
Mann« beschäftigen. Den (allesamt männlichen) Verfassern geht es,
wie Josef Christian Aigner in seinem Vorwort betont, »um einen
alternativen Blick auf Männer, der sie anders zeigt, als sie in
Medien, Alltagsbewusstsein, Talkshows, Fachliteratur und
gelegentlich auch in der Wissenschaft dargestellt werden« (S.
7).
Aigner hebt hervor, dass Männer meistens eher schlecht wegkommen:
Es gehe häufig »um eine beklagenswerte Negationsspirale an
Eigenschaften und Merkmalen« (S. 8). Er habe sich als Herausgeber
eines Sammelbandes zum Thema »Der andere Mann« vorgenommen,
»positive Merkmale und Leistungen von Männern für die Gesellschaft
und Kultur, viele engagierte, sensible, fürsorgliche und
emanzipierte, frauen- und kinderfreundliche Männer, die mit Gewalt,
Unterdrückung und Ausbeutung nichts zu tun haben und zu tun haben
wollen« (S. 8), vorzustellen.
Inhalte
Der erste Beitrag »Der andere Mann. Vom schwierigen Umgang mit
Unterschieden« stammt vom Herausgeber selbst (S. 11-35).
Ausführlich wird hier der negative Diskurs in Bezug auf
Männer/Männlichkeit dargestellt. Männer werden danach meist nur auf
der Ebene »des Defekten, des Mangelhaften und Problematischen«
(S.19) dargestellt. Kritisiert wird des Weiteren die Tendenz,
Geschlechtsunterschiede für unbedeutend zu erklären (S. 26). Als
Hauptverursacher dieser pauschalen und einseitigen
Betrachtungsweise wird der Sozialkonstruktivismus angeführt (S.
26), welcher die Existenz zweiter in großer Mehrheit körperlich
unterschiedlicher Geschlechter grundlegend negiere (ebd.). Aigner
benennt als Konterpart die
psychoanalytisch-entwicklungstheoretische Sicht, der er unter Bezug
auf den Sexualmediziner Sigusch (2013) und auf L. Böllinger (2015),
eine feste, unabänderliche Kerngeschlechtlichkeit zuspricht (S.
29).
Reinhard Winter geht in seinem Beitrag »Der werdende Mann. Jungen
und ihre Problemlagen heute« (S. 37-58) davon aus, dass es »die«
Jungen nicht gibt, zumindest nicht im wirklichen Leben. Für den
Alltagsgebrauch hingegen genüge ihm eine relativ hohe
Übereinstimmung von körperlichem, psychischem und sozialem
männlichen Geschlecht (im Rahmen der Cisgender-Definition von
Volkmar Sigusch). Winter identifiziert verschiedene
Bewältigungsthemen wie »Körper«, »Männlichkeitsdilemma«,
»Männermangel« (= Fehlen von Männern in kindlichen Lebenswelten),
»Anomisches Verhalten und assertive Aggression«, »Sexualitäten«
u.a.m.
Ivo Knüll überschreibt seinen Artikel mit »Der erzählte Mann.
Narrative, Stereotype, Geschichten und andere Erzählungen der
Männlichkeit« (S. 59-75). Wie der Titel schon sagt, geht es hier um
die (schier unendlichen) Erzählungen des Männlichen. In diesem
biographisch und von der Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater
geprägten Artikel wandern die Ideen des Verfassers zwischen
verschiedenen Schauplätzen hin und her (was nicht negativ gemeint
ist).
Helmut de Waal schreibt zum Thema »Der Vater-Mann. Für eine Kultur
väterlich-männlicher Sorge« (S. 77-94). Auch dieser Artikel ist
deutlich von der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie
geprägt – hier jedoch mit den Rollen, die Väter annehmen
können/müssen: „Vater sein heißt wesentlich: Für jemanden sorgen
und damit auch, sich um jemanden sorgen« (S. 81).
Der Beitrag von Hans-Geert Metzger ist mit »Der strukturierte Mann.
Die Bedeutung von Aggression und Autorität in der Vaterschaft«
überschrieben (S. 95-108). Betont werden – neben aufschlussreichen
Details aus der Biographie von Eric Clapton – Unsicherheiten auf
Seiten der Männer hinsichtlich der Bedeutung und Akzeptanz der
eigenen Aggression (S. 101ff). Diese habe eine weitgehende
gesellschaftliche Umwertung erfahren, sodass sie mittlerweile
überwiegend und schnell negativ bewertet werde (S. 101).
Josef Christian Aigner und Gerald Poscheschnik stellen in ihrem
Aufsatz »Der andere Job. Männer im Kindergarten« (S. 109-126)
Gründe für die Berufswahl von Kindergartenpädagogen und
Männlichkeitskonstruktionen in diesem (für Männer)
außergewöhnlichen Arbeitsplatz zur Diskussion.
Gotthard Bertsch und Martin Christandl schreiben zum Thema »Einfach
Männer. Erfahrungen aus der Männerberatung« (S. 127-137).
Eduard Waidhofers’ Artikel ist überschrieben mit »Männer leiden
anders. Erfahrungen mit Männern in Theorie und Beratung« (S.
139-164). Herausgestellt wird, dass viele Männer im Laufe ihres
Lebens den Zugang zu ihren Gefühlen verloren haben – die
Wahrnehmung von Gefühlen und inneren Impulsen aber eine
Grundvoraussetzung für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ist
(S. 147). Ziel der Therapie sollte demzufolge sein, den Mann »zur
Sprache zu bringen«.
In seinem Beitrag »Die andere Geschlechterpolitik« (S. 165-187)
betrachtet Markus Theunert die Beziehung von Männern zur
Gleichstellungspolitik und fragt nach Potentialen, um deren
Unterstützung und Engagement für gender equality zu stärken. Er
kommt zu dem Ergebnis, dass Benachteiligungsdiskurse dem Erreichen
von Geschlechtergerechtigkeit schaden und schlägt stattdessen vor,
»an Emanzipationssehnsüchte zu appellieren, an die Leidenschaft für
ein befreites Leben jenseits von Müssen, Sollen und Dürfen« (S.
185).
Hans Prömpers Artikel »Vom Glück, ein Anderer zu sein.
Männerbildung als Anders-Ort« (S. 189-211) beleuchtet biographische
Prozesse und Erfahrungen, wie sie ihm in Männergruppen, an
Männerwochenenden und in anderen Arrangements des Lernens unter
Männern in homosozialen Männergruppen begegnet sind (S. 190). Diese
Männer erleben sich als »anders« gegenüber ihrer Umwelt, weil sie
sich um eine bewusst alternative Lebensgestaltung bemühen (S. 192).
Prömper blickt »auf Personen, Geschichten, Konflikte und
Erfahrungen von Männern«, in denen er »über den einzelnen Fall
hinausgehend etwas Allgemeines spüren und aussagen möchte« (S.
192). Häufig geht es in diesen Lebensgeschichten »um den Wunsch
nach einem authentischen Leben, darum, sich selbst in die Augen
schauen zu können …« (S. 197f). Der vielschichtige Beitrag schließt
mit der Feststellung, dass es »Räume« für Männer geben muss, Räume
der offenen Kommunikation und (Selbst-)Annahme unter Männern und
benennt eine Reihe solcher Räume (S. 204ff).
Peter Stögers Beitrag ist überschrieben mit »Geist und Geistin.
Gender-Mainstreaming aus anthropologisch-theologisch-historischer
Sicht« (S. 213-235). Nach Aussagen des Verfassers beschäftigt sich
der Beitrag »mit den Bildern von Männern, die häufig im Rahmen des
Gender-Mainstreaming auftreten« (S. 213).
Der letzte Artikel des Buches ist von Johannes Berchtold und heißt:
»Das Andere in uns. Yin- und Yang-Konstanten im Wandel der Zeiten
als dynamische bzw. dialektische Grundmuster einer ganzheitlichen
Geschlechtertheorie« (S. 237-250). Es handelt sich hier um eine
philosophische Diskussion der beiden großen Kräfte Yin und Yang,
die in der fernöstlichen Weltanschauung gemeinsam den Bereich der
Manifestationen kontrollieren (S. 238ff).
Diskussion
Mag sein, dass dieser alternative Blick auf Entwicklung,
Lebenslagen und Probleme von Männern heute auf Kritik stößt. Zu
plakativ, zu normativ, zu einfach, zu pauschal und zu wenig
wissenschaftlich. Aber der Maßstab, an dem hier gemessen wird,
sollte ein anderer sein: Die Vielfalt, die Authentizität des
Dargestellten, die Diskutierbarkeit, die Öffnung anderer
Perspektiven auf ein wohl tatsächlich recht eingeengt und
abgegrenzt behandeltes Thema. Die Realitäten von Männern heute sind
vielschichtig und komplex. Für mich stellt das Buch den gelungenen
Versuch dar, diese Realitäten wiederzugeben. Methodologisch muss
dabei Vielschichtigkeit zugrunde gelegt werden, wissenschaftlich
und subjektiv, qualitativ und quantitativ, damit die inhaltliche
Pluralität erhalten bleibt.
Fazit
Es kann und darf hier nicht darum gehen, die Qualität der einzelnen
Beiträge wertend zu beurteilen. Vielmehr sollte es um die Frage
gehen, ob das Buch der Komplexität des gewählten Themas gerecht
wird. Dass dies nach Ansicht des Rezensenten der Fall ist, wurde in
dem vorangehenden Abschnitt »Diskussion« bereits erörtert. Das Buch
sollte für jeden, auch für jede, etwas dabei haben (vgl. S. 9).
Davon zeugt die vorangehende ausführliche Inhaltsangabe. Dass das
Buch ausschließlich von Männern verfasst wurde, ist in Ordnung –
schließlich wurden Frauenanliegen auch zunächst von Frauen
untereinander verhandelt und vorgetragen. Aber wie bereits erwähnt,
ist das Buch nicht nur für Männer gedacht, sondern für alle, die an
geschlechterreflektierenden und geschlechtergerechteren Initiativen
interessiert sind.
Rezensent
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück Fakultät Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften
Tätigkeitsfelder: Unterricht in den Bereichen Methoden der
empirischen Sozialforschung, Kulturelle Diversität, Soziale
Randgruppen, Soziale Milieus; Forschung in den Bereichen Illegale
Drogen und Biographie, Soziale Netzwerke, Bedingungsloses
Grundeinkommen
Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 06.12.2016 zu: Josef Christian
Aigner (Hrsg.): Der andere Mann. Ein alternativer Blick auf
Entwicklung, Lebenslagen und Probleme von Männern heute.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2620-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21541.php, Datum des Zugriffs
08.12.2016.
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