Rezension zu Die therapeutische Beziehung in der psychodynamischen Psychotherapie (PDF-E-Book)
www.socialnet.de
Rezension von Hans-Peter Heekerens
Günter Gödde, Sabine Stehle u.a. (Hrsg.): Die therapeutische
Beziehung in der psychodynamischen Psychotherapie
Thema
Das Thema scheint durch den (Haupt-)Titel »Die therapeutische
Beziehung in der psychodynamischen Psychotherapie« zunächst einmal
hinreichend klar umrissen. Psychotherapeut(inn)en, die sich nicht
der psychodynamischen Psychotherapie zurechnen, sollten das Buch
aber nicht links liegen lassen; der Sache nach könnte der Titel
nämlich auch »Über die Bedeutung der psychotherapeutischen
Beziehung« (jenseits jeglicher »Technik«) heißen. Das Buch für
irrelevant halten sollten auch nicht die mit Fallarbeit (Social
Case Work) befassten Soziale Arbeiter(innen) – und zwar nicht nur
die Klinischen Sozialarbeiter(innen) unter ihnen. Für sie könnte
man das Buch auch betiteln mit Ȇber den Kern der Helfenden
Beziehung«.
Entstehungshintergrund
Die Idee zum vorliegenden Buch, so ist dem Vorwort zu entnehmen,
geht zurück auf Vorträge und Diskussionen in den monatlichen
Treffen der psychodynamischen Ausbilder(innen) der Berliner
Akademie für Psychotherapie (BAP; www.bap-berlin.de) und der
Psychologischen Hochschule Berlin (PHB;
www.psychologische-hochschule.de); beides sind Gründungen des
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP;
https://de.wikipedia.org/wiki/Berufsverband). In die weitere
Planung einbezogen wurden »auch Autoren und Forscherinnen von
außerhalb, insbesondere von der Internationalen Psychoanalytic
University Berlin (IPU [www.ipu-berlin.de) und der
Ludwig-Maximilian-Universität München (LMU)« (S. 9). Aus dem von
ihr und Wolfgang Mertens geleiteten Münchener Bindungs- und
Wirkungsforschungsprojekt berichtet die frühere Projektleiterin
Susanne Hörz-Sagstetter, und die IPU ist vertreten durch
Mitarbeiter(innen) am Projekt Conversation Analysis of Empathy in
Psychotherapy Process Research (Leitung: Michael Buchholz und Horst
Kächele).
Eine Buch-Idee braucht Verleger(innen), die sie Wirklichkeit werden
lassen. Hans-Jürgen Wirth, Gründer und (Mit-)Verleger des
Psychosozial-Verlags, Gießen war hier der Verwirklicher. Und die
Lektorin Jana Motzet, auch dies gehört zur Entstehungsgeschichte,
hat zum Gelingen dieses Buches beigetragen. Ich betone das an
dieser Stelle eigens, weil ich in den letzten Jahren Bücher zu
lesen bekam, deren lektorale Bearbeitung in krassem Widerspruch
standen zu ihrem vorzüglichen Inhalt.
Herausgeberin und Herausgeber
Günter Gödde, Dr.phil, Dipl,-Psych., ist Psychologischer
Psychotherapeut in eigener Praxis, Dozent, Supervisor und
Lehrtherapeut sowie Ausbildungsleiter in der
Therapeut(inn)enausbildung an der Berliner Akademie für
Psychotherapie und der Psychologischen Hochschule Berlin.
Sabine Stehle, Dr.rer.Medic., Dipl.-Psych., ist Psychologische
Psychotherapeutin in eigener Praxis, Dozentin, Supervisorin und
Lehrtherapeutin an der Berliner Akademie für Psychotherapie und an
der Psychologischen Hochschule Berlin sowie Lehrbeauftragte an der
International Psychoanalytic University Berlin. Seit Jahren ist sie
auch in der Therapieforschung tätig; derzeit beteiligt an der
Studie »Langzeittherapie bei chronischen Depressionen«.
Autor(innen)
Im Buch finden sich Beiträge von insgesamt 39 Autor(inn)en –
darunter Herausgeberin und Herausgeber. Ausführliche Angaben zu
ihnen finden sich am Ende des Buches und umfassen 13 Seiten; sie
alle hier nur dem Namen nach aufzulisten macht wenig Sinn und sie
auch nur mit einem Kurzportrait dazustellen, sprengt den Rahmen der
Rezension. Vielleicht sind ein paar Angaben zu Ausbildung, Beruf
und Geschlecht (solche zum Alter fehlen) informativ: Gut vier von
fünf Autor(inn)en sind Psycholog(innen), die Mehrzahl von ihnen ist
in einem psychodynamischen Verfahren weitergebildet und hat eine
Anerkennung als Psychologische Therapeutin (rund ein Drittel) oder
Psychologischer Therapeut (rund zwei Drittel). In dieser
Zusammenstellung der Autor(inn)enschaft reflektiert sich natürlich
der Umstand, dass wir es hier erstens mit einem Projekt der
Psychodynamischen Therapie zu tun haben und zweitens mit einem, das
personell eng mit BAP und PHB verbunden ist. Die
Autor(innen)skizzierung zeigt: Die deutsch(sprachig)e
psychodnamische Therapie präsentiert sich nach außen nicht mehr nur
oder vorwiegend in Gestalt des psychoanalytisch weitergebildeten
Arztes.
Ergänzend zu dieser allgemeinen Kurzcharakterisierung der
Autor(inn)enschaft, scheint es sachlich angemessen, neben dem
Herausgeber-Duo einige Autor(inn)en kurz zu präsentieren. Eine
solche Auswahl, sie sei hier auf drei Personen begrenzt, ist immer
subjektiv und setzt sich der Kritik aus – zumal sich unter den
nachfolgend Genannten keine Frau befindet.
Nennen möchte ich an erster Stelle Horst Kächele
(https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_K%C3%A4chele), den
Junior-Autor (neben Hans Thomä) des »Ulmer Lehrbuchs«, des in der
Welt meistgelesenen Lehrbuchs der Psychoanalyse aus der Feder
deutsch(sprachig)er Autor(inn)en. In der 3., 2006 (bei Springer,
Heidelberg) erschienenen Auflage des ersten Bandes (»Grundlagen«)
heißt es: »Bei uns dürfte sich die relationale, interaktive
Einstellung durchaus im Gefolge des Ulmer Lehrbuchs [zuerst
erschienen Mitte der 1980er] entwickelt haben.« (S. 10) Das ist
bescheiden ausgedrückt, nicht ohne Stolz vorgebracht – und völlig
zu Recht gesagt. Die zentrale These des vorliegenden Buches ist ja:
»Die therapeutische Beziehung ist Kernpunkt und Basis, Movens und
Agens jeder Veränderung«. (S. 11)
Diese These zu verbreiten ist seit Langem auch das Anliegen von
Hans-Jürgen Wirth
(https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-J%C3%BCrgen_Wirth). Als
(Mit-)Verleger des von ihm gegründeten Psychosozial-Verlages und
Herausgeber der dort erscheinenden Buchreihe »Bibliothek der
Psychoanalyse« hat er seit Langem Vertreter(inne)n einer
Relationalen Psychotherapie (vgl. etwa Sassenfeld, 2015; vgl. die
21236 Rezension) Gehör verschafft sowie den beiden Männern, die am
Anfang der Entwicklungslinie beziehungsdynamischer Ansätze stehen,
Sándor Ferenczi und Otto Rank durch Ermöglichung einschlägiger
Publikationen die Ehre erwiesen.
Aber es ist nicht der Verleger allein, vor dem man den Hut zu
ziehen hat, sondern auch der Wissenschaftler. Ich verweise hier zur
Illustration nur auf das von ihm verantwortete Heft 97 der
Zeitschrift »psychosozial« mit dem Titel »Das Selbst und der
Andere. Die relationale Psychoanalyse in der Diskussion« (2004), in
dem er mit seinem Eröffnungsbeitrag »Zur ›latenten Anthropologie‹
in der Psychoanalyse und anderen psychotherapeutischen Traditionen«
einen ebenso um- wie weitsichtigen Beitrag zu der auch im
vorliegenden Buch zentral verhandelten Frage geliefert hat.
In jenem »psychosozial«-Heft schrieb an zweiter Stelle Michael
Buchholz (https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_B._Buchholz) den
Beitrag »Für eine relationale Psychoanalyse: Stephen Mitchell«.
Hier entfaltete er, was er schon früher in dem undatierten (wohl
schon vor 1997 verfassten) Papier »Neue Verbindungen.
Psychoanalytische Ein- und Aussichten« (online verfügbar unter
www.institut-kjf.ch/__/frontend/handler/document.php?id=458)
notiert hatte: Ȇber lange Jahre hinweg wurde, was ein Patient in
einer Psychoanalyse mitteilte, als ›Material‹ bezeichnet; das, was
der Analytiker sagte, hieß ›Deutung‹. Solange diese Unterscheidung
operierte, gab es etwas, das als ›klassische Analyse‹ im Rückblick
bezeichnet werden konnte. Folgt man den Veröffentlichungen der
letzten Jahre, ist dieses ›Lieferantenmodell‹ außer Kraft gesetzt.«
(S. 1)
In den letzten Jahren und Jahrzehnten nämlich habe sich in der
Psychoanalyse »eine Entwicklung hin zum Paradigma der Interaktion
vollzogen. Manche sprechen in Habermas’scher Diktion von
Intersubjektivität, andere in Sullivans Tradition von relationalen,
dritte sozialwissenschaftlich von interaktionstheoretischen
Ansätzen« (S. 1).
Michael Buchholz ist derzeit der deutschsprachige Analytiker, der
Psychotherapeut(inn)en und an Psychotherapie Interessierte weit
jenseits der Grenzen von Psychoanalyse und Psychodynamik anspricht.
Ich schließe mich den Worten an, die Tom Levold anlässlich des 65.
Geburtstages von Michael Buchholz in der Zeitschrift
»systemmagazin« vorgebracht hat: »Ohne Übertreibung lässt sich
sagen, dass er schon seit geraumer Zeit einer der bedeutendsten
gegenwärtigen klinischen Theoretiker im deutschen Sprachraum ist.
Anstatt schulenimmanentes Wissen einzuhegen und zu verteidigen,
treibt er im Gegenteil die theoretischen Entwicklungen immer weiter
voran, immer neugierig auf das, was außerhalb der Dogmen und
Lehrsätze zu finden ist – und mit einer beneidenswerten Gabe, die
verschiedensten Konzepte und Modelle ständig neu zu lesen und
miteinander in ein fruchtbares Verhältnis zu setzen. Das macht
seine Arbeiten, auch wenn sie dem Anschein nach primär an die
psychoanalytische Gemeinde adressiert sind, immer auch für alle
anderen Psychotherapeuten lesenswert: es gibt jedes Mal etwas zu
lernen.« (http://systemagazin.com/michael-b-buchholz-wird-65/)
Aufbau und Inhalt
Das Buch enthält zwischen einem knappen (Herausgeber-)Vorwort und
den Angaben zu Autorinnen und Autoren in fünf Kapiteln 25
Einzelbeiträge. Rechnet man die jedem Kapitel vorangestellten (vom
Herausgeber-Duo verfassten?) Einführungen zu den Beiträgen, die
exzellente Zusammenfassungen aller Buchbeiträge enthalten, hinzu,
kommt man auf 30 gesonderte Textteile, die bald 600 Seiten füllen.
Das setzt jedem Versuch, den Inhalt des Buches im Rahmen einer
nicht allzu ausufernden Rezension wiederzugeben, sehr enge
Grenzen.
Im Vorwort gibt das Herausgeber-Duo eine knappe Zusammenfassung,
der man nach Lektüre des Buches nur zustimmen kann; an einer Stelle
füge ich eine [Ergänzung] ein:
Die Beiträge in diesem Buch betrachten, beschreiben und
durchleuchten die komplexe Thematik der therapeutischen Beziehung
und behandeln folgende Hauptaspekte:
- die historische Entwicklung und Tragweite des Themas
- die Weichenstellung der therapeutischen Beziehung zu einem
zentralen Therapiefokus
- basale Aspekte der therapeutischen Beziehung wie Empathie,
Verstehen und Macht
- die mikroanalytische Erforschung von Therapieprozessen
- wichtige Dimensionen der Therapiebeziehung wie Staunen,
Sehnsucht, Achtsamkeit, Embodiment und Musikalität
- den Anschluss an bedeutende Theoretiker und Forscher auf diesem
Gebiet, ausgehend von Freud über Ferenczi [sowie Rank], C.G. Jung,
Balint, Winnicot Stephan Mitchell zu Daniel Stern, Peter Fonagy und
vielen anderen
- Erfahrungen in Supervision, Lehrtherapie und psychologischer
Beratung sowie in imanigativer und interkultureller Therapie
- Bei aller Unterschiedlichkeit der Sichtweisen findet sich ein
gemeinsamer Nenner: Die therapeutische Beziehung ist Kernpunkt und
Basis, Movens und Agens jeder Veränderung. (S. 10-11)
Kapitel I Die »therapeutische Beziehung« als maßgeblicher
Therapiefaktor enthält vier Beiträge:
- Die Weichenstellung zur therapeutischen Beziehung als vorrangigem
Therapiefokus (Gödde)
- Intersubjektivität als zentrales Moment der therapeutischen
Beziehung (Wirth)
- Psychoanalyse ist eine Wahrnehmungskunst (Buchholz)
- Verstehen und Nicht-Verstehen als Element der therapeutischen
Beziehung (Storck)
Die beiden ersten Beiträge sind überwiegend historisch orientiert
und – falls man Kenntnis der Geschichte als unentbehrlich für das
Verstehen der Gegenwart ansieht – Grundlegend. Jedenfalls sind sie
eine hervorragende Einführung in die Thematik des Buches, und es
ist eine Geschmackssache ob man den ersten Beitrag vor dem zweiten
liest oder die umgekehrte Reihenfolge bevorzugt. Die beiden anderen
Beiträge sind systematisch orientiert: Im dritten führt Horst
Buchholz vor, wie man einige empirische Befunde der modernen
Säuglingsforschung nehmen kann, um so bestimmte Aspekte der
therapeutischen Beziehung (besser oder überhaupt erst) zu
verstehen, und im vierten erhalten wir Einblick in eine vom Autor
konzipierte psychoanalytische Hermeneutik.
Fünf Beiträge finden sich in Aus der Forschung: Projekte zur
Mikroanalyse der therapeutischen Beziehung, dem 2. Kapitel:
- »Manche Sätze meines Therapeuten habe ich heute noch im Kopf«
(Stehle u.a.)
- Die therapeutische Beziehung im Kontext von Therapieprozess und
Patientenpersönlichkeit (Ehrhardt)
- Was trägt zur therapeutischen Beziehung bei?
(Hörz-Sagstetter)
- Krisen in der therapeutischen Beziehung als Chance (Gumez
u.a.)
- Architekturen der Empathie. Erste Erfahrungen aus einem
konversationsanalytischen Projekt (Buchholz u.a.)
Die Beiträge 1-3 sowie 5 stellen verschiedene Forschungsprojekte
dar und berichten einzelne, im Zusammenhang des Buchthemas
interessierende Ergebnisse. Der 4. Beitrag referiert empirische und
theoretische Beiträge, die anzeigen, dass »Krisen in der
therapeutischen Beziehung als Chance« (so der Titel) gewertet
werden können.
Kapitel III Dimensionen der therapeutischen Beziehungenthält
ebenfalls fünf Beiträge. Die lassen sich nicht leicht auf einen
Nenner (oder »unter einen Hut«) bringen, da sie nach außen nicht
einfach abzugrenzen und im Binnenbereich doch recht schwer zu
systematisieren sind. Was sie im Inneren zusammenhält: Sie zeugen
davon, was in den Blick kommen und an Bedeutung gewinnen kann, wenn
Psychodynamiker(innen) den Relational Turn wirklich konsequent
(nach)vollziehen. Die einzelnen Beiträge dieses Kapitels tragen die
Überschriften:
- Gemeinsam staunen – die Beziehungsdimension eins unbequemen
Affekts (Watzel)
- Vom Sinn der Sehnsucht – gesellschaftliche und therapeutische
Aspekte (Schneider)
- Achtsamkeit und gleichschwebende Aufmerksamkeit (Will)
- Wenn der Körper »spricht«. Der bewegte Körper als neuer Königsweg
in der psychodynamischen Psychotherapie (Rau-Luberichs)
- Klang und Bewegung in der psychodynamischen Psychotherapie
(Dorrer-Karliova)
Gleichfalls fünf Beiträge zu finden sich im vierten Kapitel
Anschlüsse – die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven:
- »Ohne Sympathie keine Heilung«. Ästhetische Implikationen in den
Schriften Sándor Ferenczis (Pohlmann)
- Alchemie und Beziehung. Übertragung und Gegenübertragung in der
Analytischen Psychologie (Vogel)
- Daniel Sterns Forschung und ihre Bedeutung für die therapeutische
Beziehung (Mauritz)
- Anerkennung als soziale Praxis (Burghardt & Zirfas)
- Die Wirkung von Hierarchie und Macht in der therapeutischen
Beziehung (Voigtel)
Dieses Kapitel enthält Beiträge, die aufzeigen, wie und worin die
derzeitige Diskussion um die therapeutische Beziehung (in der
psychodynamischen Therapie wie in anderen therapeutischen
»Schulen«) beeinflusst ist durch »Anderes« sowie anschlussfähig ist
an »Anderes«. Mit »Anderem« sind in den drei ersten Beiträgen
Personen gemeint; Männer, die zugleich Kliniker und Forscher waren:
Sándor Ferenczis, C.G. Jung und Daniel Stern. In den beiden letzten
Beiträgen ist der Bezugspunkt jeweils eine Sache (oder eine Idee,
ein Konzept oder…): Beim vierten Beitrag ist das ein vor allem
unter Philosoph(inn)en geführte Diskurs, für den in neuerer Zeit
etwa Axel Honneth mit seiner »Philosophie der Anerkennung« steht,
und beim fünften die von vielen wissenschaftlichen Disziplinen
befeuerte Diskussion um Macht und Hierarchie.
Mit sechs Beiträgen in Kapitel V. Beziehungserfahrungen in
unterschiedlichen Therapiekonstellationen kommt das Buch zu seinem
Abschluss. Die professionelle Praxis von Psychotherapeut(inn)en –
der psychodynamischen, aber nicht nur deren – erstreckt sich auf
eine Vielzahl von Handlungsfeldern mit einer je verschiedenen
»typischen« Klientel, von Fall zu Fall wechselnder Aufgabenstellung
sowie jeweils anderen Rahmenbedingungen. Die
»Therapiekonstellationen« sind jeweils andere. Das hat Folgen: »Der
Vielfalt dieser Therapiekonstellationen enspricht eine Vielfalt
möglicher Erfahrungen in den jeweiligen Therapiebeziehungen.« (S.
457) Von dieser Vielfalt künden die sechs Beiträge, von denen die
beiden letzten der »interkulturellen Therapie« gewidmet sind:
- Die entwicklungssensible Supervision von angehenden
Psychotherapeuten – ein interaktioneller Ansatz (Bergner &
Kurz)
- Ist weniger mehr? – Erfahrungen in der tiefenpsychologisch
fundierten Lehrtherapie (Rückert)
- Nur für kurze Zeit! – Beziehung in der psychologischen Beratung
von Studierenden (Püschel)
- Wenn der Therapeut am Boot wackelt. Begegnungen in zwei
katathym-imaginativen Psychotherapien (Karminski)
- Miteinander spielen: Interkulturelle Perspektiven mit
Brasilianern aus der Perspektive Winnicotts (Theiss-Abendroth)
- »Für mich gibt es keinen sicheren Raum!« (Ermann)
Diskussion
Am 26.11.2016 fand in Berlin eine Fortbildungsveranstaltung der BAP
und der PHB für Psycholog(inn)en, Psychotherapeut(inn)en und
Psychotherapeut(inn)en in Ausbildung unter dem Titel des hier
betrachteten Buches und der Leitung des Herausgeber-Duos statt. Der
genannte Personenkreis ist sicherlich auch der, an den das Buch
adressiert ist. Ans Herz legen möchte ich dessen Lektüre aber auch
allen Angehörigen der Sozialen Arbeit, die mit Fallarbeit (Social
Case Work) beschäftigt sind, ob sie nun als Klinische
Sozialarbeiter(innen) ausgebildet sind oder nicht und ungeachtet
irgendwelcher Präferenzen für einen bestimmten »schulischen«
Ansatz. Was hier verhandelt wird geht auch sie an, und das
vorliegende Buch bietet einen vertieften Einblick in den Diskurs
jener Gruppe von Helfer(inne)n, die sich derzeit und hierzulande am
stärksten um das Thema der Beziehung(sgestaltung) zwischen
Klient(in) und Berater(in)/Therapeut(in) kümmert. Dass die
allgemeine, viele psychosoziale Helfer(innen) betreffende Bedeutung
des Themas nicht so recht deutlich ist und wird, hat auch mit
manchen engführenden Formulierungen im Buch zu tun.
Nehmen wir etwa den Anfangssatz des ersten Buchbeitrags. Das ist –
oder wäre doch – der rechte Ort für eine Eröffnung des
Verstehenshorizontes. Dort formuliert Günter Gödde in Die
Weichenstellung zur therapeutischen Beziehung als vorrangigem
Therapiefokus: »Die Qualität der therapeutischen Beziehung ist von
zentraler Bedeutung für den Therapieerfolg – darüber besteht heute
unter psychodynamischen Therapeuten ein breiter Konsens.« (S. 19)
Konsens, wie breit auch immer er sein mag, sagt zwar einiges aus
über die Dynamik in einer bestimmten Gruppe aus, nichts aber über
Wahrheit im Sinne »des Westens« (Winkler, 2016), auch »gesicherte
Erkenntnis« genannt. Ich kenne beispielsweise – um im Bereich des
Therapeutischen zu bleiben – Anhänger der Traditionellen
Chinesischen Medizin, unter denen »breiter Konsens« herrscht, das
Horn des Nashorns und fast alles vom Tiger sei ein Heilmittel;
solch »breitem Konsens« fallen hier »nur« extrem bedrohte Tierarten
zum Opfer, anderen »Überzeugungs«-Tätern hingegen auch Menschen.
Wenn man es generell für sinnvoll hält und in den heutigen Tagen
für besonders notwendig (Schnabel, 2016), zwischen Ideologie und
Evidenz zu (unter-)scheiden, warum (bitte) hier nicht der Verweis
auf gesicherte Ergebnisse der Therapieforschung? Dann müsste man,
was im Falle von »Überzeugungen« notwendig ist, auch nicht eine
bestimmte (Referenz-)Gruppe (Überzeugungs- oder
Glaubensgemeinschaft) benennen, sondern könnte den Blick weiten –
was für andere, die sich nicht der psychodynamischen Therapie
zurechnen (können oder wollen) einladend wirken würde.
Warum also nicht ein (Eröffnungs-)Satz wie etwa: »Die Qualität der
therapeutischen Beziehung ist von zentraler Bedeutung für den
Therapieerfolg – ›mit der stärksten Evidenz für den Therapieerfolg‹
(wie das auf S. 144 spät, aber immerhin formuliert wird) –,
einvernehmlich festgestellt von Psychotherapieforscher(inne)n
unterschiedlicher psychotherapeutischer Grundorientierung.« Denn
das sind die Fakten: Im Jahre 2011 hat die Task Force on
Evidence-Based Therapy Relationships (Leitung: John C. Norcross),
gebildet von den Sektionen »Klinische Psychologie« (von der
behavioralen Richtung dominiert) und »Psychotherapie« (dort sammelt
sich das nicht-behaviorale Lager) der American Psychological
Association als erste zwei ihrer auf umfangreicher Forschungsarbeit
basierenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen (Norcross, 2011)
festgehalten:
- Die therapeutische Beziehung leistet substantielle und
konsistente Beiträge zum Ergebnis einer Psychotherapie – und das
unabhängig von einem spezifischen Behandlungsansatz.
- Die therapeutische Beziehung trägt zum Gelingen (oder Misslingen)
einer Therapie in mindestens demselben Maße bei wie eine bestimmte
Behandlungsmethode. (Übers. d. Rez.)
Die sechs identifizierbare Beziehungselemente, die mit hoher
Sicherheit wirksam sind (»demonstrable effective«), sind:
(Therapeutische) Allianz in der Individualtherapie mit Erwachsenen,
der Therapie mit Jugendlichen und der Familientherapie, Köhäsion in
der Gruppentherapie, Empathie (erste klassische »Rogers-Variable«)
und das Sammeln von Klient(inn)en-Feedback. Als wahrscheinlich von
Bedeutung (»probably effective«) sind: positive Wertschätzung
(zweite klassische »Rogers-Variable«), Konsens hinsichtlich des
Therapieziels und eine gute Arbeitsbeziehung. Möglicherweise
bedeutsam (»promising but insufficient research to judge«) sind:
Kongruenz / Aufrichtigkeit (dritte klassische »Rogers-Variable«),
Bindungsstil, Klärung von Erwartungen der Klient(inn)en, Handhabung
der Gegenübetragung und Wiederherstellung der therapeutischen
Allianz. Es spricht alles dafür, dass diese Ergebnisse nicht nur
für das Gebiet der Psychotherapie, sondern auch für die »Helfende
Beziehung« in Gestalt des modernen Social Case Work (diesseits wie
jenseits von Ärmelkanal und Atlantik) Geltung haben.
Das zweite, was es einem, der sich nicht zur psychodynamischen
Community zählt, ihr aber wohl gesonnen und an ihr interessiert
ist, schwer macht, Zugang zu dem Buch zu finden, ist: Dort sind
immer wieder »Heiligenlegenden« zu finden. Nehmen wir zur
Illustration die Anfangssätze von Dieter Rau-Luberichs Wenn der
Körper »spricht«. Der bewegte Körper als neuer Königsweg in der
psychodynamischen Psychotherapie: »In Freuds Schriften finden wir
auch heute immer wieder wichtige Anregungen. Er war offen für
Neues, offen für noch nicht Gedachtes, offen für Beobachtungen, die
(noch) nicht in seine Theorie passten, ja seiner Theorie sogar
widerprachen.« (S. 313) Das ist der Stoff, aus dem
(Heiligen-)Legenden geschneidert werden. Die Wahrheit ist im
vorliegende Falle doch die, dass es Sigmund Freud an kognitiver und
affektiver Offenheit für die von Sándor Ferenczi und Otto Rank
begründete beziehungsdynamische Tradition so sehr mangelte, dass er
die beiden zu »Abtrünnigen« erklärte (vgl. Heekerens, 2014a, 2014b,
2014c, 2015).
Der historischen Wahrheit im vorliegenden Punkte weitaus näher
kommt Hans-Jürgen Wirth, dessen Eingangssätze aus seinem
Buchbeitrag hier referiert seien:
»In der Psychoanalyse existiert seit jeher neben der Freud’schen
Traditionslinie mit ihrem ›Trieb-Struktur-Modell‹, dem Konzept
einer autonomen Psyche und ihrem pessimistisch-düsteren
Menschenbild eine zweite, von Sándor Ferenczi und Otto Rank
begründete Traditionslinie, in der die soziale Verbundenheit des
Individuums mit seinen Mitmenschen in den Mittelpunkt der
theoretischen und praktischen Überlegungen gestellt wird. Die
beiden psychoanalytischen Traditionen haben hinsichtlich ihrer
impliziten anthropologischen Grundannahmen…, ihrer
entwicklungspsychologischen Theorien, vor allem aber hinsichtlich
ihrer Konzepte über die Bedeutung, Struktur und wünschenswerte
Gestaltung der psychotherapeutischen Beziehung ganz
unterschiedliche, z. T. sogar gegensätzliche Auffassungen
entwickelt.
Die Konzepte, die in der klassischen Freud’schen Tradition stehen,
kreisen um die Begriffe ›Trieb‹, ›Neutralität‹, ›Anonymität‹ und
›Abstinenz‹, aber auch ›Wiederholungszwang‹ und ›Negative
Therapeutische Reaktion‹. Die Konzepte, die in der Tradition von
Ferenczi und Rank stehen, drehen sich um Begriffe wie ›Empathie‹,
›intersubjektive Begegnung‹, ›wechselseitige Anerkennung‹,
›Authentizität‹, ›Spontanität‹, ›Momente der Begegnung‹, ›Wille des
Patienten‹, ›Gegenseitigkeit‹ und ›korrigierende emotionale
Erfahrung‹.
Lange Jahre dominierte die Freud’sche Tradition und drängte die
beziehungsdynamischen Ansätze an den Rand oder schloss sie gar aus
der psychoanalytischen Community aus …, was zu gravierenden
persönlichen Kränkungen, aber auch zu gruppendymischen und
institutionellen Verwerfungen in der psychoanalytischen Bewegung
und zu den bekannten Spaltungen … führte. Man kann in diesem
Zusammenhang sogar von einer Selbsttraumatisierung der
Psychoanalyse sprechen … Gleichwohl ist die von Ferenczi und Rank
begründete beziehungsdynamische Tradition nicht untergegangen,
sondern wurde im angloamerikanischen Raum von Theoretikern
fortgesetzt und konzeptionell weiterentwickelt.« (S. 51-52)
Die von Sándor Ferenczi und Otto Rank begründete
beziehungsdynamische Tradition, dies zur notwendigen Ergänzung der
vorstehenden Ausführungen, lebte nicht nur in der
psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Psychotherapie weiter
fort. Vielmehr entfaltete sie ihre ersten Blüten ganz woanders und
längst vor dem Relational Turn in der psychodynamischer Therapie:
ihre Früchte reiften in der humanistisch-experienziellen
Psychotherapie, namentlich im Ansatz von Carl Rogers und der
Gestalttherapie (Heekerens, 2016a), im Social Case Work
(Fallarbeit) der Sozialen Arbeit (Heekerens, 2016b) und in Ansätzen
der psychosozialen Arbeit mit (mehrfach) belasteten Familien, wie
sie in der Arbeit von Erziehungsberatungsstellen und der
Familientherapie (Heekerens, 2016c) entwickelt wurden.
Die Soziale Arbeit weiß wenig um diese Traditionslinie (das gilt
selbst für Wendt, 2016). Dennoch: Wer in der Sozialen Arbeit mit
Fallarbeit (Social Case Work) beschäftigt ist, wird bei Leküre des
Buches fortwährend intuitiv spüren, dass da nicht eine fremde Sache
be- und verhandelt wird, sondern die eigene. Aber das würden sie
erst bei Lektüre des Buches merken, die sie eventuell gar nicht
starten. Deshalb sei das Buch gerade Sozialen Arbeiter(inne)n, die
mit (Sozialer) Fallarbeit zu tun haben, von hier aus und vorab zur
Lektüre empfohlen sei.
Fazit
Die beiden bedeutsamsten zentralen Befunde der oben referierten
Norcross (2011)-Studie sind:
- Die therapeutische Beziehung leistet substantielle und
konsistente Beiträge zum Ergebnis einer Psychotherapie – und das
unabhängig von einem spezifischen Behandlungsansatz.
- Die therapeutische Beziehung trägt zum Gelingen (oder Misslingen)
einer Therapie in mindestens demselben Maße bei wie eine bestimmte
Behandlungsmethode. (Übers. d. Rez.)
Alles spricht dafür, dass diese Ergebnisse nicht nur für das Gebiet
der Psychotherapie, sondern auch für die »Helfende Beziehung« in
Gestalt des zeitgenössischen Social Case Work (diesseits wie
jenseits von Ärmelkanal und Atlantik) Geltung haben.
Die Soziale Arbeit führt den Diskurs über die Bedeutung der
Beziehung(sgestaltung) in einer »Helfenden Beziehung« auf dem
Gebiet der Sozialen Arbeit oder einem Social Case Work bislang nur
beiläufig, lediglich hie und da, jedenfalls nicht systematisch und
konzentriert. Dies sollte sich – v.a. des Wohls von Klient(inn)en
wegen – ändern. Zu solcher Änderung beitragen kann, das vorliegende
Buch ins Gespräch zu bringen. Am besten darüber, dass
Dozent(inn)en, die praktisch und/oder theoretisch mit Sozialer
Fallarbeit befasst sind, das Buch in einzelnen seiner Teile in ihre
Lehrveransaltungen einspielen. Dazu sollten sie es sinnvollerweise
gelesen haben – in Gänze!
Literatur
Heekerens, H.-P. (2014a). Rezension vom 10.09.2014 zu Lieberman, E.
J. (2014). Otto Rank. Leben und Werk (2., unveränderte Aufl.).
Gießen: Psychosozial-Verlag. socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/16563.php).
Heekerens, H.-P. (2014b). Rezension vom 10.09.2014 zu Lieberman, E.
J. & Kramer, R. (Hrsg.) (2014). Sigmund Freud und Otto Rank. Ihre
Beziehung im Spiegel des Briefwechsels 1906-1925. Gießen:
Psychosozial-Verlag. socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/16964.php).
Heekerens, H.-P. (2014c). Rezension vom 20.03.2014 zu Ferenczi, S.
(2013). Das klinische Tagebuch. Gießen: Psychosozial-Verlag.
socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/16363.php).
Heekerens, H.-P. (2015). Rezension vom 26.08.2015 zu Haynal, A.
(2015). Die Technik-Debatte in der Psychoanalyse. Freud, Ferenczi,
Balint. Gießen: Psychosozial-Verlag. socialnet Rezensionen
(www.socialnet.de/rezensionen/19358).
Heekerens, H.-P. (2016a). Otto Rank und sein Einfluss auf
Sozialarbeit und humanistisch-experienzielle Therapie. In H.-P.
Heekerens, Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 13-46). Coburg:
ZKS-Verlag. Online verfügbar unter www.zks-verlag.de/katalog
[letzter Aufruf am 19.11.2016].
Heekerens, H.-P. (2016b). Die Funktionale Schule des Social Case
Work – ein Versuch, sie zu Verstehen. In H.-P. Heekerens,
Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 46-76). Coburg: ZKS-Verlag.
Online verfügbar unter http://www.zks-verlag.de/katalog [letzter
Aufruf am 19.11.2016].
Heekerens, H.-P. (2016e). Soziale Arbeit und Familientherapie –
eine lange gemeinsame Geschichte. In H.-P. Heekerens,
Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 77-92). Coburg: ZKS-Verlag.
Online verfügbar unter www.zks-verlag.de/katalog [letzter Aufruf am
19.11.2016].
Mitchell, S.A. (2003). Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer
relationalen Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Mitchell, S.A. (2005). Psychoanalyse als Dialog. Einfluss und
Autonomie in der analytischen Beziehung. Gießen:
Psychosozial-Verlag.
Norcross, J.C. (2011). Conclusions and Recommendations of the
Interdivisional (APA Divisions 12 & 29) Task Force on
Evidence-Based Therapy Relationships. Online verfügbar unter
http://societyforpsychotherapy.org/ [letzter Zugriff am
22.11.2016].
Sassenfeld, A. (2015). Relationale Psychotherapie. Grundlagen und
klinische Prinzipien. Gießen: Psychosozial-Verlag. socialnet
Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/21236.php).
Schnabel, U. (2016). Empört euch, Ihr Denker. DIE ZEIT 49/2016 vom
24.11.2016, S. 39.
Waldl, R. (2002). Therapeutische Aspekte bei Martin Buber.
Unveröff. Dipl.-Arbeit, Universität Wien. Online verfügbar unter
www.waldl.com/downloads [letzter Aufruf am 14.11.2016].Winkler,
H.A. (2016). Die Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart
(3., durchgesehene Aufl.). München: Beck (socialnet Rezension:
www.socialnet.de/rezensionen/20628.php).
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an
der Hochschule München
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 06.12.2016 zu: Günter Gödde,
Sabine Stehle, Esin (Mitwirkender) Erman (Hrsg.): Die
therapeutische Beziehung in der psychodynamischen Psychotherapie.
Ein Handbuch. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2016. ISBN
978-3-8379-2548-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/21944.php, Datum des Zugriffs
08.12.2016.
www.socialnet.de