Rezension zu Kontrollierter Kontrollverlust
Psychologie heute, Heft 1, Januar 2017
Rezension von Eva Tenzer
Kontrollierter Kontrollverlust
Was Jazz und Psychoanalyse gemeinsam haben
Fragt man Jazzliebhaber, was sie an dieser Musik so fasziniert,
kommt meist eine Antwort: die Improvisation. Das Thema eines
Musikstückes wird immer wieder frei variiert; so ist jedes Konzert
eine Überraschung. Entstanden ist der Jazz zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, zeitgleich verbreitete sich die Psychoanalyse. Doch
beide haben mehr gemeinsam als nur ihre Entstehungszeit: »Sowohl
der Jazz als auch die Psychoanalyse leben von diesem sehr
speziellen kontrollierten Kontrollverlust. Beide setzen auf freie
Improvisationen innerhalb klarer vorgegebener Strukturen«, erklärt
Konrad Heiland. Der ärztliche Psychotherapeut und klinische
Musiktherapeut arbeitet als Dozent, Lehrtherapeut und
Supervisor.
In seinem Sammelband beleuchten Psychotherapeuten, Analytiker und
Musiker diese interessante Parallele von Jazz und Psychoanalyse.
Die Hauptthese: Die musikalische Improvisation im Jazz entspricht
dem freien Assoziieren in der Analyse. In der Freiheit des
Patienten, zu erzählen, was ihm gerade durch den Kopf geht, stecke
die Ermunterung zur Improvisation über das eigene Leben, so
Heiland. »Jazz und Psychoanalyse sind damit ein Plädoyer für die
Offenheit, die Unabgeschlossenheit, die Weitung des Raums, die
Geduld und die Ausdauer, die unendlichen Variationen, die Lösung
von Fixierungen, das Infragestellen als Grundhaltung.«
Im Jazz ist dieser Kontrollverlust erwünscht, um kreativ Neues zu
entdecken und die Enge der Komposition zu lockern. Künstlerische
Produktivität steigt an, Wenn die Grenzen zum Unterbewussten
gelockert werden. Viele Künstler erleben etwa den Übergang vom
Wachen zum Schlafen als besonders ergiebig für Inspirationen. In
der Psychoanalyse heißt die Improvisation freies Assoziieren und
ist neben der Traumdeutung die Methode zur Erforschung des
Unbewussten sowie der aktuellen Probleme der Patienten.
Heilands Buch lotet diese Parallele aus. Der Bogen ist weit
gespannt von praktischen Erfahrungen der Musiker bis hin zu eher
akademisch-historischen Abrissen. Dabei liegt der Hauptfokus auf
dem Jazz, weniger auf der Psychoanalyse. Wer hier empirische Belege
aus systematischer Forschung erwartet, dürfte enttäuscht sein.
Berichtet werden vornehmlich subjektive Erfahrungen von Praktikern
beider Disziplinen. Die freilich geben tiefe Einblicke in die
Psychologie des Jazz, seine Ursprünge, Entwicklung und Wirkungen.
Die gezogenen Parallelen zu Theorie und Praxis der Psychoanalyse
sind erhellend. Vielleicht gerade weil es nicht nur nüchterne
Analysen sind, sondern eben auch sehr subjektive Erfahrungen,
einige mit hoher erzählerischer Qualität berichtet.
Letztlich ist es ein wunderbares Buch über die Seele des Jazz. Und
die Lektüre reicht am Ende sogar über Konzertraum und Couch hinaus
– als Ermunterung an die Leser, diesen kontrollierten
Kontrollverlust auch im Alltag zu ermöglichen. Denn das Prinzip der
Überwindung vorgegebener Grenzen kann getrost in andere
Lebensbereiche übertragen werden, überall dorthin, wo es darum
geht, einen Weg zu finden zwischen hoher Kontrolle, die Kreativität
blockiert, und völligem Chaos, das ebenfalls unproduktiv macht.
Eva Tenzer