Rezension zu Grenzverschiebungen des Sexuellen
Zeitschrift für Sexualforschung, Heft 2, 29. Jahrgang, Juni 2016
Rezension von Kurt Starke
Wiebke Driemeyer, Benjamin Gedrose, Armin Hoyer und Lisa Rüstige,
Hrsg. Grenzverschiebungen des Sexuellen
Die Beiträge dieses Sammelbandes sind aus Vorträgen und Postern der
vom Nachwuchsnetzwerk Sexualforschung und Sexualtherapie (NEKST)
organisierten Teile der 24. wissenschaftlichen Tagung »Grenzen« der
Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung 2013 in Hamburg
hervorgegangen.
Maria Pössel eröffnet den bunten Reigen der zwölf Beiträge von 25
Autorinnen mit einem Beitrag über sexuellen Kindesmissbrauch. Ihre
akribisch beschriebene Untersuchung von 16 pädophilen und 39
nichtpädophilen männlichen Straftätern und 39 männlichen
Nichttätern als Kontrollgruppe ergab, dass die Täter häufiger als
die Nichttäter das Klima ihrer Herkunftsgruppe als lieblos
beschrieben, häufiger von Scheidungen oder Tod der Eltern
berichteten und sehr viel häufiger angaben, in ihrer Kindheit
selbst sexuell missbraucht worden zu sein (was – wie die Autorin
nicht ausschließt – teilweise damit zusammenhängen könnte, dass
Sexualstraftäter dadurch auf Strafmilderung gehofft hatten).
Vorsichtig formuliert die Autorin, dass insbesondere pädophile
Straftäter mit selbst erlebter Viktimisierung »einen erhöhten
Störungsgrad in ihrer psychischen Reifeentwicklung aufweisen
könnten« (S. 55).
Daniel Turner und Peer Eriken zeigen in Wiederholung einer alten,
von Bernd Meyenburg und Volkmar Sigusch entwickelten Befragung von
Medizinstudierenden am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
(UKE), dass »das Interesse der Studierenden an sexualmedizinischen
Inhalten in medizinischen Vorlesungen 2012 gegenüber 1972 leicht
abgenommen hat und gleichzeitig eine größere Zahl Studierender der
Meinung war, über ausreichend Wissen bezüglich der Sexualität des
Menschen für ihre spätere Tätigkeit als Ärztin (zu) verfügen«
(S.61). Sie setzen sich dafür ein, dass trotz übervoller Lehrpläne
»Inhalte pathologischer und nicht-pathologischer Sexualität von
einem multidisziplinären Team über den gesamten Studienverlauf
hinweg unterrichtet werden sollten« (S.61) – ein wunderbares,
selbstverständliches und immer wieder scheiterndes Vorhaben.
Christoph Zürn, Tim Schlang und Wiebke Driemeyer stellen beherzt
die Frage, ob und wie man von außerschulischen Expertinnen
geleistete sexuelle Aufklärung an Schulen evaluieren kann, und sie
versuchen das gleich selber in einer bewundernswerten und
ergiebigen Studie, und zwar im Rahmen des Projekts »Mit Sicherheit
verliebt« der »Bundesvertretung der Medizinstudieren«den in
Deutschland e.V.« Sie kommen nach ihren Aufklärungsveranstaltungen
in Schulen und Vor- und Nachbefragungen zu dem Ergebnis, »dass die
Schülerinnen das Angebot zur Vor- und Nachbereitung des
Schulbesuchs gut nutzen und sich auch positive Veränderungen
hinsichtlich ihrer Einstellungen und ihres Wissens nachweisen
lassen« (S. 77). Keinen Zweifel lassen sie daran, dass solche
schulische Veranstaltungen gefragt und sinnvoll sind und in jeder
Weise unterstützt werden sollten.
In einem originellen und auf den ersten Blick ein bisschen skurril
anmutenden Beitrag widmet sich Armin Hoyer unter der Überschrift
»Verkehrsregeln« den »Auswirkungen eines infektiologischen
Hygieneregimes in den sozialen Kapillaren der Intimität"«(S.91). Er
sucht in den drei Bereichen Straßenverkehr, Infektionsepidemiologie
und Sexualbeziehungsnetzwerk nach Gemeinsamkeiten – und findet sie,
ausgehend vom »Abschirmsystem des Operationstrakts« (S. 100) in
einer hinreißend einsichtigen und vielschichtigen Feldbeobachtung.
Alle drei Bereiche »werden reguliert durch ein zusammenhängendes,
wenn auch nicht vollständig deckungsgleiches System aus sozialen
Normen, das an Stellen dichter sozialer Interaktionsdynamiken
greift. In der Sphäre der Sexualität [...] nehmen diese
Verkehrsregeln die Gestalt von Safer-Sex-Regeln an. Im Hintergrund
ist jedoch ein umfassendes infektiologisches Hygieneregime wirksam,
das sich unterirdisch tief ins Selbstverständnis der Moderne
eingegraben hat« (S.98). Letztlich artikuliert Hoyer ein virulentes
Unbehagen daran, dass Sterilität, Perfektionismus, Technisierung,
Logistizierung, hypertrophe Ichachtsamkeit, Misstrauen,
Anständigkeitswahn den Zauber der Liebe, die Spontaneität der Lust,
die Nähe- und Intimfunktion der Sexualität und die schönen
Irrationalitäten der sexuellen Interaktion beschädigen oder töten
könnten.
Louisa S. Arnold und Andreas Beelmann stellen die Frage, ob
»staatlich geförderte Präventionsprogramme die Beziehungen sozial
benachteiligter Eltern stabilisieren« können (S. 117). Es geht
dabei um in den USA entwickelte Beziehungstrainings, die
Risikofaktoren für Kinder mindern sollen: »Als sozialpräventive
Maßnahme werden solche Beziehungstrainings allerdings vermutlich
nur in den USA angewendet« (S. 121). Der Anlass dafür sind (im
Vergleich zu Deutschland) drastische Unterschiede »entlang des
Armutsgradienten« und eine geringe »soziale Durchlässigkeit« (S.
128) sowie eine zunehmende »Familieninstabilität« (S. 117) – eine
Situation, die die Autoren faktenreich als besorgniserregend
beschreiben. In einer aufwendigen Metaanalyse von
US-Evaluationsstudien haben beide Autoren nun untersucht, ob sich
ein Nutzen solcher Interventionen nachweisen lässt. Das ist der
Fall, vorsichtig formuliert: »Die vorliegenden Ergebnisse legen die
Interpretation nahe, dass Beziehungstrainings für sozial
benachteiligte Eltern geringe, aber signifikante Verbesserungen in
verschiedenen Bereichen der Paarbeziehung bewirken können« (S.
127). Aber sie wissen auch: »Noch viel sinnvoller wären Maßnahmen,
die tatsächlich an den Ursprüngen struktureller sozialer
Ungleichheit ansetzten. Diese wären allerdings weitaus
tiefgreifender, aufwendiger und sind politisch von jeher
kontroverser« (S. 121).
»Heut/' lieb ich die Johanne / Und morgen die Susanne / Die Lieb/'
ist immer neu / Das ist Studententreu.« Dieses alte Studentenlied
widerspiegelt eine bis in unsere Zeit hineinreichende Vorstellung
von einer spezifischen studentischen Partner- und Sexualkultur.
Nach Gesine Plagge und Silja Matthiesen sehen das Studenten auch
heute noch so, verstehen das aber weniger als Phase des
Studentseins, als eine mit dem Alter zusammenhängende Lebensphase:
»Nach der Jugendzeit und vor der für die Zukunft gewünschten
dauerhaften Beziehung und Familiengründung liegt die Phase des
jungen Erwachsenenalters, in der es -–unabhängig vom
Student*innenstatus – darum geht, sich auszuprobieren und
unterschiedliche sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Dabei dominiert
die seriell-monogame Orientierung, durch die unverbindlicher Sex
als Teil der Singlesexualität verstanden wird« (S. 144). In ihrem
inhaltlich dichten Beitrag, der auf qualitativen Interviews von 100
Studentinnen und Studenten aus der großen Hamburger
Replikationsstudie »Studentensexualität 2012« beruht, berichten die
beiden Autorinnen speziell über verschiedene Formen sexueller
Aktivitäten fern von festen Beziehungen und deren Bewertung durch
die Interviewten.
Maika Böhm, die an derselben Studie mitgearbeitet hat, weiß – und
kommt darauf mehfach fast ein wenig bedauernd zurück –, dass
empirisch belegt »die Lebensphase des Studiums mehrheitlich von
einer klaren Beziehungsorientierung und deutlichen Romantisierungs
– wie Exklusivitätstendenzen geprägt ist. Damit geht eine enge
Verknüpfung von gelebter Sexualität und Liebebeziehung einher – der
meiste Sex, den Studierende haben, ist Beziehungssex« (S. 166). Sie
fragt nun, ob es jenseits dieser durchschnittlichen Häufigkeiten
auch Hinweise auf alternative, von den Normen »›abweichende‹
Sexual-, Geschlechter-, und Beziehungsformen« gibt (S. 166 f.). Sie
findet sie in den qualitativen Interviews und stellt sie in
Fallgeschichten dar. Dabei stößt sie in ihrer gründlichen und
originellen Analyse auf Verhaltensweisen jenseits von biografischer
und serieller Monogamie, auf Verwischungen von sexueller
Orientierung, auf Aspekte wie BDSM und situative Komponenten wie
Migration oder Gesundheit. Das alles freilich in nur geringen
Häufigkeiten, aber immerhin. Notabene sind die Auswertungen
verbalen Materials von Böhm wie auch die von Plagge und Matthiesen
ein Beleg für die Eigenbedeutung und die Ergiebigkeit von
qualitativen Untersuchungen, vorausgesetzt man mag sie und vermag
sie professionell einzusetzen.
Zu den wenigen signifikanten Unterschieden im weiblichen und
männlichen Sexualverhalten gehört die Selbstbefriedigung. Männer
masturbieren im statistischen Durchschnitt erheblich mehr als
Frauen. Warum ist das so? Gestützt auf eine repräsentative
Befragung an schwedischen Schulen versuchen Wiebke Driemeyer, Erick
Janssen und Eva Eimerstieg in ihrem Beitrag einer Antwort auf diese
Frage näherzukommen. Dabei ist ihr Blick auf das Alter der ersten
Masturbation und deren Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung
gerichtet. Ihre Analyse ergibt diesbezüglich keine oder nur geringe
Zusammenhänge in partiellen Kontexten.
Verena Klein, Martin Rettenberger und Peer Eriken wenden sich in
ihrem Beitrag sensibel der vielfach verdüsterten oder
skandalisierten Realität weiblicher Hypersexualität zu. Die
Onlinebefragung von 988 Frauen, von denen 31 Frauen (3,1 %) als
hypersexuell eingestuft werden konnten, ergab, »dass weibliche
Hypersexualität mit sexuellen Verhaltensweisen, die keine
partnerschaftliche Interaktion erfordern, im Zusammenhang steht, da
sich vor allem die Häufigkeit der Masturbation und ein erhöhter
Pornografiekonsum für die Vorhersage hypersexueller Probleme als
relevant erwies. Die Ergebnisse widersprechen der Ansicht, dass
hypersexuelle Frauen Sexualität ausschließlich nutzen bzw.
instrumentalisieren, um zwischenmenschliche Beziehungen zu
kontrollieren und zu beeinflussen« (S. 196).
Erik Meyer berichtet in seinem anschaulichen, differenzierten und
kompetenten Beitrag über die Erfahrungen der Hamburger
Trans*Beratung. Seiner gut begründeten Meinung nach ist für die
spezifischen und multiplen Belastungen von Trans*Menschen ȟber die
Peer-to-Peer-Beratung der Selbsthilfe-gruppen hinaus eine
professionelle Beratung erforderlich« (S.214), die die Ratsuchenden
selbstbestimmt nach ihren Bedürfnissen nutzen können.
»Protektive und dysfunktionale Internalisierungsprozesse an der
Geschlechtergrenze« (S.217) beschreiben gekonnt David Garcia Nünes,
Peres Sandon, Nicole Burgermeister, Verena Schönbucher und Josef
Jenewein in ihrem Beitrag ebenfalls über Trans*Personen, und
stellen die Methodik einer geplanten qualitativen Studie vor, die
ihre theoretischen Annahmen prüfen soll.
Im letzten Beitrag schließlich wenden sich Elene Bennecke und
Birgit Köhler der psychologischen Versorgung von »Menschen mit
Varianten der somatischen Geschlechtsentwicklung« (S. 233) zu.
Dieser neutrale Begriff (englisch »diversity of sexual development«
oder »diverse sex development«; dsd) ist gewählt, um
Diskriminierung und Pathologisierung zu vermeiden. Die beiden
Autorinnen stellen übersichtlich die biologischen Grundlagen dar,
wenden sich kritisch dem bisherigen Umgang mit Varianten der
Geschlechtsentwicklung zu, berühren die psychische Situation der
betroffenen Personen und informieren über die seit 2014 laufende
EU-Studie »dsd-LIFE«, mit deren Hilfe Versorgung und Beratung
verbessert werden sollen.
Insgesamt bietet dieses fachgerecht herausgegebene und sorgfältig
lektorierte Buch, das gut in Mußestunden zu lesen ist, ein Fülle an
Informationen, Fragestellungen, Ideen, Befunden, Erkenntnissen,
Schlussfolgerungen und klugen Randbemerkungen. Der Aufbau der Texte
folgt vorzugsweise dem klassischen Aufbau von Artikeln in
(medizinischen) Fachzeitschriften: Problemlage/Fragestellung –
Erkenntnisstand –Untersuchung/Methode – Ergebnisse – Diskussion –
Zusammenfassung/Folgerungen. Ausgangs- oder Bezugspunkt und
Autoritätsbeleg sind meist US-amerikanische Studien und
englischsprachige Quellen, was auch zu Bezeichnungen in Englisch
führt, von casual sex über sexual double Standard, pre-conference
und queer theory bis gender gap. Wie in der Szene ebenfalls üblich,
wird die männliche Form umgangen oder ausgemerzt und wimmelt es im
Text von Binnen-Is, Unterstrichen und insbesondere Sternchen – der
Gendermainstream ist mitreißend.
Im Diskurs über Sexualität und Individuum ist seit einiger Zeit der
Begriff »Grenze« wichtig geworden (sexuelle Grenzüberschreitungen,
Körpergrenzen etc.). Mit einiger Fantasie, notfalls mit Hilfe des
28-seitigen Vorworts der Herausgeber, kann man sich unter dem
Buchtitel »Grenzverschiebungen« allerlei vorstellen. Dass aber dem
Buch im Untertitel das Etikett »junge Sexualwissenschaft«
aufgeklebt wurde, scheint übertrieben. Gemeint kann nicht sein,
dass die Sexualwissenschaft im Vergleicht zur Mathematik oder zur
Philosophie eine junge Wissenschaft ist. Volkmar Sigusch umgeht
daher in seinem kurzen Vorwort diese Formulierung und spricht
stattdessen von seiner Freude über »eine neue Generation der
SexualforscherInnen« (S.9). Diese Freude kann man teilen.
Kurt Starke (Zeuckritz)