Rezension zu Wagnis Solidarität

Gestalttherapie. Forum für Gestaltperspektiven, 30. Jg., Heft 2, 2016

Rezension von Josta Bernstädt

Jürgen und Ingeborg Müller-Hohagen
Wagnis Solidarität
Zeugnisse des Widerstehens angesichts der NS-Gewalt

Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Bedrohungen gegen Politiker, die sich für Flüchtlinge engagieren, mehren sich in einem nie zuvor dagewesenen Ausmaß. In einem Bericht über eine neu erschienene Leipziger Studie über »Die enthemmte Mitte« (t-online Nachrichten vom 17.7.16 von Isabell Scheuplein, dpa) heißt es u.a. »Die Betroffenen brauchten dringend mehr Solidarität«.

Das Thema »Wagnis Solidarität« ist also hoch aktuell und hat in letzter Zeit für mich schon fast beängstigend an politischer Brisanz gewonnen.

Das Autorenehepaar hat sich in den letzten über 30 Jahren mit den seelischen und psychischen Nachwirkungen der nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigt und mehrere Bücher dazu veröffentlicht. Sie ist u. a. Lehrbeauftragte für Montessori-Pädagogik an verschiedenen Universitäten. Er ist Psychologischer Psychotherapeut und war bis 2011 Leiter einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle in München. Sie zogen Anfang der 80er-Jahre nach Dachau und gründeten dort 2001 das Dachau Institut Psychologie und Pädagogik.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil »Zeugnisse solidarischen Widerstehens« werden die Lebensläufe von Männern und Frauen nachgezeichnet, die im politischen Widerstand gegen das NS Regime tätig waren – die meisten von ihnen überlebende Häftlinge des KZ Dachau. Sie hatten es gewagt, gegen das menschenverachtende faschistische System zu handeln und sich solidarisch für deren Opfer einzusetzen. Viele von ihnen waren aktive Mitglieder der kommunistischen Partei.

Die Ausschnitte aus Interviews mit diesen hochbetagten Zeitzeugen haben mich sehr berührt. Dabei gehen sie auch auf die Frage ein, was sie konkret unter Solidarität verstehen wie z. B. »Solidarität und Menschenwürde gehören zusammen.« ... und »... es gibt auch falsche Solidarität Das ist besonders dann der Fall, wenn der Nationalismus überhand nimmt« (134)

Für mich neu und bedenkenswert war, darüber zu lesen, wie diese kommunistisch oder links liberal orientierten Menschen später, nach 1945, wenig öffentliche oder private Anerkennung für ihren Widerstand und ihre Solidarität erhielten. Im Gegenteil – viele von ihnen wurden mehr oder weniger offen als Volksverräter diskriminiert.

Im zweiten Teil mit der Überschrift »Wagnis Solidarität« wird anhand von konkreten Beispielen geschildert, wie diese mangelnde öffentliche Würdigung von geleisteter Solidarität und Widerstand im NS-Reich auch heute noch nachwirkt. Mutiges Handeln Einzelner und ihr Einsatz für Humanität werden bis heute oft noch als schambesetzte biographische Ereignisse in den Familien eher verschwiegen.

Ein zentrales Anliegen der Autoren ist, die Langzeitwirkung von strukturellem Lügen zu verdeutlichen, mit ihrem Ursprung in der »Entnazifizierung« und dem »großen Vergessen«.

In einem eigenen Kapitel beschreiben die Autoren, wie ihrer Meinung nach Solidarität über einfachen Altruismus hinausgeht und immer auch eine politische Dimension und die Unterstützung Schwächerer mit beinhaltet. Sie berichten über Forschungsergebnisse, welche Wesensmerkmale eine solidarische Persönlichkeit aufweist, und beschreiben, wie diese in der NS-Zeit mit brutaler Gewalt zerstört wurde, sowie die Langzeit- und transgenerationalen Folgen dieser Zerstörung.

Im dritten Teil mit dem Titel »Das Erbe annehmen« geht es zum einen um wichtige bekannte Nachkriegspersönlichkeiten, die Solidarität vorgelebt haben. Zum anderen wird von der Montessori-Pädagogik berichtet, deren Grundlage ein solidarisches Miteinander kennzeichnet. Beide Autoren veranschaulichen anhand vieler Beispiele, wie sie und andere sich für das Lernziel Solidarität engagieren.

Sehr aufschlussreich und anregend fand ich das vorletzte Kapitel: »Psychologie im Licht von Dachau«, in dem Jürgen Müller-Hohagen die Kernpunkte seiner psychotherapeutischen Arbeit zusammenfasst und kritische Infragestellungen anderer psychologischer Konzeptionen formuliert.

Für die psychotherapeutische Praxis sei es wichtig, einen Resonanzraum herzustellen für diese so lange »vergessenem Hintergründe und nicht die ethisch-politische Dimension unserer Arbeit zu vernachlässigen, denn: »Solidarität und Widerstehen sind davon durchdrungen.« (281)

Voraussetzung dafür sei die Selbstreflexion unserer eigenen Hinterlassenschaften aus der NS-Zeit und unserer untergründigen Loyalitätsbindungen. Aktuellen Bezug nimmt er auf die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und beschreibt sie als »gesteigerte Neigung, Unliebsames auf andere zu projizieren« (284). Die »normale« Angst vor Fremdem sei hier kontaminiert und steigere sich zu einer »grundsätzlichen Ablehnung des Anderen, mit Tendenzen potentieller Vernichtung« (ebd.). Hier wirke noch das »radikale Zerschneiden mitmenschlicher Verbundenheit und Solidarität vonseiten des NS-Reichs« (ebd.) nach. Als Gegenmittel empfiehlt er Selbstreflexion, Bewusstmachen eigener Mängel und Wahrnehmung des gemeinsamen Bandes zwischen Ich und Du.

Für jeden, der wie ich in seiner therapeutischen Arbeit mit unterschwelliger oder immer häufiger auch offener Fremdenfeindlichkeit in Berührung kommt, kann die Lektüre dieses Buches von wohltuender Unterstützung sein. Darüber hinaus hat es mich darin bestärkt, Klienten diesen von ihm so genannten Resonanzraum für »vergessene« Hintergründe zur Verfügung zu stellen. So konnte die Bedeutung mancher bis dahin unerklärlichen »Symptome»» erschlossen und als sinnvolle Erfahrung assimiliert werden.

Josta Bernstädt


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