Rezension zu Destruktiver Wahn zwischen Psychiatrie und Politik
Recht & Psychiatrie 23.Jg. Heft 4, 2005
Rezension von Norbert Konrad
Das ca. 350 Seiten starke Buch wird vorwiegend von
Psycho-Wissenschaftlern gestaltet, die umfassende therapeutische
Erfahrungen innerhalb des psychiatrischen Maßregelvollzuges
gesammelt haben und die ihre Erfahrungen mit wahnhaften Phänomenen
und Destruktivität innerhalb des psychiatrischen Systems neben
psychoanalytisch orientierten sozialpsychologischen Untersuchungen
präsentieren, die das Thema auf Destruktivität als
gesellschaftliches Phänomen allgemein ausdehnen.
Thomas Bender widmet sich in seinem Beitrag ausgehend von
historischen Aspekten des deutschen psychiatrischen
Maßregelvollzuges der Entwicklung und Implementierung eines
psychodynamischen Verständnisses, das anhand zweier Kasuistiken
illustriert wird; in beiden Fällen wird die Abwehrfunktion von
Wahnphänomenen, durch die negative Selbstanteile auf als bedrohlich
erlebte Mitmenschen projiziert werden, herausgearbeitet und der
langwierige Prozess des Aufbaus stabilerer Ich-Funktionen als
Voraussetzung einer kritischen Selbstwahrnehmung dargestellt. Klaas
van Tuinen schildert am Beispiel einer Maßregelvollzugseinrichtung
in den Niederlanden das Bemühen um eine psychodynamisch fundierte
Struktur und Funktionsweise einer Klinik. Soweit mit dem primären
Prinzip der Rückfallprävention die Psychiatrie als »verlängerter
Arm der Justiz« erscheint und »so ihre ursprüngliche Unabhängigkeit
als wissenschaftliche Disziplin verliert«, ist entgegenzuhalten,
dass der Psychiatrie immer Funktionen der Gefahrenabwehr zugewiesen
worden sind und dort, wo sich die Psychiatrie diesem verschlossen
hat, eine verstärkte Ausgrenzung und therapeutische Verweigerung
resultiert. Die Übernahme dieser Funktionen schließt
wissenschaftliche Unabhängigkeit in Forschungsbelangen keineswegs
aus.
Udo Rauchfleisch fasst seine bereits andernorts dargelegten
entwicklungspsychologischen Grundlagen zur Genese dissozialer
Entwicklungen zusammen und illustriert die Psychodynamik
destruktiver Wahnbilder anhand einer Kasuistik aus einer ambulanten
Psychotherapie. Thomas Auchter vermittelt zwischen den juristischen
und strukturellen Grenzsetzungen einer Maßregelvollzugsklinik und
den psychodynamisch sinnvollen »Strukturierungsnachhilfen« bei
Patienten, die durch schwere Traumatisierung oder Verwahrlosung in
Kindheit und Jugend auf strukturbildende Settings angewiesen sind;
aus der Perspektive des Justizvollzugsalltags ergibt sich hierbei
die Notwendigkeit der Abgrenzung von primitiv-pädagogischen
Disziplinierungsmaßnahmen, die durch psychoanalytische Fundierung
gewissermaßen geedelt werden.
Frank Urbaniok und Mirella Chopard verweisen auf die Qualität der
Teamarbeit als einem entscheidenden therapeutischen Wirkfaktor
stationär-forensischer Therapie und skizzieren ein Modell
deliktorientierten Arbeitens mit Maßregelvollzugspatienten
einschließlich der Möglichkeit der Prävention und Bewältigung von
Traumatisierungen von Mitarbeitern durch Patienten.
Wilhelm Jakob Nunnendorf zeigt, wie analytisch orientierte
Supervision dem therapeutischen Team auch in der Bewältigung von
Krisen helfen und damit die therapeutische Qualität einer
Einrichtung sichern kann.
Über den Maßregelvollzug hinaus widmen sich die folgenden Beiträge
Aufsehen erregenden destruktiven Phänomen in der aktuellen Zeit.
Götz Eisenberg versucht, die von dem Erfurter »Amokläufer« Robert
S. ausgegangenen Tötungshandlungen einschließlich seines Suizids
sowohl auf eine individual- als auch sozialpsychologisch fassbare
Störung zurückzuführen. Die Beschäftigung mit dem Mörder des
Bankierssohnes Jacob von M. führt in die soziale Kälte des
neoliberalen Zeitgeistes als möglichen motivationalen Hintergrund.
Reinhard Haller zeigt am Beispiel des Briefbombenattentäters Franz
Fuchs einen psychosozialen Prozess in Österreich, in dem von der
Öffentlichkeit hochbesetzte und heftig geführte politische
Diskussionen von einem in seiner Persönlichkeit erheblich gestörten
Individuum aufgegriffen werden und die konkrete Ausformung einer
fanatischen Idee zu einem manifesten Wahn prägen können. Thomas
Auchter untersucht am Beispiel des amerikanischen Sektenführers Jim
Jones, der über 900 Sektenmitglieder dazu gebracht hatte, sich mit
ihm gemeinsam seinem Wahn zu opfern, wie der individuelle und
kollektive destruktive Wahn als eine megalomane Abwehr depressiver
und desintegrierender innerer Bedrohung verstanden werden kann. Guy
Laval analysiert den deutschen Faschismus als einen alle
Lebensbereiche umfassenden Angriff auf die Fähigkeit der
Gesellschaftsmitglieder, ein flexibles und kritisches Ich und
Über-Ich aufrechtzuerhalten. In deutlicher Abgrenzung zu Daniel
Goldhagens Thesen zur Judenvernichtung analysiert er, wie im Rahmen
der gesellschaftlichen und politischen Realität eine
(Uni-)Formierung im totalitären System gewöhnliche Bürger zu
Massenmördern werden lässt, ohne dass gewissermaßen eine primäre
Bösartigkeit unterstellt werden muss. Roland Knebusch entdeckt in
dem letzten Roman des vor den Nazis nach Paris geflüchteten
Schriftstellers Ernst Weiß »Der Augenzeuge« interessante Hinweise
auf Hitlers Begegnung mit dem Psychiater Edmund R. Forster in
Pasewalk, der bei ihm die Diagnose »Psychopath mit hysterischen
Symptomen« stellte. Über eine rein psychiatrische Kategorisierung
hinaus nähert sich Knebusch der riskanten hypothetischen Frage von
Behandlungsmöglichkeiten Adolf Hitlers vor 1918. Der letzte Beitrag
von Johannes Döser schlägt einen Bogen vom »Ground Zero« von
Hiroschima und Nagasaki zum 11.09.2001, indem die unbewusste
Wiederholung dieses militärischen Begriffs als »Verdrängungsnarbe«
markiert wird, die das Wüten eines destruktiven Wahns in der
amerikanischen Geschichte hinterlassen habe. Widerspruch zu der von
Döser gezogenen Beziehung der Destruktivität mit Freuds
Todestriebtheorie wird vor allem in dem Geleitwort von Stavros
Menzos formuliert, der ansonsten als Hauptgewinn der Lektüre
herausstellt, dass das »Böse« im Rahmen der biografischen,
psychodynamischen und psychosozialen Analysen der Buchbeiträge
entdämonisiert wird und in seiner Endstruktur nicht mehr so scharf,
wie das üblicherweise im Alltag und der medialen Praxis zunehmend
geschieht, von unserem normalpsychologischen Erleben abgegrenzt
wird.
Aus Sicht des Rezensenten wäre hinzuzufügen, dass das Buch auch für
Leser, die nicht der analytischen Theorie verpflichtet sind,
interessante Perspektiven eröffnet.