Rezension zu Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Jahrgang 40, Heft 2 2016
Rezension von Susanne Düwell
Berühmte Fälle aus dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Eine
Anthologie
»Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«, das zwischen 1783 und 1793
quartalsweise als erste psychologische Zeitschrift in Deutschland
publiziert wurde, ist bereits seit Mitte der 1980er Jahre als
Printausgabe und seit geraumer Zeit auch in digitalisierter Form
zugänglich, Stefan Goldmann hat nun eine Anthologie »berühmte[r]
Fälle« aus dem Periodikum vorgelegt, die eine Vorselektion aus der
Fülle des gesammelten Fallmaterials und damit einen erleichterten
Einstieg zur Lektüre des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde
anbietet.
Als allgemeines Kriterium für die Auswahl der in dieser Anthologie
zusammengestellten Fälle führt der Herausgeber im Nachwort an, dass
diese sich auf Beiträge fokussiert, »die unter den Zeitgenossen
Aufsehen erregten, im Laufe des 19. Jahrhunderts in die
psychiatrische Kasuistik eingegangen sind und noch heute als
Dokumente der Wechselwirkung von Literatur und Anthropologie
wertgeschätzt werden« (231). Goldmann hebt hervor, dass das von
Karl Philipp Moritz herausgegebene »Magazin zur
Erfahrungsseelenkunde«, zu dem eine Vielzahl an Autoren
unterschiedlicher Disziplinen, aber auch Laien, Beiträge lieferten,
als »Gemeinschaftsprojekt der Berliner Aufklärung« (211) zu
verstehen sei. Diesem Ansatz entsprechend konzentriert sich die
kommentierte Anthologie auf die Erschließung biographischer und
sozialer Hintergründe und Vernetzungen sowohl der Autoren des
»Magazins zur Erfahrungsseelenkunde« als auch der Protagonisten der
jeweiligen Fallbeschreibungen.
Zum Teil werden als Ergebnis der Recherche neue Autorenzuordnungen
der Beiträge bzw. aufschlussreiche Zuordnungen bisher anonymer
Texte vorgenommen. Die ausgewählten Beiträge sind jeweils mit
ausführlichen Kommentaren, die großenteils biographische Kontexte
entfalten, und weiterführenden Literaturangaben versehen. Ein
Prinzip der Anordnung der Beiträge in dieser Anthologie lässt sich
allerdings nicht erkennen, es erfolgt keine nachvollziehbare
thematische, chronologische oder an Rubriken orientierte
Sortierung, die Gründe für die Aufnahme – wenn auch nicht für die
Reihenfolge – der einzelnen Texte entfaltet Goldmann jedoch im
Nachwort der Anthologie.
Ein erster thematischer Schwerpunkt der Auswahl bezieht sich auf
den Beitrag der jüdischen Aufklärung zur Erfahrungsseelenkunde,
über den Goldmann bereits in der Vergangenheit geforscht und
publiziert hat: Zu den differenziertesten und interessantesten
Beiträgen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde zählen sicherlich
die hier aufgenommenen Beiträge von Lazarus Bendavid, Marcus Herz,
Moses Mendelssohn und Salomon Maimon. Der jüdische Hintergrund der
Autoren und Fragen der Akkulturation sind zumindest in den Fällen
von Bendavid und Herz insofern von Interesse, als sie auch in den
Fallbeschreibungen selbst verhandelt werden.
Am Beispiel zweier in die Anthologie aufgenommener Selbstmordfälle
demonstriert Goldmann anschließend, wie die in den Anmerkungen und
im Nachwort dokumentierte historische Kontextualisierung
weiterführende Hypothesen bezüglich der institutionellen, rechts-
und sozialgeschichtlichen Relevanz einzelner Fälle ermöglicht, die
neue Perspektiven auf das Material eröffnen.
Aufgenommen in die Anthologie sind ferner die Zuschriften des
niederländischen Historikers Rijklof Michael van Goens an das
»Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«; deren Auswahl begründet der
Herausgeber zum einen mit dem innovativen Potential und der
weitreichenden Rezeption dieser Texte durch die Psychologie und
Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, zum anderen mit der These, dass
van Goens Beteiligung an der Zeitschrift maßgeblich zu deren
internationaler Wirkung beigetragen habe.
Entgegen der in der literaturwissenschaftlichen Forschung zum
»Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« mitunter vertretenen These, das
Periodikum sei zwar literaturgeschichtlich von Interesse, für die
Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft aber von zweifelhafter
Bedeutung, argumentiert Goldmann, dass im Magazin zur
Erfahrungsseelenkunde nicht nur ein sehr breites Spektrum an
psychologischen bzw. psychopathologischen Phänomenen erfasst sei,
sondern Krankheitsbilder, wie Aphasie oder Kleptomanie, die erst
die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts entwickelt, hier bereits
präzise beschrieben werden.
Entsprechend der Entscheidung, solche Fälle zu präsentieren, die
eine weitreichende Rezeption erfahren haben, folgen in der
Anthologie anonyme Fälle von Kindesmissbrauch, Verführung zur
Onanie und Homosexualität, die aufgrund ihrer Aufnahme durch
Kussmaul und Krafft-Ebing in die Psychiatriegeschichte eingegangen
sind. Der Hinweis auf die Geschichte dieser Fälle zeigt auch an,
dass die psychiatrische Rezeption des Magazins zur
Erfahrungsseelenkunde bisher noch ein Desiderat der Forschung
ist.
Das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts viel diskutierte und in
Zeitschriften beschriebene Phänomen pathologisch gesteigerter
religiöser Schwärmerei ist auch im Magazin zur
Erfahrungsseelenkunde ein viel beachtetes Thema. Ausgewählt für die
Anthologie wurden zwei Fälle von religiöser Schwärmerei, die im
Vatermord enden: Dabei betont Goldmann die literarische Qualität
des von Ludwig Albert Schubart 1788 verfassten »Fragment aus dem
Tagebuch eines Reisenden« und interpretiert den Text als Reaktion
auf Schillers »Verbrecher aus Infamie«.
Goldmanns Forschungsarbeiten zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde
stellen die Rekonstruktion von biographischen und historischen
Kontexten in den Vordergrund, insofern versteht er seine Anthologie
als ersten Beitrag zu einer Forschungsperspektive, die sich von den
primär literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Magazin zur
Erfahrungsseelenkunde absetzt, um interdisziplinäre historische,
sozial- und medizingeschichtliche Recherchen und Untersuchungen
anzuregen. Diese Akzentsetzung führt allerdings dazu, dass das
»Magazin zur Erfahrungsseelenkunde« als Zeitschriftenprojekt mit
seiner eigenen medienspezifischen Ordnung und Kommunikation, die
etwa in den Revisionen der Herausgeber, der Einordnung in Rubriken,
thematischer Serienbildung und allgemein in der Rekursivität von
Artikeln zum Tragen kommt, nicht in den Blick genommen wird und der
Ort der Beiträge im Kontext des Magazins in der Kommentierung keine
Rolle spielt.
Susanne Düwell, Köln