Rezension zu Die enthemmte Mitte
Pro Zukunft, 30. Jahrgang, 4/2016
Rezension von Hans Holzinger
Seit 2002 werden an der Universität Leipzig sogenannte
»Mitte«-Studien durchgeführt. Sie wollen für die politische
Diskussion und Bildungsarbeit eine Langzeitbeobachtung über die
Befindlichkeiten der deutschen Mittelschicht zur Verfügung
stellen. Die Erhebungen für die Studie 2016 fanden in einer Zeit
zunehmender rechtspopulistischer Bewegungen statt. Die Ergebnisse
förderten, so die Autoren, jedoch einen überraschenden Befund
zutage: die Steigerung von Vorurteilen, die Rechtsextremismus
charakterisieren, fällt nur gering aus. Sie verschiebt sich von
MigrantInnen allgemein hin auf AsylwerberInnen, Muslime sowie Roma
und Sinti. Das Besondere sei aber, dass rechte Einstellungen nun in
Bewegungen wie Pegida oder AfD eine politisch-ideologische Heimat
finden: »Die rechtsextrem Eingestellten werden zum politischen
Subjekt, das nicht nur mit Macht die Ideologie der
Ungleichwertigkeit enttabuisiert, sondern auch die gewaltvolle
Durchsetzung ihrer Interessen für legitim hält.« (S. 8) Mehr als
1.000 Attentate auf Flüchtlingseinrichtungen und mehr als 100
Brandanschläge im Jahr 2015 seien ein deutliches Alarmsignal. Die
Autoren sprechen daher von »enthemmter Mitte«, auch wenn dies etwas
irreführt. Gemeint ist das Spektrum der Gesellschaft mit rechten
bzw. autoritären Einstellungen. Immerhin gaben knapp 20 Prozent der
Befragten an, dass sie bereit wären, sich mit körperlicher Gewalt
gegen Fremde durchzusetzen, über 28 Prozent würden zwar nicht
selbst handgreiflich werden, delegieren Gewaltanwendung aber gerne
an andere, die »für Ordnung sorgen sollen« (S. 57).
In der Publikation werden die Ergebnisse im Detail vorgestellt
(inklusive der Befragungsmethode und den gestellten Fragen), wobei
dem Prozess der Politisierung der Rechten sowie der Rolle von
Pegida und AfD besonderes Augenmerk geschenkt wird. Untersucht (und
kritisiert) wird das nach Sicht der Autoren zu laxe Verhalten der
Sicherheitsorgane gegenüber rechtsextremen Tatbeständen. Die
Schlussfolgerung: Deutschland braucht nicht härtere Gesetze,
sondern eine konsequentere Anwendung, wenn es um politisch
motivierte und um Hasskriminalität geht. U. a. wird die geringe
Aufklärungsquote bei Übergriffen auf Flüchtlinge und deren
Unterkünfte kritisiert. Positiv hebt der Bericht hervor, dass es
heute – anders als in den 1990er-Jahren, als es zu zahlreichen
Gewalttaten aus der Neonaziszene kam – auch eine breite
zivilgesellschaftliche Bewegung gegen Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit gebe, etwa mit den Initiativen der
»Willkommenskultur«.